Was tut man, wenn man nicht genug Informationen hat, um zwischen mehreren möglichen Erklärungen eine vernünftige Wahl zu treffen. Man kann raten. Oder man kann sich an “Ockhams Rasiermesser” halten – ein Prinzip das aus dem Werk eines mittelalterlichen Theologen stammt aber auch in der modernen Wissenschaft erstaunlich nützlich ist.
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Transkription
Sternengeschichten Folge 210: Ockhams Rasiermesser
Die Astronomie ist selbstverständlich eine echte Naturwissenschaft und arbeitet genau mit den gleichen Methoden wie die Physik, Biologie, Chemie und die anderen Disziplinen. Einen Unterschied gibt es allerdings doch: Die Forschungsobjekte der Astronomie sind im allgemeinen enorm weit weg. So weit weg, dass eine direkte Interaktion unmöglich ist. Die Astronomen können also auch nicht immer auf einem direkten Weg zu Erkenntnissen gelangen. So gut wie immer ist alles was sie für ihre Arbeit zur Verfügung haben ein wenig Licht, das von den weit entfernten Planeten, Sternen oder Galaxien die Erde erreicht hat. Im Laufe der Zeit haben sie daher sehr spezielle und sehr ausgeklügelte Methoden entwickelt, um aus dem bisschen Licht auch noch die letzten Informationen extrahieren zu können.
Manchmal aber stößt die Astronomie – so wie auch alle anderen Wissenschaften – an ihre Grenzen. Manchmal hat man einfach nicht genug Informationen, um eine Frage konkret beantworten zu können. Wenn die Beobachtungsdaten und die Ergebnisse von Experimenten und Simulationen nicht eindeutig sind, dann muss man das erst einmal einfach zur Kenntnis nehmen und sich Wege überlegen, an mehr Daten zu kommen. Aber natürlich sind Wissenschaftler mindestens genau so neugierig wie der Rest der Menschen. Sie wollen gerne Bescheid wissen, auch wenn das eigentlich mangels Informationen nicht geht. Dann wird spekuliert; man lässt die Fantasie spielen und denkt ins Blaue hinein.
Das ist wichtig, denn nur durch diesen kreativen Prozess können neue Ideen gefunden werden. Man muss aber natürlich darauf achten, die Spekulation immer auch als solche zu bezeichnen. Zwischen Fantasie und harten Daten gibt es aber noch einen Mittelweg; etwas, das man “Heuristik” nennt. So bezeichnet man ein Vorgehen, das es erlaubt aus begrenztem Wissen trotz allem Aussagen abzuleiten, die praktikabel oder wenn schon nicht absolut sicher doch wenigstens wahrscheinlich sind. Zu den bekanntesten heuristischen Prinzipien die in der Wissenschaft angewandt werden, gehört Ockhams Rasiermesser.
Damit ist kein echtes Rasiermesser gemeint; die ganze Angelegenheit hat nichts mit der Bartpflege zu tun. Es geht viel mehr um Sparsamkeit bei der Bildung von Hypothesen und Theorien. Ein Beispiel: Stellen wir uns vor, wir kommen morgens aus unserem Haus und gehen zum Parkplatz. Dort steht unser Auto und als wir einsteigen wollen, sehen wir auf der Autotür einen hässlichen Kratzer der am Tag davor nicht vorhanden war. Es muss als ein Ereignis stattgefunden haben, durch das dieser Kratzer verursacht worden ist. Wir haben nicht genügend Informationen um mit Sicherheit sagen zu können, was für ein Ereignis das war. Aber wir können probieren, eine Hypothese aufzustellen.
Es könnte zum Beispiel sein, dass der Kratzer durch den Fahrer des Autos verursacht wurde, der neben uns geparkt hat. Vielleicht hat er oder sie beim Ein- oder Ausparken nicht aufgepasst und unser Auto ein wenig gerammt. Oder zu nahe an unserem Auto geparkt und mit seiner Tür unsere Tür beschädigt.
Vielleicht war es aber auch anders. Vielleicht ist in der Nacht ein UFO auf dem Parkplatz gelandet. Außerirdische Lebewesen sind ausgestiegen, haben die Umgebung untersucht und mit ihren Forschungsinstrumenten unser Auto beschädigt beziehungsweise vielleicht auch absichtlich eine Probe des Lackes genommen um sie zu untersuchen.
