Als Astronom und Wissenschaftsautor habe ich normalerweise kein Problem über die großen Erfolge der Astronomie zu schreiben. Astronomie ist eine erstaunlich vielfältige Wissenschaft mit der sich ebenso erstaunlich viele Dinge anstellen lassen. Mit Astronomie lassen sich auch viel mehr Dinge untersuchen als nur die Sterne. Das große “Rätsel” um ein Werk der antiken griechischen Dichterin Sappho haben sie allerdings nicht gelöst. Auch wenn das in vielen Medien verkündet wird, die sich alle auf eine Pressemitteilung der Universität Texas in Arlington beziehen.
“UTA scientists use Planetarium’s advanced astronomical software to accurately date 2500 year-old lyric poem” kann man da lesen. Und prinzipiell ist es auch nicht unplausibel, dass Astronomen so etwas tun. Der Sternenhimmel ist eine ganz brauchbare Uhr; immerhin wurde die Bewegung der Himmelskörper ja jahrtausendelang als Grundlage der Zeitmessung verwendet! Ereignisse, wie Supernova-Explosionen, große Meteorschauer, Asteroideneinschläge und ähnliches die alten Texten beschrieben werden, lassen sich auch nachträglich noch sehr genau datieren. Bei Sapphos Gedicht sieht die Sache aber anders aus.
Es geht um das sogenannte “Mitternachtsgedicht”, dessen Anfang aus diesen vier Zeilen besteht:
Untergegangen sind der Mond
Und die Plejaden. Es ist Mitternacht,
Die Stunden vergehen.
Ich aber schlafe allein.
So lautet zumindest eine der deutschen Übersetzung. Und mit “Mond”, “Plejaden” und “Mitternacht” hat man da ja schon einige astronomische Begriffe mit denen man arbeiten kann. Die Frage lautet also: Wann gehen Mond und der markante Sternhaufen der Plejaden vor Mitternacht unter? Eine Frage, die sich astronomisch durchaus beantworten lässt. Das geht mit entsprechenden Computerprogrammen recht einfach. Aber in der Pressmitteilung wird ja von “accurately date” gesprochen. Die Wissenschaftler haben das Gedicht also anscheinend akkurat datiert; das klingt so, als wüsste man nun genau, wann Sappho gen Himmel geblickt und ihr trauriges Gedicht über die Einsamkeit geschrieben hat.
Angesichts dieser Behauptung könnte man als astronomisch interessierter Mensch durchaus ein wenig stutzig werden. Der Mond geht ja recht oft vor Mitternacht unter. So etwas kommt nicht nur alle paar Jahrhunderte vor, sondern alle paar Wochen. Und die Plejaden bewegen sich gar nicht; ihr Auf- und Untergang wird durch die Drehung der Erde um ihre Achse bestimmt und ihre Sichtbarkeit durch die Bewegung der Erde um die Sonne. Auch das sind tägliche bzw. jährliche Phänomene und nicht unbedingt zur Datierung der griechischen Antike geeignet (genau genommen verändert sich die Position der Plejaden durch ihre Eigenbewegung im Laufe der Jahrtausende schon, aber um das zur Datierung nutzen zu können hätte Sappho schon extrem genaue Positionsmessungen publizieren müssen und keine Liebeslyrik…).
Hinzu kommt: Der Himmel sieht von unterschiedlichen Orten der Erde unterschiedlich aus; es hängt also auch davon ab, von wo aus Sappho den Himmel beobachtet hat. Im Prinzip sind Datierungen dieser Art schon möglich – in diesem Fall sind aber viel zu viele Parameter unbekannt. Und wenn man sich die konkrete wissenschaftliche Arbeit ansieht scheinen das Astronomen ebenfalls so zu sehen. Der Text heißt “Seasonal Dating of Sappho’s Midnight Poem revisited” (pdf) und das “seasonal” macht klar, dass es nicht um eine absolute Datierung geht, sondern nur um die Datierung des Zeitraums innerhalb eines Jahres. Die Wissenschaftler haben das Jahr 570 v.u.Z. als Referenzjahr gewählt, weil Sappho da angeblich gestorben sein soll. Und als Ort wurde die Stadt Mytilene auf der Insel Lesbos verwendet, weil Sappho da viel Zeit verbracht haben soll. Tut man das, dann kommt man zu dem Schluss, dass dort Mond und Plejaden zwischen 25. Januar und 31. März vor Mitternacht untergehen.
