Dieser Artikel ist Teil der blogübergreifenden Serie “Running Research – Denken beim Laufen”, bei der es um die Verbindung von Laufen und Wissenschaft geht. Alle Artikel der Serie findet ihr auf dieser Übersichtseite
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Morgen werden ich an einem ganz besonderen Lauf teilnehmen. Und möchte das als Anlass nehmen, um ein ganz besonderes Buch über Wissenschaft und Laufen vorzustellen. Am 8. Mai 2016 findet der 3. Wings For Life Run statt. Dieses Rennen ist einerseits außergewöhnlich, weil die kompletten Startgelder der Rückenmarksforschung zukommen; mit dem Ziel, Querschnittslähmungen zu heilen. Aus sportlicher Sicht ist der Lauf aber auch besonders, weil er ganz anders organisiert wird als man das normalerweise gewöhnt ist.
Bei einem üblichen Wettkampf weiß man vorher genau, wie groß die zurückzulegende Distanz ist. Man läuft 10 Kilometer, einen Halbmarathon, einen Marathon über 42,195 Kilometer oder irgendeine andere klar definierte Strecke. Man beginnt am Start und probiert das vor einem liegende Ziel so schnell wie möglich zu erreichen. Nicht so beim Wings For Life Run: Hier befindet sich die Ziellinie hinter einem und man muss möglichst schnell vor ihr davon laufen.
30 Minuten nachdem die Läuferinnen und Läufer gestartet sind, fährt hinter ihnen ein Auto los. Dieses “Catcher Car” ist die Ziellinie. Es fährt mit 15 km/h und damit schon deutlich schneller als die meisten Hobby-Läufer laufen können. Mit jeder weiteren vergangenen Stunde wird es um ein km/h schneller; 3 Stunden und 30 Minuten nach dem Start beschleunigt es auf 20 km/h und nach 5,5 Stunden schließlich auf 35 km/h. Wird man während des Laufs vom Catcher Car überholt, ist das Rennen vorbei.
Zusätzlich zu diesem außergewöhnlichen Rennverlauf findet der Lauf auch zeitgleich an 34 Orten überall auf der Welt statt. In Wien – wo ich teilnehmen werde – startet das Rennen um 13 Uhr MESZ. Gleichzeitig laufen auch überall anders auf der Welt die Menschen los. Manche früh am Morgen, manche mitten in der Nacht – aber alle gleichzeitig. Man läuft also nicht nur vor der Ziellinie davon, sondern befindet sich auch noch im Wettkampf mit zehntausenden Konkurrenten anderswo auf dem Planeten.
Seit ich vor zwei Jahren das erste Mal von diesem Rennen gehört hatte, wollte ich unbedingt einmal teilnehmen und jetzt habe ich endlich die Zeit dafür gefunden. Ich bin vor allem darauf gespannt, wie ich mir so einen Lauf einteile bzw. vorab plane. Normalerweise ist es ja recht einfach: Für einen Marathon oder einen 10-Kilometer-Lauf setze ich mir eine gewisse Zielzeit; weiß dann wie schnell ich dafür laufen muss und führe mein Training entsprechend durch. Während des Rennens kann ich die jeweils aktuelle Geschwindigkeit überprüfen und gegebenenfalls anpassen. Bin ich am Anfang zu langsam unterwegs, kann ich das – ausreichend Energie vorausgesetzt – später im Rennen wieder aufholen. Beim Wings-For-Life-Run geht das nicht. Wenn ich am Anfang zu langsam bin, holt mich das Catcher Car aus dem Rennen und ich habe keine Chance mehr, etwas aufzuholen. Bin ich dagegen zu schnell, fehlt mir vielleicht die Energie, später im Lauf ausreichend schnell zu sein.
Ich muss also theoretisch nicht nur wissen, wie schnell ich eine gewisse Distanz laufen kann sondern auch noch korrekt einschätzen, wie meine jeweilige Tagesform ist und ob ich Schwierigkeiten haben werde, die nötige Geschwindigkeit zu laufen. Eine knifflige Sache… aber bei weitem nicht so knifflig wie all die Pläne und Vorbereitungen die professionelle Langstreckenläufer brauchen. Ich habe zu dem Thema vor kurzem ein wunderbares Buch gelesen. Es heißt “Zwei Stunden: Vom Traum, den Marathon zu laufen” (im Original: “Two Hours: The Quest to Run the Impossible Marathon”) und wurde von Ed Caesar geschrieben.
Er untersucht darin die Frage, ob es möglich ist, einen Marathon in einer Zeit von weniger als zwei Stunden zu laufen. Das ist aber kein Trainingsratgeber sondern ein hervorragendes Sachbuch über Sport, die Geschichte des Sports und Sportwissenschaft. Caesar folgt darin dem Leben und der Karriere von Geoffrey Kiprono Mutai, dem kenianinschen Langstreckenläufer der in den letzten Jahren zur Weltspitze im Marathin gehörte. Mutai lief in Boston einen Marathon in 2:03:02 Stunden; da Boston aber kein offizieller Kurs für Rekorde ist, wurde seine Zeit nie als Weltrekord anerkannt. Mutais Leben und sein Versuch, den Marathon-Weltrekord auch offiziell aufstellen, bilden den roten Faden für “Zwei Stunden”. Dazwischen erzählt Caesar aber von der Geschichte des Marathons selbst – nicht nur die übliche Story von den alten Griechen sondern vor allem von der modernen Entwicklung des Sports. Was als Nischensport für ein paar verrückte Freaks angefangen hatte, ist heute zu einem weltweiten Massenphänomen geworden und wie es dazu kam erklärt Caesar sehr amüsant und anschaulich.