Beide Hypothesen sind mögliche Erklärungen für das Ereignis. Es gibt keine prinzipiellen Gründe, die gegen die Existenz außerirdischer Lebewesen sprechen. Leben ist hier auf unserer Erde entstanden und nichts was wir über das Universum wissen lässt uns zu dem Schluss kommen, dass der gleiche Prozesse anderswo nicht auch stattfinden kann. Ebenso spricht nichts prinzipiell gegen das Reisen zwischen den Sternen. Es ist also nicht unmöglich, dass außerirdische Lebewesen der Erde einen Besuch abstatten.
Trotzdem wäre es natürlich ein wenig seltsam, wenn wir beide von uns aufgestellten Hypothesen für gleich wahrscheinlich halten! Nur weil wir nicht wissen was wirklich passiert ist und beide Hypothesen prinzipiell möglich sind, folgt daraus nicht, dass die eine so wahrscheinlich ist wie die andere. Genau hier kann nun Ockhams Rasiermesser eine wichtige Rolle spielen. Dieses heuristische Prinzip wird auch das Sparsamkeitsprinzip genannt und genau darum geht es!
Von mehreren möglichen Hypothesen die einen Sachverhalt erklären können, sollte man diejenigen vorziehen, die einfacher ist. Man muss allerdings aufpassen, was man in diesem Zusammenhang unter dem Wort “einfach” versteht. Es geht nicht darum, ob die Hypothese einfach zu verstehen ist oder einfach zu formulieren. Es kommt nicht darauf an, welche Hypothese in weniger Worten beschrieben werden kann oder weniger logische Schritte benötigt. Es geht nicht um das, was durch die Hypothese beschrieben wird. Sondern viel mehr um die Frage: Wie viele zusätzliche Annahmen werden benötigt, damit die Hypothese funktioniert.
Bei unserem ersten Erklärungsversuch sind das sehr wenige bzw. fast keine. Da unser Auto auf einem Parkplatz steht auf dem auch regelmäßig viele andere Autos parken, können wir davon ausgehen, das irgendein anderes Auto auch neben unserem Fahrzeug gestanden ist. Wir wissen außerdem, dass die Beschädingung eines Fahrzeugs beim Ein- oder Ausparken keine außergewöhnliche Sache ist, sondern etwas was immer wieder überall auf der Welt vorkommt; in der Vergangenheit schon unzählige Male vorgekommen ist. Die Erklärung unsers Kratzers als Parkschaden benötigt daher eigentlich keine zusätzliche Annahmen; es gibt nichts, was über diese Hypothese hinaus erklärt werden muss.
Anders sieht es beim zweiten Beispiel aus. Klar, Aliens könnte es geben. Wir haben bis jetzt aber noch keinerlei Hinweise entdeckt, die das auch bestätigen. Wir müssen zuerst einmal voraussetzen, dass es irgendwo da draußen bei einem anderen Stern einen Planeten gibt, auf dem Leben existieren kann. Das ist nicht unwahrscheinlich, aber da wir noch keinen solchen Planeten entdeckt haben selbst eine Hypothese, die noch auf eine Bestätigung wartet. Dann müssen wir davon ausgehen, das auf diesem Planeten intelligentes Leben entstanden ist. Auch das ist möglich, aber auch hier wissen wir nicht, ob so etwas tatsächlich irgendwo schon einmal passiert ist. Dieses Leben muss dann noch einen Weg gefunden haben, die enormen Distanzen zwischen den Sternen zurück legen zu können. Sie müssen auf der Erde gelandet sein; müssen unser Auto beschädigt haben und dann wieder verschwunden sein und zwar ohne dass davon irgendjemand irgendetwas bemerkt hat. Es braucht also viele zusätzliche Annahmen, damit unsere Alien-Hypothese funktioniert. Und das Sparsamkeitsprinzip rät uns in diesem Fall, diese Hypothese zu verwerfen und stattdessen diejenige zu benutzen die einfacher ist…
Ockhams Rasiermesser wurde übrigens nach William von Ockham benannt, einem Franziskanermönch der im mitttelalterlichen England des 13. und 14. Jahrhunderts lebte. So ganz direkt hat er das nach ihm benannte Prinzip allerdings nie formuliert; in seinen Schriften findet man es jedenfalls nicht. Am nächsten kommt dem noch der Satz: “Vielfalt sollte nie ohne Notwendigkeit postuliert werden” den William in einer theologischen Arbeit verwendet hat. Die Aussage “Wesenheiten dürfen nicht über das Notwendige hinaus vermehrt werden”, die Ockham oft zugeschrieben wird, wurde erst im 17. Jahrhundert vom Philosophen Johannes Clauberg formuliert. Und als “Ockhams Rasiermesser” wurde es erst im 19. Jahrhundert vom britischen Mathematiker William Rowan Hamilton bezeichnet um zu beschreiben, dass man mit dem Sparsamkeitsprinzip alle unnötigen Hypothesen wie mit einem scharfen Messer einfach entfernen kann.
