Dieser Artikel ist Teil der blogübergreifenden Serie “Running Research – Denken beim Laufen”, bei der es um die Verbindung von Laufen und Wissenschaft geht. Alle Artikel der Serie findet ihr auf dieser Übersichtseite
——————————————-
In der Nacht von Freitag auf Samstag habe ich an der Horizontale Jena teilgenommen, einer Langstreckenwanderung die auf 100 Kilometer einmal rund um Jena führt. Dass habe ich auch schon im letzten Jahr getan. Damals bin ich nach 20 Stunden und 27 Minuten ins Ziel gekommen und war ziemlich geschafft. Nicht unbedingt körperlich; mir hat nichts weh getan oder so. Aber immerhin habe ich mich mehr als 20 Stunden lang kontinuierlich bewegt; war noch viel länger munter und am Ende auf eine sehr seltsame Art und Weise geistig völlig ausgelaugt. Eigentlich wollte ich bei dieser Wanderung auch nicht mehr mitmachen – aber dann dachte ich mir: Hmm – vielleicht ist es weniger anstrengend, wenn ich nicht nur wandere, sondern auch ein wenig laufe? Dann bin ich schneller im Ziel und nicht so müde? Und da ich mich sowieso mal an längeren Strecken probieren wollte, habe ich mich noch ein weiteres Mal auf die 100 Kilometer rund um Jena gemacht. Mit dem Vorsatz, diesmal schneller zu sein. Und im Ziel weniger erschöpft. Nun… in gewisser Weise hat es geklappt. In gewisser Weise auch nicht.
Ich hatte mir ja eigentlich Sorgen ums Wetter gemacht. Wenn man sich schon die ganze Nacht in den Bergen rund um Jena herum treibt, dann soll es dabei wenigstens nicht regnen. Untertags gab es immer wieder mal Schauer – aber am Abend blieb es trocken. Trüb und schwül war es allerdings immer noch.
Ich bin noch nie 100 Kilometer gelaufen. Gewandert, ja – aber nicht gelaufen. Ich glaube, man kann 100 Kilometer am Stück auch gar nicht laufen. Bzw. wird es sicher ein paar gut trainierte Leute geben, die das können, aber ich gehöre da sicher nicht dazu. Ich wollte mir dass daher auch gar nicht vornehmen. Mein Plan lautete: Zuerst mal 5 Kilometer locker laufen, bis ich die Kernberge erreicht habe. Denn dort folgen ~15 Kilometer mit sehr, sehr schmalen Pfaden auf denen man nicht überholen kann und wo ich ungern zwischen den ca 1000 anderen Starterinnen und Starter eingezwängt wäre. Bis Kilometer 50 wollte ich dann auf jeden Fall weiter (langsam) laufen – und dann mal sehen, wie es mir so geht. Je nach dem würde ich den Rest laufend, gehend bzw. in einer Mischung von beidem zurück legen.
Anfangs lief alles wunderbar. Ich war so gut wie immer alleine unterwegs; die reinen Wanderer waren hinter mir und die schnelleren Läufer (noch) nicht vor mir. An der zweiten Verpflegungsstelle bei Kilometer 46 wurde ich sogar als Erster begrüßt. Was mich ein wenig gewundert hat, denn da war noch ein Läufer aus Stuttgart, den ich zwischendurch immer wieder kurz getroffen habe und der eigentlich vor mir sein sollte. Aber wenn man sich auf den vielen Wanderwegen nicht gut auskennt, kann man sich im Dunkeln leicht verlaufen und das dürfte ihm wohl passiert sein. Kurz hinter der Verpflegungsstation hatte er mich dann auch wieder eingeholt und wir haben beschlossen, die nun folgende Strecke durch den Jenaer Forst gemeinsam zurück zu legen (denn wenn man sich irgendwo wunderbar verlaufen kann, dann im Forst!). Bei Kilometer 55 haben wir uns dann getrennt; er lief wieder schnell; ich ein wenig langsamer.
