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Das sagt der Autor des Artikels, Marc Schanz über sich:
Ich habe Diplom-Psychologie studiert und mein Nebenwach war BWL. Seit der Krise streite ich mich im Netz des öfteren mit Ökonomen. Mein Hobby lässt sich daher am besten mit “Therapeut für den krisengeplagten homo oeconomicus” beschreiben. Aufgrund meines Studiums habe ich einen verzerrten Blick auf die Ökonomie, den man meinen Artikeln anmerken soll.
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Die wahrscheinlich teuerste Illusion der Welt
“Jedes Angebot schafft sich seine Nachfrage selbst!” – das ist die klare Aussage des Sayschen Theorems, einem der stabilsten und bedeutendsten Pfeiler der angebotsorientierten Ökonomie. Probleme auf der Nachfrageseite? Kann es nicht geben! Eine weitere Stütze dieser Sichtweise ist der abnehmende Grenznutzen. Er besagt, wir hören auf, Güter zu erwerben, wenn unsere Nutzenbedürfnisse ausreichend befriedigt sind. Die Leute kaufen nichts mehr? Kein Problem, sie sind alle gesättigt! Auf diesem breiten Fundament bauen die allgemeinen Gleichgewichtsmodelle auf, die generelle Aussagen über das Wirtschaften erlauben. Darüber befindet sich das Dach aus dem volkswirtschaftlichen Pareto-Optimum, einem Zustand, in dem sämtliche Güter optimal verteilt sind. Dieses imposante Gedankengebäude gipfelt in der Aussage: Allein die angebotsorientierte Wirtschaftspolitik ermögliche das für die Gesamtwirtschaft beste Ergebnis und sei daher der einzige Weg für einen nahezu perfekten Wohlstand für alle.
Dieses so wuchtige und scheinbar stabile Gebäude, welches die Wirtschaftswissenschaften die überwiegende Zeit dominiert, hat einen erheblichen Makel. Nachfragekrisen dürfte es niemals geben, doch es gab sie in Form der Weltwirtschaftskrisen in den Jahren ab 1929 bis Ende der 30er und seit 2007. Einige Gebäudeteile müssen daher fehlerhaft sein, es hat also eine Fassade mit einigen Illusionsfragmenten. Ich möchte die Frage klären, welche das genau sind.
Nehmen wir die Statik des Theoriengebäudes etwas genauer unter die Lupe. Betrachten wir zuerst eine etwas kleinere Stütze. Der abnehmende Grenznutzen basiert auf der Annahme, dass sich die Bedürfnisse eines Menschen über Vergleiche in eine Präferenzrangordnung bringen lassen. Das ist plausibel, denn es gibt unbestreitbar wichtige Grundbedürfnisse, wie Hunger oder Durst, aber auch weniger wichtige wie das Verlangen nach Luxus. Ordnet man diesen unterschiedlichen Bedürfnissen Rangwerte zu, lassen sich diese rein subjektiven Bewertungen auf einmal auf einer Ordinalskala messen. Bewertet man nach diesem Schema nicht nur einzelne Produkte, sondern Produktmengenkombinationen, ergibt sich hieraus die sogenannte Nutzenfunktion. Sie erlaubt eine theoretische Beschreibung der Nachfragemenge in Bezug auf einen theoretischen Nutzen. Nach dem Gossenschen Gesetz aus dem Jahre 1854 nimmt bei steigender Menge der Nutzen ab, bis eine Sättigung erreicht wird. Die erste Ableitung dieser Nutzenfunktion ist die Grenznutzenfunktion. Sie beschreibt den Zuwachs an Nutzen, der pro zusätzlich konsumierter Einheit entsteht. Diese Grenznutzenkurve soll über die Eigenschaft verfügen, zu einer Angebotspreisänderung die entsprechende Veränderung der Nachfrage zu bestimmen.
