In Österreich wird gerade heftig über die Mathematik-Matura diskutiert (“Matura” heißt hier das, was in Deutschland das “Abitur” ist). Angeblich war die schriftliche Mathematikprüfung in diesem Jahr besonders schwer und es sollen überraschend viele Schülerinnern und Schüler durchgefallen sein (siehe zum Beispiel hier oder hier). Und wenn natürlich auch noch die Möglichkeit besteht, die Note bei der kommenden mündlichen Prüfung zu korrigieren, hat das ganze eine große Kontroverse ausgelöst. Man gibt den Lehrerinnen und Lehrern die Schuld an der Sache; oder auch den Jugendlichen selbst. Und ganz oft den Modalitäten der vor einigen Jahren eingeführten Zentralmatura. Meine Schulzeit liegt schon 20 Jahre zurück und ich kann die heutige Situation nicht wirklich beurteilen. Ein paar Sachen sind mir an der aktuellen Diskussion aber doch aufgefallen, die ich kurz kommentieren möchte.
Man kann die Aufgaben die bei der Matura zu lösen waren, hier ansehen: Zwei Vektoren addieren; ein Histogramm zeichnen; eine quadratische Gleichung lösen, den Median bestimmen, und so weiter. Alles ziemlich einfach. Zumindest auf den ersten Blick und vor allem einfach für mich. Aber ich habe ja auch ein sehr mathematik-intensives Studium hinter mir und als Wissenschaftler jahrelang in der mathematik-intensiven Disziplin der Himmelsmechanik gearbeitet. Es wäre seltsam, wenn die Mathematik-Matura aus meiner Sicht nicht leicht erscheinen würde. Aber ich musste die Prüfung ja auch nicht schreiben, sondern die Schülerinnen und Schülern! Zu sagen: “Ich kann das leicht lösen, also sollen die Jugendlichen nicht meckern” (wie das in einigen Kommentaren getan wurde) halte ich für falsch.
Dazu muss ich mich nur an meine eigene Matura erinnern. Damals, im Jahr 1995, gab es noch keine Zentralmatura und die Auswahl der Beispiele oblag den jeweiligen Lehrern. Wir hatten auch nur vier Beispiele zu lösen. Wenn ich mich richtig erinnere, waren das bei mir die folgenden:
- Gegeben waren 5 Punkte im Raum und man musste bestimmen, ob sie eine gleichseitige Pyramide bilden oder nicht.
- Die Nullstellen der Funktion f(x)=exp(x)*sin(x) waren zu bestimmen.
- Eine Paraboloid schneidet ein Ellipsoid und das Volumen des entstehenden Körpers war zu berechnen.
- Dann gabs noch was mit “linearer Optimierung” an das ich mich nicht mehr genau erinnere. Irgendwas mit “Eine Firma stellt Produkte A und B her die X1 und Y1 Gewinn bringen” und noch ein paar weitere Angaben dieser Art aus denen man dann bestimmen sollte, was die optimalen Produktionsmengen für die Firma wären. Im Prinzip musste man nur zwei Linien zeichnen und den Schnittpunkt bestimmen.
Diese Beispiele waren noch viel leichter als das, was die Schülerinnen und Schüler heute lösen müssen. Beispiele wie bei meiner Matura habe ich während des Studiums ständig und nebenbei in diversen Vorlesungen und Übungskursen gelöst. Aber als ich bei meiner Mathe-Matura saß, kamen mir die Beispiel überhaupt nicht leicht vor. Ganz im Gegenteil… Und ich habe auch nur mit Mühe ein “Befriedigend” (in Österreich gibt es die fünf Noten “Sehr gut”, “Gut”, “Befriedigend”, “Genügend”, “Ungenügend”) geschafft was angesichts dieser enorm simplen Beispiel eigentlich peinlich ist.
