Zwei Sterne und ein Planet bilden eine auf den ersten Blick sehr absurde Konfiguration: Ein “Sitnikov-System”. Und obwohl das Ganze so absurd ist, ist es für die Astronomie enorm wichtig. Denn in der Bewegung dieses Planeten findet man die komplette Komplexität regulärer und chaotischer Bewegungen. Es ist ein ideales Studienobjekt zur Untersuchung der Stabilität von Planetensystemen.
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Sternengeschichten Folge 212: Das Sitnikov-Problem
Die meisten Sterne sind nicht alleine, sondern Teil eines Doppel- oder Mehrfachsternsystems, wie ich schon in Folge 58 der Sternengeschichten erklärt habe. Solche Sternsysteme können auch Planeten haben: Wir kennen mittlerweile einige Doppelsterne, bei denen ein Planet um beide beziehungsweise einen der beiden Sternen kreist. Mehrere Sterne und Planeten die zusammen ein stabiles System bilden findet man in unserer Milchstraße häufig genug. Aber etwas wird man mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht finden: Ein Sitnikov-System.
1961 hat sich der russische Mathematiker Kirill Alexandrowitsch Sitnikov Gedanken über das Dreikörperproblem gemacht. Was das ist, habe ich schon in Folge 175 der Sternengeschichten erklärt: Man will dabei verstehen, wie sich drei Himmelskörper unter ihrem gegenseitig aufeinander ausgeübten Gravitationseinfluss bewegen. Zum Beispiel Sonne, Erde und Mond: Jeder dieser drei Himmelskörper übt eine Gravitationskraft auf alle anderen Himmelskörper aus und diese Kraft bestimmt, wie sich Sonne, Erde und Mond umeinander bewegen. Die mathematischen Gleichungen mit denen man diese Bewegung berechnen kann, sind zwar kompliziert aber sie lassen sich auch leicht aufstellen. Im Prinzip weiß man schon seit der grundlegenden Arbeit von Isaac Newton im 17. Jahrhundert, wie man so etwas macht.
Was viel schwieriger ist, ist eine Lösung für diese Gleichungen zu finden. Genaugenommen ist es nicht nur schwierig, es ist sogar unmöglich! Ende des 19. Jahrhunderts hat der französische Mathematiker Henri Poincaré bewiesen, dass man die Gleichungen des Dreikörperproblems nicht mathematisch exakt lösen kann. Das heißt aber nicht, dass man überhaupt nichts über die Bewegung von Sternen und Planeten aussagen kann. Die Gleichungen lassen sich zwar nicht exakt lösen, aber dafür näherungsweise und diese Näherungen kann man im Prinzip fast beliebig genau machen. So genau immerhin, dass wir mit ihrer Hilfe Raumsonden durch das Sonnensystem steuern und zielgenau auf anderen Himmelskörpern landen lassen können.
Die näherungsweise Lösung ist aber nur eine Möglichkeit, sich der Frage des Dreikörperproblems zu widmen. Es gibt noch eine andere Taktik: Man kann auch anstatt dem kompletten Dreikörperproblem verschiedene eingeschränkte und vereinfachte Spezialfälle betrachten. Und genau ein solcher Spezialfall ist das Sitnikov-Problem!
Hier kreisen nicht irgendwelche Himmelskörper umeinander, sondern zwei Sterne und ein Planet. Der erste, der sich mit solchen Systemen befasst hat, war der amerikanische Mathematiker William MacMillan. Er stellte sich zwei Sterne mit gleicher Masse vor, die einander umkreisen und zwar auf kreisförmigen Umlaufbahnen. Da beide Sterne gleich schwer sind, umkreist nicht der eine den anderen sondern beide bewegen sich gemeinsam um einen zwischen ihnen im Weltraum liegenden Punkt; dem sogenannten Massenschwerpunkt. Der dritte Himmelskörper in diesem System ein Planet. Allerdings ein sehr spezieller Planet! Anstatt sich um die Sterne herum zu bewegen, bewegt sich er sich entlang einer senkrecht durch den Massenschwerpunkt verlaufenden Linie auf und ab.
Die Umlaufbahnen der beiden Sterne definieren die fundamentale Ebene dieses Systems. Zwischen ihnen liegt der Massenschwerpunkt und durch diesen Punkt verläuft eine Linie, die senkrecht auf die Bahnebene der Sterne steht. MacMillan fand nun heraus, dass sich ein Planet der sich auf genau dieser Linie befindet, diese Linie niemals verlassen wird. Er kann sich nicht in der gleichen Ebene bewegen wie die beiden Sterne sondern ausschließlich entlang der senkrecht auf die Ebene stehenden Linie.