Schauen wir kurz bei einem Kiosk vorbei, um die graue Theorie des Grenznutzens an einem leicht verdaulichen Beispiel zu beschreiben: Ich bekomme Hunger und kaufe mir am Kiosk eine Curry Wurst. Mein Hunger ist zumindest teilweise gestillt, aber es hat mir so gut geschmeckt, dass ich noch eine zweite Portion esse. Der zusätzliche Nutzen dieser Portion nimmt ab, sie stillt nicht mehr meinen primären Hunger, sondern nur noch eine gewisse Essenslust. Nach der zweiten Portion habe ich keinen Appetit mehr, ich bin richtig statt. Jede weitere Portion würde mir nun Übelkeit bereiten, der Grenznutzen der Curry Wurst ist für mich jetzt negativ.
Das Beispiel ist leicht verständlich und auch richtig. Ökonomische Entscheidungen von Lebensmittelkäufen werden üblicherweise aufgrund eines nicht vorhandenen physiologischen Sättigungsgefühls getroffen, das auch unter dem Phänomen Hunger bekannt ist.
Aus theoretischer Sicht ist das Grenznutzenmodell überaus elegant, es basiert auf dem abstrakten Nutzen der Güter und einem Sättigungmechanismus, die sowohl für den Umfang als auch für die Dynamik der Nachfrage sorgen sollen. Die Nachfrage organisiert sich einfach selbst, es müssen daher keine weiteren Einflüsse oder Faktoren berücksichtigt werden. Ich habe keinen Hunger, also kaufe ich kein Essen! Mein Schrank ist voll, also kaufe ich keine Kleidung! Krisen können nur durch einen Angebotsmangel entstehen, da jeglicher Nachfragerückgang allein auf einer unbedenklichen Sättigung beruht.
Der Grenznutzen erscheint in sich schlüssig zu sein und keine nennenswerten Angriffsflächen zu bieten. Ein tragende Stütze der angebotsorientierten Ökonomie, die scheinbar keinen Makel aufweist. Er ist jedoch nur eine Illusion, denn er basiert auf dem gravierenden Denkfehler, das Prinzip der Sättigung auf sämtliche ökonomische Entscheidungen zu verallgemeinern. Eine auf Konsum getrimmte Gesellschaft kennt keine Begrenzung ihrer Bedürfnisse. Wo ist meine persönliche Grenze für meinen Bedarf an Büchern, Reisen oder Gold? Ich bin ganz ehrlich, ich habe keine! Und dennoch, obwohl ich nicht gesättigt bin, konsumiere ich nicht alles, was ich begehre. Wenn ich könnte, würde ich ständig das neuste Smartphone kaufen, sobald es auf dem Markt erscheint. Weshalb mache ich es nicht? Weil ich es mir nicht leisten kann! Jeder kennt einen Konsumwunsch, den er sich zur Zeit nicht erfüllen kann, und jeder kennt sehr gut die schmerzlich begrenzende Wirkung des Geldbeutels, welche der Wunscherfüllung entgegensteht.
Ist es denn wirklich so entscheidend, ob die Begrenzung auf der Sättigung eines imaginären Nutzens oder schlicht Geldmangel beruht? Ist es vielleicht nur ein kleiner, unbedeutender Riss in der Farbschicht der Säule des Grenznutzens, der sich einfach zu spachteln lässt? Nein, ist er nicht. Um das zu verstehen, muss man jedoch die Funktion dieses Stützpfeilers etwas genauer kennen.
Nähern wir uns von einer anderen Seite der Säule und betrachten sie, indem wir uns die Frage stellen: Was soll der Grenznutzen eigentlich sein? Er ist ein Modell für das konkrete Kaufverhalten aller Konsumenten. Die empirischen Studien zum Kaufverhalten folgen keinesfalls immer dem rationalen Nutzenprinzip. Die Ökonomie versucht im Grunde, die menschlichen Unwägbarkeiten des ökonomischen Handelns durch ein Modell zu ersetzen, dass ohne diese Unwägbarkeiten auskommt. Es ist der theoretische Geburtsvorgang des homo oeconomicus. Die Rationalität, die eine abstrakte Nutzenzskala ausstrahlt, hat daher nichts mit der chaotischen Realität des menschlichen Kaufverhaltens zu tun. Eines dieser chaotischen Elemente sind die in sich widersprüchlichen, sogenannte intransitiven Präferenzurteile, die zudem zeitlich meist instabil sind und sich leicht beeinflussen lassen, insbesondere durch Werbung. Die Idee eines dominierenden, rationalen Nutzens wird zunehmend zur Illusion.