Die Idee dahinter reicht allerdings schon weiter zurück als das Mittealter. Schon Aristoteles war der Meinung, dass man die einfachsten Erklärungen bevorzugen würde. Und seit damals ist dieses heuristische Prinzip in vielen Variationen aufgetaucht und hat in vielen Bereichen eine wichtige Rolle gespielt. Früher wurde es beispielsweise oft dazu verwendet, die Existenz Gottes zu rechtfertigen und wird auch heute manchmal noch dazu eingesetzt. Denn natürlich kann man überall die Hypothese “Gott war es” als Erklärung anbieten. Auch der Kratzer im Auto unseres vorherigen Beispiels könnte ja ein Werk Gottes sein. “Gott” ist in gewisser Sicht natürlich eine einfach Erklärung. Bei genauerer Betrachtung allerdings nicht. Denn die Hypothese “Gott” ist bei weitem nicht sparsam; sie ist eher das Gegenteil von Sparsamkeit. Natürlich kann ein allmächtiges und allwissendes Wesen tatsächlich für alles verantwortlich sein, für das wir keine Erklärung haben. Aber damit das ganze als echte Hypothese funktioniert, muss man auch erklären können, wo und wie dieses allmächtige und allwissende Wesen herkommt; was es motiviert und wie es funktioniert. “Gott” als Erklärung zieht also unweigerlich einen ganzen Rattenschwanz an weiteren offenen Fragen nach sich, die einer Erklärung bedürfen und ist weit davon entfernt, die einfachste Hypothese im Sinne des Sparsamkeitsprinzipes zu sein.
Ockhams Rasiermesser ist ein wichtiges Prinzip, aber wenn man damit arbeitet muss man sich seiner Grenzen immer bewusst sein. Wenn man damit eine Wahl unter mehreren Hypothesen treffen will, muss man darauf achten, dass sie das zu erklärende Phänomen auch wirklich gleich gut erklären. Um die Bewegung der Himmelskörper zu erklären, können wir beispielsweise sowohl die klassische Newtonsche Mechanik benutzen als auch die Relativitätstheorie von Albert Einstein. Einsteins Theorie ist aber bei der Erklärung immer wesentlich genauer; die Ergebnisse der Relativitätstheorie stimmen immer besser mit den Beobachtungsdaten überein als die von Newtons Gravitationstheorie. Einsteins Theorie mag zwar deutlich komplexer sein, ist aber in diesem Fall der Newtonschen Theorie vorzuziehen.
Und schließlich darf man auch nie vergessen, dass es bei Ockhams Rasiermesser immer nur um eine Heuristik geht. Das Prinzip hilft einem plausible Entscheidungen zu treffen, wenn man ansonsten keine anderen Informationen hat anhand deren man entscheiden kann. Aber nur weil man die Informationen nicht hat, heißt das nicht, dass sie nicht existieren. Wir haben sie vielleicht einfach nur noch nicht. Und hätten wir sie, dann würde sich vielleicht eine Erklärung die wir jetzt dank Ockham als “zu wenig einfach” verworfen haben doch als die einfachere herausstellen.
Wenn wir uns nun, um wieder auf das Beispiel mit dem Auto zurück zu kommen, tatsächlich dafür entschieden haben, dass es höchstwahrscheinlich keine Aliens waren die unsere Tür zerkratzt haben sondern vermutlich unser Nachbar beim Ausparken, sollten wir eine moderne Variation von Ockhams Rasiermesser ebenfalls immer berücksichtigen. Bevor wir wütend überlegen, warum der Nachbar uns etwas so Böses angetan hat und über Rache nachdenken, sollten wir uns an “Hanlons Rasiermesser” erinnern, ein Prinzip das aus dem Werk des Science-Fiction-Autors Robert Heinlein stammt: “„Gehe niemals von Böswilligkeit aus, wenn Dummheit als Erklärung ausreichend ist.”
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