Aber genau darum geht es ja: Die Schwere der Prüfungsfragen (damals wie heute) muss man aus der Sicht der Schüler und Schülerinnen selbst beurteilen. Und wir hatten eben in unserem Unterricht keine vernünftige Mathematik gelernt. An einem Beispiel zur Vorbereitung der Matura ist zum Beispiel fast die gesamte Klasse gescheitert, weil uns niemand beigebracht hat, dass sin²x + cos²x = 1 ist. Nur der eine Schüler, der kurz davor aus einer anderen Schule zu uns kam, wusste das.
Natürlich wäre es falsch, die Schuld an den aktuell schlechten Matura-Ergebnissen den Lehrerinnen und Lehrern zu geben! Sicher wird es auch heute noch schlechte Pädagogen geben, die ihre Klassen unzureichend vorbereiten. Aber wenn alle österreichischen Jugendlichen so mies in Mathe wären, wie es die Matura-Ergebnisse anzudeuten scheinen, dann sollten ja eigentlich alle auch vorher schon miese Noten in den Zeugnissen und Schularbeiten gehabt haben. Das aber ist nicht der Fall.
Vermutlich liegt das Problem eher in der Entkopplung von Ausbildung und Prüfung. Mein Mathelehrer hat mir zwar nichts beigebracht, aber dafür dann auch die Prüfungsbeispiele so enorm simpel gewählt, dass mein Abschneiden zumindest meinem relativen Wissensstand entsprochen hat. Mit der neuen Zentralmatura scheint es nun aber eher so zu sein, dass die Schülerinnen und Schüler nicht mehr das lernen, was am Ende auch geprüft wird. Beziehungsweise dürfte die Prüfung selbst ganz andere Fähigkeiten prüfen, als sie im Unterricht vermittelt werden – siehe dazu auch diesen Kommentar einer Maturantin.
Und das ist nicht nur momentan schlimm und deprimierend für die Jugendlichen, sondern kann auch verheerend für deren zukünftige Ausbildung sein. Angesichts meiner schulischen Leistungen in Mathematik hätte ich eigentlich niemals ein mathematiklastiges naturwissenschaftliches Studium wie die Astronomie beginnen sollen. Ich wäre in der letzten Klasse vor der Matura in Mathematik fast durchgefallen; habe eine wenig berauschende Matura geschrieben und auch in Physik war ich eher mittelmäßig (war übrigens der gleiche Lehrer). Aber mich hat die Astronomie eben interessiert. Ich hab auf der Uni nochmal neu angefangen Mathematik zu lernen. Das hat ein wenig gedauert: Bei der ersten Matheprüfung auf der Uni bin ich durchgefallen; aber von da an ging es aufwärts und ab dem dritten Semester hab ich in Mathematik nur noch Einsen geschrieben.
Hätte es in Österreich aber damals irgendwelche auf Schulnoten basierende Zugangsbeschränkungen gegeben, wäre ich heute wohl kein Astronom. Es hätte vermutlich schon gereicht, wenn ich ein Umfeld gehabt hätte, das weniger fördernd gewesen wäre. Es hätte ja durchaus sein können, dass Lehrer, Eltern und andere mir angesichts meiner Leistungen intensiv von einem Astronomie-Studium abgeraten und mich überzeugt hätten, dass ich wirklich zu blöd dafür bin. Das ist glücklicherweise alles nicht passiert.
Aber wer weiß, wie viele Schülerinnen und Schüler nun aktuell durch schlechte Leistungen bei der Mathematik-Matura von einem entsprechenden Studium abgehalten werden? Durch schlechte Leistungen, die vielleicht gar nichts mit mangelnden mathematischen Fähigkeiten zu tun haben?
Wie gesagt: Meine Schulzeit ist lange vorbei. Aber vielleicht habe ich ja Schüler oder Lehrer unter den Lesern, die das gerade alles live miterleben und sich dazu äußern wollen (In den nächsten Tagen sollte es hoffentlich auch einen Gastbeitrag eines Mathematiklehreres zum Thema geben). Ich würde mich über Erfahrungsberichte freuen!
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