Für unsere Fehleranalyse der Gebäudestatik betrachten wir einen der fundamentalen ökonomischen Faktoren, den Einfluss des Budgets auf die Präferenzurteile. Wie viel Geld steht uns zur Wunscherfüllung zur Verfügung? Machen wir hierzu einen kleinen Selbstversuch: Einem fiktiven Lottogewinn. Weder ändert sich das Marktangebot oder der -preis, noch ändern sich irgendwelche Produktnutzen, noch verschieben sich irgendwelche Sättigungsgrenzen. Die Schlussfolgerung aus dem abnehmenden Grenznutzen lautet: Wir würden trotz des Lottogewinns unser altes Nachfrageverhalten beibehalten. Diese Implikation ist grotesk. Jedes zusätzliche Einkommen bietet die Chance, unsere unbefriedigten Wünsche zu erfüllen. Mein Kaufverhalten ist eindeutig vom vorhandenen Geld abhängig, ich hätte am nächsten Tag dem Gewinn ein neues Smartphone in der Hand – ein solcher Gewinn würde nicht nur mein Konsumverhalten schlagartig ändern.
Wenn die Präferenzentscheidungen durch das individuell zur Verfügung stehende Budget wesentlich beeinflusst wird, wie wir an unserem leider nur imaginären Lottogewinn sehen können, dann heisst das nichts anderes, als das Budgetänderungen die Nachfrage entscheidend beeinflussen, und diese Nachfrageänderung wirkt wiederum auf den Gleichgewichtspreis. Somit ist eine der wichtigen Thesen der klassischen Ökonomie, die Nachfrage beruhe allein auf rationalen Nutzenpräferenzen und deren Sättigung, nicht mehr haltbar.
Jetzt, nachdem wir eine tragende Säule entfernt haben, schauen wir uns das zentrale Stützelement an. Um den Denkfehler im Sayschen Theorem zu erkennen, müssen wir die gerade gefundene Lösung etwas Ausdifferenzieren. Die meisten Budgets zeigen ein relativ klar erkennbares Muster. Es gibt Budgets, die das meiste Geld von der Anbieterseite in Form von Lohn empfangen und einen großen Teil für Konsumgüter ausgeben und es gibt andere Budgets, die ihre Einnahmen aus Verkäufen generieren und für Lohn und Produktion ausgeben. Daraus entsteht eine Budgetstruktur mit klar identifizierbaren Mustern: Die meisten Budgets lassen sich nahezu eindeutig der Anbieter- oder der Nachfrageseite zuordnen. Daher unterscheiden sich Budgets sowohl in ihren ökonomischen Eigenschaften, indem sie zum Beispiel eine individuelle Nachfragewirkung haben, als auch in ihren Beziehungen untereinander, die auf Gewohnheiten oder Zufälligkeiten basieren können, zunehmend jedoch vertraglich fixiert werden und den saldenmechanischen Effekten unterliegen.
Die Aussage des Sayschen Theorems, das Geld für die Nachfrage sei vorhanden, ist logisch richtig. Das investierte Geld, das ein Unternehmen zur Produktion ausgeben musste, verbleibt abzüglich der Kredittilgungen im Umlauf und kann daher die Nachfrage für die produzierten Güter erzeugen. Aber das Saysche Theorem macht keine Aussage darüber, ob das Geld auch zu den Budgets gelangt, die mit hoher Wahrscheinlichkeit Nachfrage generieren. In anderen Worten: Geld allein generiert keine Nachfrage, das Geld muss auch in die Hände derjenigen gelangen, die ein hohes Nachfragebedürfnis haben.