Ich bin nun immer wieder auch Abschnitte gegangen. Einerseits, weil es in der Gegend viele steile, schmale und holprige Pfade gab wo es kaum anders ging. Aber auch weil ich ein paar Probleme mit den Ressourcen hatte. Die Horizontale ist ja explizit als Wanderung ausgelegt und die Öffnungszeiten der Verpflegungsstationen auch auf Wanderer abgestimmt. An den Stationen gibt es so viel gute Verpflegung, dass man eigentlich überhaupt keinen eigenen Proviant mitführen müsste. Aber wenn man schneller unterwegs ist als ein typischer Wanderer, hat man nicht viel davon, weil sie noch geschlossen sind, wenn man vorbei kommt.
Ich wusste, dass ich die erste und zweite Station noch ausnutzen konnte. Bei der dritten war ich mir nicht sicher; die vierte sollte dann aber vermutlich wieder klappen. Zwischen Station 2 und Station 4 lagen aber circa 40 Kilometer – viel zu weit, um das komplett ohne irgendwas zu absolvieren. Also hab ich mir ein paar Müsliriegel und ein ausreichend Getränke für diese Distanz eingepackt. Dachte ich zumindest. Denn leider ist eines der Saftpäckchen in meiner Jackentasche ausgelaufen (was ich nicht gemerkt hatte, weil ich sowieso überall verschwitzt war). Meine Vorräte waren also schneller verbraucht, als geplant. Und als ich dann um halb vier Uhr morgens bei der dritten Verpflegungsstation angekommen bin, war die dann natürlich noch zu.
Ich hab mich dann also dazu entschieden, die Strecke bis zur nächsten Station nur noch zu gehen. Durst hatte ich jetzt schon, und der würde nicht weniger werden, wenn ich jetzt noch weiter laufe und in der gar nicht so kalten Nacht schwitze.
Die Nacht war dann zum Glück bald vorbei; und mittlerweile kamen auch ab und zu mal andere Läufer vorbei. Das hätte mich zwar schon motiviert, auch selbst wieder ein bisschen zu laufen. Aber ich wollte ja vor allem ins Ziel kommen und meine Kraft nicht sinnlos verpulvern. Kurz vorm Fuchsturm gab es dann einen schönen Sonnenaufgang zu besichtigen und der half, den letzten großen Anstieg zu bewältigen.
Bei Kilometer 85 gab es dann endlich wieder Wasser, Tee, Cola, belegte Brote, Bananen und was man sich sonst noch so wünscht! Und nur noch 15 Kilometer bis ins Ziel! Die hab ich dann mal laufend; mal gehend zurück gelegt. Die letzten 5 Kilometer gings leicht bergab; die bin ich durchgehend gelaufen und der letzte Kilometer war sogar mein zweitschnellster während der ganzen Veranstaltung. Ich wollte unbedingt vor 9 Uhr morgens ankommen um noch eine Gesamtzeit von weniger als 15 Stunden zu schaffen.
Das hat auch geklappt und im Ziel gab es dann wieder Essen und Getränke so viel man wollte.
Trotz der frühen Stunde hab ich mir dann auch ein Bier gegönnt.
Und mir danach Gedanken über die Frage gemacht, die mich schon die ganze Nacht beschäftigt hat: Was mache ich hier eigentlich?
Damit meine ich jetzt nicht Fragen der Art: Warum tue ich mir so einen Unsinn an und laufe ne Nacht lang 100 Kilometer durch die Gegend? Warum ich das mache, war mir durchaus klar. Aber ich wollte wissen, was es ist, dass ich da mache. Eine langer Spaziergang? Oder ein langer Lauf? Eine Wanderung? Oder ein Ultramarathon? Diese Problematik der Klassifizierung trifft man ja nicht nur beim Laufen sondern überall sonst; vor allem gerne in der Wissenschaft.