Gut, das ist jetzt nicht die “exakte Datierung” und Sensation die uns die (in vielen Medien kopierte) Pressemitteilung verkaufen will. Aber zumindest interessant; auch wenn andere Wissenschaftler das schon 1989 herausgefunden haben. Wenn es denn tatsächlich eine sinnvolle Datierung wäre und das ist eher zweifelhaft. Der Wissenschaftshistoriker Darin Hayton hat die Arbeit analysiert und darüber einen sehr lesenswerten Artikel geschrieben. Und weil Haytons Text so umfassend und gut lesbar ist, möchte ich ihn auch gar nicht im Detail reproduzieren, sondern nur auf ein paar interessante Punkte hinweisen.
Zum Beispiel die Übersetzung. Sappho schrieb ja nicht auf deutsch; das Original lautet (nach Wikipedia) so:
Δέδυκε μὲν ἀ σελάννα
καὶ Πληΐαδες· μέσαι δὲ
νύκτες· παρὰ δ᾿ ἔρχετ᾿ ὤρα.
Ἔγω δὲ μόνα κατεύδω.
Das ist angeblich ein äolischer Dialekt des altgriechischen – den ich natürlich aber nicht beherrsche. Aber das griechische Alphabet kann ich halbwegs und “νύκτες” klingt zumindest ein wenig nach “Nacht”. Genau so wie “μέσαι” irgendwie nach “mitten” klingt. Aber ist das jetzt wirklich das gleiche wie der astronomische Begriff “Mitternacht”, der in der Übersetzung verwendet wird? Um das herausfinden zu können, müsste man eigentlich zuerst eine sprachwissenschaftliche und/oder literaturwissenschaftliche Studie durchführen um die Bedeutung der Worte eindeutig zu klären. Aber selbst wenn man davon ausgeht, dass Sappho mit “Mitternacht” und “Plejaden” das gleiche meint wie die Astronomen muss das immer noch nichts bedeuten. Es ist Lyrik, kein Forschungsaufsatz! Und wenn ich in einem Gedicht über Einsamkeit eine dunkle Mond- und sternenlose Nacht heraufbeschwöre, dann tue ich das vielleicht aus ganz anderen Gründen ohne den Vorsatz eine akurate astronomische Beschreibung zu liefern (und es soll in der Literatur ja durchaus schon mal zur Beschreibung von fiktiven, in der Natur nicht reproduzierbaren Ereignissen gekommen sein…).
Ich bin ja eigentlich ein großer Fan der Anwendung von astronomischen Methoden auf andere Wissensgebiete. Es kann durchaus großen Spaß machen astronomische Phänomene in der Literatur zu analysieren. Und oft genug ist das auch wissenschaftlich ergiebig (zum Beispiel bei der Frage, was Shakespeare über Astronomie wusste).
Sapphos Gedicht kann man natürlich ebenso astronomisch betrachten und sich überlegen, inwieweit ihre Lyrik von der Betrachtung des Sternenhimmels inspiriert worden ist. Aus diesen vier kurzen Zeilen aber eine konkrete astronomische Datierung ableiten zu wollen, ist weder möglich, noch sinnvoll. Wenn einer der Autoren der Autoren der Arbeit dann also sagt “Sappho should be considered an informal contributor to early Greek astronomy as well as to Greek society at large.”, dann halte ich das für mehr als übertrieben. Lyrik ist Lyrik und dass Mond und Sterne auf- und untergehen war auch zu Sapphos Zeiten keine so große Sensation dass die Beobachtung dessen als “Beitrag zur Astronomie” gelten könnte. Neben diesen seltsamen Behauptungen stört natürlich auch die völlig überzogene Pressemitteilung – und die unkritische Wiedergabe derselben in den Medien.
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