Budgetänderungen haben, je nachdem welches Budget sie konkret betreffen, messbar unterschiedliche Wahrscheinlichkeiten ihrer ökonomischen Wirkung. Da das Saysche Theorem blind für diese Budgetdynamiken ist, scheint es unerheblich zu sein, wohin das Geld fließt. In der Realität gibt es jedoch Budgetpfade, die unterschiedliche Umlaufgeschwindigkeiten des Geldes erzeugen. Ein Pfad kann direkt zu einem hortenden Konto oder einem Auslandskonto führen und so keinerlei Binnennachfrage generieren, ein anderer Pfad führt durch zahlreiche realwirtschaftliche Anbieter- und Nachfragekonten und ist somit am realwirtschaftlichen Wachstum beteiligt. Die Aussage des Sayschen Theorems, dass das Geld für die Nachfrage aufgrund der Ausgaben für die Angebotsproduktion vorhanden sei, bleibt richtig, dass Geld an sich jedoch zwingend zu einer tatsächlichen Nachfrage führt, ist falsch.
Worin liegen nun genau die Unterschiede in der neo-klassischen und der budgetbasierten Betrachtungsweisen der Nachfrage? Am besten lässt sich das zeigen, in dem wir ein abstraktes Beispiel konstruieren. Wir haben die Geldmenge 1 und einen einzigen Markt mit einem einzigen Produkt, vielen Anbietern und zahlreichen Kunden. Die y-Achse erfasst einen hypothetischen Marktumsatz. Auf der linken Seite des Schaubildes befindet sich bei x = -1 sämtliches Geld bei den Kunden, bei x = 0 verfügen beide Seiten je über die Hälfte der Geldmenge und auf der rechten Seite bei x = 1 ist sämtliches Geld bei den Anbietern. Die blaue Gerade zeigt die Perspektive der klassischen Ökonomie. Wenn sich die Bedingungen der Angebotsseite durch ständige Budgetvergrößerung verbessern, werden diese in Form von Investitionen zu einer Steigerung der Angebotsmenge führen. Eine Rolle der Nachfragebudgets wird in dieser Phase negiert.
Im ersten, hellen Abschnitt überlagern sich beide Kurven. Die rote Kurve zeigt sich erst, wenn aufgrund der Kürzungen der Nachfragebudgets beginnen sich die Präferenzen zu ändern. Bereits weit vor dem Erreichen einer Budgetrestriktion sinkt die Kaufbereitschaft deutlich.
Die allgemeinen Gleichgewichtsmodelle der klassischen Ökonomie gesteht den Budgets nur eine nachgeordnete Funktion zu. Es führt dazu, dass sie wie bei einem Monopoly Spiel nur eine Game-Over-Situation kennen, wenn die Budgets bei Null sind. Selbst kurz vor diesem Game Over soll sich die Wirtschaft in einem Pareto-Optimum befinden. Ist das wirklich so oder ist nicht vielmehr gerade das Dach des Theoriengebäudes eingestürzt? Sowohl die Angebotsmenge als auch die Nachfrage sind in einer modernen Wirtschaft Einflüssen zahlreicher Faktoren unterworfen, welche wie im Fall der Verteilung des Geldes mit beiden Seiten interagieren können. Die angebotstheoretische Annahme, für das wirtschaftliche Optimum müsse nur die maximale Angebotsmenge produziert werden, ist daher offensichtlich falsch.
Es gibt noch einen weiteren Grund, welcher die Bausubstanz in ihren Grundfesten angreift. Nach der klassischen Ökonomie besteht zwischen den Gütern kein qualitativer Unterschied. Es gab bisher mehrere Ölpreisschocks, aber es gab noch keinen Segelyachtenschock und es wird ihn auch nicht geben. Für klassische Modelle verhalten sich beide Güter gleich, betrachtet man die Auswirkung aus der Sicht einer Budgetstruktur, wird der ökonomisch entscheidende Unterschied sichtbar: Von Ölpreisänderungen sind derzeit nahezu alle Budgets betroffen, von Änderungen des Segelyachtenpreis hingegen nur wenige.
