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Das sagt die Autorin des Artikels, Nina Schlotz über sich:
Ich heiße Nina Schlotz, bin promovierte Biologin und arbeite momentan als Postdoc an der Uniklinik Freiburg und taste mich langsam an verschiedene Formen der Wissenschaftskommunikation heran.
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Kohl & The Gang
Genau wie Birkenstock-Latschen und Stricken ist auch der Kohl seiner muffigen Oma-Öko-Ecke entflohen und hat sich ein neues, cooles Image zugelegt. In Form von grünen Smoothies und Kale Chips ist er wieder in aller Munde. Rohkostfans und Hipster finden ihn fresh, exciting. Was ist dran am Hype um das Superfood?
Immer wieder werden vermeintliche Wundergewächse „entdeckt“ und als Superfood, die überdurchschnittlich viele sekundäre Pflanzenstoffe, Vitamine oder Mineralien enthalten, vermarktet. Neben den schillernden Vertretern wie der Açai-Beere, Graviola-Frucht oder Chia-Saat gibt es auch heimische Gewächse, die dieses Prädikat verdienen. Kohl, das heißt Pflanzen, die zur Gattung Brassica gehören, und ihre weitere Verwandschaft (Ordnung Brassicales) sind schon eine ganze Weile für ihre gesundheitsfördernde Wirkung bekannt.
So hat schon Hippokrates sein erstes Krankenhaus nur deshalb in der Nähe eines Baches errichtet, damit er stets frische Brunnenkresse ernten konnte. Das war mehr als 400 Jahre v. Chr. Auch Paracelsus empfahl diese seinen Patienten. Albertus Magnus (1200-1280) war ebenfalls von den Heilkräften des Kohl überzeugt. Nur Hildegard von Bingen war keine Freundin von Kohl, den sie als „Küchengift“ bezeichnete. Wer weiß, vielleicht war sie besonders vom Phänomen des „Laubfresserbauches“ geplagt, den die meisten nach einer Mahlzeit mit Kohlgemüse schon mal selbst erlebt haben dürften. Oder sie besaß eine ungünstige Variante des Bitterrezeptors. Aber das ist eine andere Geschichte (https://www.philly.com/philly/blogs/evolution/Why-we-hate-broccoli.html).
Tatsächlich gibt es heutzutage wissenschafliche Belge dafür, das Kohl & Co. gesund sind. Wie so oft kommt es auf die inneren Werte an, die Inhaltstoffe, die alle Brassicales-Angehörigen einen: die Senfölglykoside oder Glukosinolate.
Für die Pflanze sind sie Schwefelliferant und Fraßschutz. Knabbert eine Raupe an den Kohlblättern, werden Senföle (Isothiocyanate) frei. Dies geschieht erst bei Bedarf, da das Enzym Myrosinase, dass für diesen Abbau zuständig ist, getrennt von den Glukosinolaten in der Pflanzenzelle gelagert wird. Erst wenn das Gewebes zerstört wird, kommen sie zusammen und die Isothiocyanate entstehen. Wer dieses Phänomen live erleben will, muss nur in ein Radieschen beißen.
Der typisch scharfe oder auch bittere Kohlgeschmack beruht also auf dem Vorhandensein von Isothiocyanaten. Und nicht nur der. Der Konsum von Brassica-Gemüsen ist umgekehrt mit dem Krebsrisiko verknüpft. Mehr Kohl, weniger Krebs. Naja, nicht ganz so einfach. Aber eine schützende Wirkung wurde schon mehrfach aufgedeckt und zu einem Großteil ebenfalls den Isothiocyanaten zugschrieben. Am besten untersucht ist Sulphoraphan, dass aus Glucoraphanin entsteht und zum Beispiel im Brokkoli vorkommt, aber auch Allylisothiocyanat, das Abbauprodukt von Sinigrin und verantwortlich für den scharfen Geschmack in Senf und Meerrettich, hat schon sein Potential zur Prävention unter Beweis gestellt.
Prävention? Das ist der Versuch durch Vorsoge etwas Unerwünschtes zu verhindern. Wie vorbeugender Brandschutz. Oder eben Krebsprävention. Ich könnte jetzt aufzählen, dass Inhaltsstoffe des Brokkoli in verschiedene Phasen der Krebsentstehung eingreifen können, also „Multi-Target-Wirkung“ besitzen. Dass diese Erkenntnisse in Laborversuchen gewonnen wurden. Dass mittlerweile erste klinische Phase-II-Studien dieses krebspräventive Potential am Menschen untersuchen. Es gibt aber auch Projekte, die sich angewandt mit Prävention durch Ernährung in Entwicklungsländern beschäftigen. Wo Infrastruktur und finanzielle Mittel für eine optimale Behandlung fehlen, sind vorbeugende Maßnahmen essentiell.