Hätte ich die 100 Kilometer beispielsweise in 8 Stunden absolviert, wäre klar gewesen, dass das ein Lauf war. Hätte ich 24 Stunden benötigt, wäre ich klar gegangen. Genau so wie klar ist, dass der Jupiter ein Planet ist aber ein paar hundert Meter großer Felsbrocken im All ein Asteroid. Aber dazwischen wird es unklar. Als Pluto im Jahr 2006 seinen Status als Planet verlor gab es jede Menge Diskussionen und bis heute ist unklar, wie genau man definieren soll, was ein “Planet” ist. Das gleiche Problem hat man bei der Definition einer Galaxie. Oder in der Biologie, wenn es um die Frage nach unterschiedlichen Spezien oder gar “Rassen” geht (zu diesem Thema empfehle ich diese Folge des “The Infinite Monkey Cage”-Podcasts). Wir sind immer auf der Suche nach klaren Grenzen und Klassifizierungen – aber die Natur scheint die nicht wirklich vorgesehen zu haben. In der Astronomie ist die Grenze zwischen Planeten und Asteroiden fließend. Es gibt große Himmelskörper und kleinere und alles dazwischen. Jede Trennlinie kann immer nur mehr oder weniger willkürlich sein. In der Biologie ist es genau so: Stellt euch vor, ihr steht neben eurer Mutter; daneben steht deren Mutter, daneben deren Mutter, und so weiter. Jede Person hat einen direkten Vorfahren und wir können sie alle in einer langen Reihe aufstellen. Wenn irgendeine Person aus dieser Reihe die Personen links und rechts betrachtet, wird es keinen Zweifel geben, dass sie zur gleichen Spezies gehören. Greift man aber zwei Lebewesen von den jeweiligen Enden der Reihe heraus, können da enorme Unterschiede existieren, denn im Prinzip kann man die Reihe so weit in die Vergangenheit zurück führen, bis man bei irgendwelchen Einzellern aus der Frühzeit der Erdgeschichte ankommt. Die Unterschiede, Klassen, Gattungen, usw die wir definieren sind künstlich; die Realität ist ein kontinuierlicher Ablauf.
Genau so ist der Wechsel von Laufen zu Gehen fließend. Es kann durchaus vorkommen, dass jemand schneller geht als andere laufen können. Die reine Bewegungszeit scheint also kein gutes Kriterium zu sein um zwischen “Wanderung” und “Lauf” zu unterscheiden. Soll man stattdessen die mechanischen Abläufe heranziehen? Oder sich irgendetwas anderes ausdenken? Oder vielleicht besser ganz darauf verzichten, so eine Trennung zu definieren?
Ich habe die 100 Kilometer in einer Pace von 8:59 min/km absolviert (dabei sind auch die Pausen an den Verpflegungsstationen inkludiert). Das ist ein schneller als ich normalerweise bin, wenn ich gehe. Es ist aber auch langsamer, als ich normalerweise laufe. Geschätzte 60 Prozent der Strecke bin ich gelaufen, wenn auch langsam. Aber ich bin auch oft gegangen.
Was die Sache mit den Planeten angeht, gibt es ja eine – wenn auch unzureichende – offizielle Definition. Beim Ultramarathon hätte ich so etwas noch nicht gefunden. Aber am Ende spielt das auch keine so große Rolle. Egal ob ich nun eine 100km-Wanderung absolviert habe oder einen Ultramarathon: Ich war wesentlich schneller im Ziel als im Vorjahr. Und tatsächlich habe ich mich geistig bei weitem nicht so ausgelaugt gefühlt. Dafür war es natürlich körperlich anstrengender und ich war im Ziel erschöpfter als ich es letztes Jahr war. Wenn ich das ganze noch einmal machen müsste, würde ich mich wieder für die schnellere Variante entscheiden. Die war zwar nicht weniger anstrengend, aber ich hab mich am Ende besser gefühlt als nach der 20-Stunden-Wanderung. Aber soll ich das Ganze noch einmal machen? Vielleicht… aber wenn, dann probiere ich es mal mit einer Veranstaltung, die nicht als Wanderung ausgeschrieben ist und wo mein Tempo mit den Verpflegungsstationen zusammen passt. Schön wäre es auch, wenn so etwas untertags stattfindet; in der Nacht es doch immer ein wenig anstrengender. Mal sehen. Und vielleicht finde ich bis dahin ja noch heraus, was es ist, dass ich da tue 😉
Kommentare (51)