Ein weiterer Faktor der Instabilität ist der zentrale Preisvektor, den allgemeine Gleichgewichtsmodelle zwingend benötigen. Er spannt einen makellosen und vollkommen unverzerrten Raum auf, in dem Güter leicht ihre optimale Allokation finden können. Doch in der aktuellen Krise zeigte sich, als die Notenbanken ihre Geldschleusen mehrfach öffnen mussten, dass die Aktienmärkte stets sofort und heftig ausschlugen, während die Realgütermärkte verzögert bis gar nicht reagierten. Der Preisraum, in dem die Budgetstrukturen eingebettet sind, scheint vielmehr Verzerrungen zu unterliegen, indem Ungleichgewichte in der Verteilung des Geldes auf den Gleichgewichtspreis einwirken. Nur Märkte, deren Gewichte sich aufgrund der Notenbankmaßnahmen verschieben, reagieren mit Preissignalen, während davon unbeeinflusste Märkte keine zeigen. Ein weiteres Indiz sind die unterschiedlichen Preisniveaus, wie es sie zum Beispiel zwischen Stadt und Land gibt. Die Existenz der Preiverzerrungen lässt den zentralen Preisvektor zur Illusion werden. In diesem Fall gäbe es marktspezifische, im Grunde sogar nur transaktionsspezifische Preisvektoren.
Märkte handeln individuelle Güter, haben einen eigenen Preisvektor, basieren auf einer komplexen Budgetstruktur und verfügen somit über einzigartige ökonomische Eigenschaften und Dynamiken. Daher erzeugen Änderungen des Telekomunikationsmarktes völlig andere ökonomische Effekte als es ein Taschentüchermarkt je könnte. Ein einfaches Aggregieren über alle Partialmärkte hinweg lässt jedoch diese wichtigen ökonomischen Informationen unmerklich verschwinden, indem sämtliche marktspezifischen Änderungen proportional gewichtet werden. Aus diesem wissenschaftlich unsauberen Schritt entsteht die Illusion einer leicht beherrschbaren Welt der Wirtschaft, die auf einer überschaubaren Anzahl von Gesetzmäßigkeiten basiert und deren Krisen mit klassischen Patentrezepten geheilt werden kann.
Die Illusions-Pyramide der klassischen Ökonomie:
- Das Nicht-Wirtschaften basiert auf einer Sättigung eines rationalen Nutzenbedürfnisses.
[Illusion des abnehmenden Grenznutzens] - Die Verteilung des Geldes hat keinen Einfluss auf die relativen Preise. [Illusion der Geldneutralität]
- Angebot und Nachfrage sind voneinander unabhängige Faktoren.
[Illusion des Sayschen Theorems] - Zwischen Partialmärkten bestehen keinerlei qualitative Unterschiede, sie verhalten sich daher grundsätzlich gleich. Liberalisierung des Marktes hilft gegen jede Krise.
[Illusion der allgemeinen Gleichgewichtsmodelle] - Eine angebotsorientierte Wirtschaftspolitik gewährleistet das wirtschaftliche Optimum.
[Illusion des Pareto-Optimums]
Die wesentliche Wirkungsebene der Wirtschaft sind Märkte mit ihren individuellen Eigenschaften und Dynamiken. Die klassische Ökonomie lässt sie hinter einem Schleier abstrakter Kennzahlen verschwinden, welche entscheidende Strukturinformationen der Wirkungsebene verloren haben. Das ist, als ob ich den Brandschutz anhand der Gebäudefassade überprüfen will. Das Urteil kann nur auf nicht ursächliche Faktoren beruhen, da die relevanten verborgen bleiben. Halte ich ein Gebäude nur wegen seiner beeindruckenden Fassade für unbedenklich, kann ich aufgrund dieser Illusion sehr leicht ein Fehlurteil fällen.