Aus sehr persönlichen Gründen hier ein Beispiel aus Kenia. Zum einen habe ich dort vor einigen Jahren selbst für sechs Monate gelebt und gearbeitet. Zum anderen bin ich momentan beruflich in ein großes Verbundprojekt (www.hortinlea.org) involviert, dass sich unter anderem mit dort heimischen Blattgemüsen und deren präventivem Potential beschäftigt. Wozu? In ganz Ostafrika sind die Leberkrebsraten hoch. Dies liegt zum einen daran, dass Hepatitis C-Infektionen verbreitet sind. Zum anderen befallen Schimmelpilze Getreide und Mais, Bohnen, Nüsse und andere Grundnahrungsmittel hier besonders häufig. Daher ist die Bevölkerung oft hohen, unkontrollierten Mengen von Schimmelpilzgiften ausgesetzt. Als Folge kann akut besonders bei Kindern eine sogenannte Aflatoxikose auftreten. Das größte Problem aber ist, dass die Schimmelpilzgifte toxisch für die Leber sind und wiederrum zum gehäuften Auftreten von Leberkrebs beitragen. Wenn man nun eben hier dafür sorgt, dass vermehrt Blattgemüse mit schützenden Eigenschaften angebaut und gegessen werden, könnte dies nicht nur zur Ernährungssicherung, sondern auch zur Gesunderhaltung der dortigen Bevölkerung beitragen.
Und hier bei uns? Auch die größten Kohlmuffel vermögen das „noch eine Gabel, das ist gesund!“ unserer Mütter nicht wegzudiskutieren. Neben den Senfölglykosiden enthalten Kohlgemüse auch Polyphenole, Carotenoide, Balaststoffe, Vitamine und Mineralstoffe. Außerdem wichtig wenn man kein jugendlicher Schnellverbrenner mehr ist: sie sind kalorienarm. In der Praxis gilt es Folgendes zu beachten.Ihr erinnert euch an die Myrosinase? Das Enzym, das die gesunden Isothiocyanate bildet? Sie ist hitzeempfindlich und mag es eher lau. Bei Temperaturen über 80 °C arbeitet sie nicht mehr und wird zerstört. Schlecht: langes Kochen wie früher bei Oma. Gut: ein bis drei Minuten dampfgaren im fancy Küchengerät. Die Menge der in den Pflanzen enthaltenen Glukosinolate kann stark schwanken, je nach Anzucht und Erntezeitpunkt. Schlecht: Gemüse, das in fernen Ländern unreif geerntet oder in Gewächshäusern auf möglichst schnelles Wachstum getrimmt wird. Gut: Freilandgemüse vom regionalen Bauern, dann, wenn es halt wächst. Wochenmarkt ist ja eh wieder in.
Und wer sich immer noch unsicher ist, ob er dem Kohl trotz Fraßschutz noch eine Chance gibt, sollte sich überlegen, zu welcher Gruppe von Leuten er gehören möchte. George H. W. Bush mag keinen Brokkoli, ebenso sein Sohnemann. Die Obamas hingegen antworten auf die frage nach ihrem Lieblingsessen – genau – Brokkoli! Noch Fragen?
Literatur – ein winziger Auszug:
Bingham S, Riboli E (2004). Diet and cancer – the European Prospective Investigation into Cancer and Nutrition. Nat Rev Cancer 4, 206–215.
Verkerk R, Schreiner M, Krumbein A et al. Glucosinolates in Brassica vegetables: the influence of the food supply chain on intake, bioavailability and human health. Mol Nutr Food Res 2009; 53: p 219
Wattenberg LW, Hanley AB, Barany G, Sparrins VL, Lam LKT, Fenwick GR (1986). Inhibition of carcinogenesis by some minor dietary constituents. In: Hayashi Y (ed). Diet, Nutrition and Cancer, pp 193–203. Japan Scientific Society Press: Tokyo.
Verhoeven DT, Verhagen H, Goldbohm RA, van den Brandt PA, van Poppel G (1997). A review of mechanisms underlying anticarcinogenicity by brassica vegetables. Chem Biol Interact 103, 79–129.
Lamy E, Garcia-Käufer M, Prinzhorn J, Mersch-Sundermann, V. (2012). Antigenotoxic action of isothiocyanate-containing mustard as determined by two cancer biomarkers in a human intervention trial. European Journal of Cancer Prevention 21, p 400–406
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