Ich habe zum Beispiel nicht gewusst, dass solche Langstreckenläufe früher in großen Hallen stattfanden; inmitten feiernden Menschen. Oder das noch früher reiche Adelige in Großbritannien ihre Dienerschaft in Langstreckenläufen gegeneinander antreten ließen. Ebenfalls interessant ist die Geschichte der Professionalisierung des Sports; der Widerstand der früher Veranstaltern entgegengebracht wurde, die Startgelder für Spitzenläufer ausgegeben haben, usw. Neben diesem historischen Teil beschäftigt sich Caesar aber auch ausführlich mit der Wissenschaft des Sports. Er verfolgt die Entwicklung der Marathon-Bestzeiten über die Jahrzehnte und erklärt, durch welche Techniken die Läufer immer schneller wurden. Er stellt die Arbeit der Wissenschaftler vor, die der Meinung sind, dass die schnellstmögliche für einen Menschen erreichbare Marathon-Zeit knapp unter zwei Stunden liegt. Und natürlich kommen immer wieder die Läuferinnen und Läufer selbst zu Wort, die weltweit die Bestleistungen erbringen.
Besonders interessant fand ich die Schilderungen aus dem Alltag von ostafrikanischen Eliteläufern wie Mutai, Kemeto, Gebrselassie, etc. Caesar erzählt, wie es überhaupt erst zur Dominanz von Ostafrika im Langstreckenlauf kam und beschäftigt sich mit der Frage, warum die Menschen dort so lang und schnell laufen können. “Liegt alles an den Genen”, kann man da ja oft hören. Aber diese Erklärung ist genau so absurd wie es absurd wäre zu behaupten, dass die Österreicher “genetisch” bessere Skifahrer wären als der Rest der Welt (immerhin haben sie in den letzten 27 Jahren jeden Nationencup gewonnen). Die Lebensumstände spielen allerdings eine enorm wichtige Rolle; genauso wie die Geografie, die gesellschaftliche Struktur in Ostafrika und vor allem die Tatsache, dass der Laufsport für viele Menschen dort eine Möglichkeit ist, Geld für ihre Familien zu verdienen das anderweitig nicht zu verdienen ist. Und wer in Caesars Buch liest, was für ein absurd hohes und hartes Trainingspensum die ostafrikanischen Spitzenläufer absolvieren, wundert sich nicht mehr so viel, warum sie so gut bei dem sind, was sie tun (Und bevor jemand fragt: Ja, auch das Thema “Doping” wird im Buch ausführlich erläutert).
Natürlich ist es ein wenig seltsam, ein ganzes Buch der Frage zu widmen, ob man die willkürlich festgelegte Strecke von 42,195 Kilometern in der ebenfalls willkürlichen Zeit von 2 Stunden laufen kann. Aber wie Caesar schreibt:
“As a species we are interested in outlandish feats, and our brains cleave to landmarks.”
Ein wenig “outlandish” ist mit Sicherheit meine für morgen geplante Flucht vor der Ziellinie in Wien. Aber ich freue mich trotzdem schon sehr darauf. Wenn nichts grob schief geht, sollte ich eigentlich auf mindestens 25 Kilometer schaffen. Wenn ich meine persönliche Bestleistung von 2 Stunden und 24 Minuten auf 30 Kilometer morgen reproduzieren kann, sollte das aber auch reichen, um diese Strecke vor dem Catcher Car zurück zu legen. Mal sehen. Ein wenig Sorgen macht mir nur der Massenstart: Die Zeit für das Catcher Car beginnt mit dem Startschuß; selbst wenn es dann noch ein paar Minuten dauert, bis man sich hintem im Feld überhaupt bewegen kann. Aber es ist ja eigentlich auch egal: Das Wetter wird schön werden; die Stimmung sicher großartig und ich werde so weit kommen, wie ich komme!
Ich kann euch übrigens nur empfehlen, euch das Rennen anzusehen (falls ihr nicht selbst mitmacht). Auf Servus TV wird das ganze live übertragen und es macht echt Spaß. Durch die 34 gleichzeitig stattfindenden Läufe wird selbst so ein eher publikumsunfreundlicher Sport wie der Langstreckenlauf enorm spannend und fernsehtauglich. Das Ganze gibt es übrigens auch live im Internet; mit der Möglichkeit dem Fortschritt einzelner Sportler zu folgen.
Und bis es so weit ist: Lest das Buch von Ed Caesar! Selbst wenn man kein Läufer ist, ist es eine faszinierende Lektüre.
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