Diese Wirkebene liegt zwischen der Mikroökonomie, die Unternehmen betrachtet, und der Makroökonimie, die auf abstrakten volkswirtschaftlichen Aggregate basiert. Beide Sichtweisen sind je auf ihre Weise blind für das tatsächliche ökonomische Geschehen. Dadurch haben die derzeitigen Modelle aufgrund der Ausdifferenzierung der Moderne und insbesondere bei Nachfragekrisen ihre Aussagekraft verloren.
Wenn ausser der Angebotsmaximierung noch weitere Faktoren das Pareto-Optimum beeinflussen, verliert die angebotsorientierte Ökonomie ihren Status als wohlstandsfördernde Alternativlosigkeit. In der Theorie habe ich einige kritische Thesen formuliert, die empririsch überprüft werden müssten. Das ist jedoch nicht notwenig, denn die beiden Weltwirtschaftskrisen können als unglaublich überteuerte Studien betrachten werden, die den eindeutigen und mehrmaligen Beweis liefern, dass Nachfragekrisen existieren. Die angebotsorientierten Modelle der Ökonomie, die einen solchen Fall ausschließen, sind somit realempirisch widerlegt.
Das Theoriegebäude der klassischen Ökonomie ist zu großen Teilen eingestürzt – jedoch nicht in Gänze. Einige Teile bleiben bestehen, da nur der Geltungsbereich der Modelle zurecht gestutzt wurde. Historisch betrachtet beschreibt die klassische Ökonomie den wirtschaftlichen Spezialfall, wie er vor der Moderne herrschte, als es noch eine einfache, überwiegend auf Landwirtschaft basierende Ökonomie gab, die den herrschenden Mangel verwalten musste. Die damals recht einfache Budgetstruktur entsprach im Wesentlichen denen der volkwswirtschaftlichen Sektorsalden, so dass die aggregierten Kennzahlen der strukturellen Realität entsprachen und sie keinen nennenswerten Informationsverlust verursachten. Die angebotstheoretische Wirtschaftspolitik funktionierte – damals.
Auch heute können sie noch gute Näherungen für moderne Partialmärkte sein. Bevor man sie jedoch anwenden kann, muss zuerst überprüft werden, ob die Voraussetzung ihrer Anwendung vorhanden ist. In der heutigen Konsumgesellschaft mit ihren ausdifferenzierten und hochkomplexen Strukturen und ihren eigentümlichen Dynamiken sind die Grundannahmen der klassischen Ökonomie gerade in Krisenzeiten eine Ausnahmeerscheinung. Eine vernünftige Wirtschaftspolitik allein auf klassischen Modellen und Methoden ist für eine moderne Ökonomie nicht möglich, denn sie verhindern weder Krisen noch findet sie zur notwendigen Stabilität der Wirtschaft zurück. Die beste Ökonomie kann nicht jede Krise verhindern, aber eine Weltwirtschaftskrise wie 2007 darf nicht mehr möglich sein. Die Krisenbewältigung muss daher über das Niveau klassischer Patentrezepte hinauswachsen und insbesondere in der Krisenanalyse deutlich verbessert werden. Dies alles ist nur zu leisten, wenn die angebotsorientierte Ökonomie ihren Status als wirtschaftliches Dogma verliert und die Ökonomie von der hieraus resultierenden Blindheit für Nachfrageeffekte kuriert wird.
Die Überzeugung, allein die angebotsorientierte Ökonomie könne für das wirtschaftliche Wohl aller sorgen, ist eine Illusion, für die wir teuer bezahlen mussten und noch immer teuer bezahlen. Wenn wir uns diese unsinnigen Kosten ersparen wollen, verbleibt nur der alternativlose Weg, den riesigen Trümmerhaufen der neo-klassischen Ökonomie beiseite zu räumen und beherzt mit dem Bau einer modernen Ökonomie zu beginnen.
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