Die Sterne kreisen also umeinander und zwischen ihnen pendelt der Planet auf und ab. Das ist eine ziemlich seltsame Konfiguration für ein Planetensystem, aber sie macht die Sache auf jeden Fall mathematisch einfacher! Denn da der Planet sich nur auf und ab bewegen und nicht beliebig im Raum herum bewegen kann, braucht man auch nur eine Koordinate, um seine aktuelle Position zu beschreiben. Alles was man wissen muss ist ist der Abstand den der Planet gerade zur Bahnebene der Sterne hat. Setzt man dann noch – so wie MacMillan das getan hat – voraus dass die Masse des Planeten so gering ist, dass sie die Bewegung der Sterne nicht beeinflussen kann, wird es noch einfacher. Um die Bewegung der Sterne zu berechnen kann man dann auf die simplen Gesetze zurück greifen, die schon Johannes Kepler Anfang des 17. Jahrhunderts aufgestellt hat. Es ist also möglich, mathematisch exakt zu berechnen, wie sich die Sterne bewegen. Und weiß man dass, kann man auch eine mathematisch exakte Lösung für die Auf-und-Ab-Bewegung des Planeten finden.
MacMillan konnte also zeigen, dass es in der von ihm untersuchten vereinfachten Variante des Dreikörperproblems mathematisch lösbare und vorhersagbare Bewegungszustände des Planeten gibt. Dass die ganze Thematik aber nicht nach ihm benannt wurde, sondern nach dem Russen Sitnikov, hat aber einen Grund.
Denn Sitnikov nahm sich genau diese seltsame Konfiguration aus Stern und Planet in den 1960er Jahren noch einmal vor. Nur wollte er sich nicht an all die Vereinfachungen halten, die MacMillan aufstellte. Er ließ zu, dass sich die Sterne auch auf elliptischen Bahnen umeinander bewegen können und nicht nur auf Kreisen wie MacMillan das tat. Jetzt hatte Sitnikov aber ein Problem: In dieser Konfiguration konnte er die Gleichungen die die Bewegung beschreiben nicht mehr mathematisch exakt lösen.
Das Sitnikov-Problem war genau so chaotisch wie das normale Dreikörperproblem; genau so wenig mathematisch exakt vorhersagbar wie die reale Bewegung der Planeten in unserem Sonnensystem. Das Sitnikov-Problem war aber auf eine äußerst interessante Art und Weise chaotisch. Und genau deswegen wird es auch von Astronomen seit Jahrzehnten untersucht. Natürlich ist allen klar, dass es sich um ein rein theoretisches Modell handelt. In der Realität könnten sich zwei Sterne und ein Planet niemals in der seltsamen Sitnikov-Konfiguration anordnen. Die Art und Weise wie Sterne und Planeten entstehen sorgt dafür, dass sich alle in mehr oder weniger der gleichen Ebene bewegen; dass ein Planet sich senkrecht über der Ebene der Sterne auf und ab bewegt und das noch dazu genau auf einer Linie durch den Massenschwerpunkt kann nicht passieren.
Aber auch wenn es im echten Universum kein Sitnikov-System geben wird, ist es lohnend sich damit zu beschäftigen. Es ist mathematisch viel einfacher zu formulieren und zu untersuchen als ein reales Planetensystem. Und zeigt trotzdem genau das gleiche komplexe und chaotische Verhalten, das wir von den realen Himmelskörpern kennen. Das, was wir im echten Universum nur sehr schwierig untersuchen können, können wir im Modell des Sitnikov-Systems viel einfacher erforschen und analysieren.
Und im Laufe der Zeit gab es da jede Menge sehr interessante Ergebnisse. So wie auch bei echten Planetensystemen gibt es auch im Sitnikov-System chaotische und reguläre Zustände. Je nachdem wie stark die Bahnen der Sterne von einer Kreisbahn abweichen, verändert sich die Bewegung des Planeten. In den regulären Fällen pendelt er regelmäßig wie ein Uhrwerk auf und ab. Im Sitnikov-System kann man ein Jahr als den Zeitraum definieren, den der Planet für eine komplette Auf-und-Ab-Bewegung benötigt. Im regulären Fall ist dieser Zeitraum immer gleich; das Jahr des Planeten dauert immer gleich lang. Es gibt auch noch komplexere reguläre Zustände, in der sich die Dauer eines Jahrs verändert, dabei aber einem sich wiederholenden Muster folgt.
In den chaotischen Zuständen gibt es keine Regelmäßigkeit bei der Dauer eines Jahres. Der Planet pendelt völlig unvorhersehbar auf und ab und es gibt keine Muster oder periodischen Zustände.
Ganz besonders faszinierend ist aber eine Eigenschaft, die der Mathematiker Jürgen Moser 1973 entdeckt hat. Wenn man die Anfangsbedingungen des Sitnikov-Problems, also die Position der Sterne; die Abweichung ihrer Bahnen von der Kreisform, usw, verändert, bekommt man im nicht-regulären Fall immer unterschiedliche chaotische Auf-und-Ab-Bewegungen. So ein chaotischer Zustand lässt sich durch eine Folge von Zahlen beschreiben. Zum Beispiel würde die Folge 2, 7, 17, 1, 45, 3, … bedeuten, dass der Planet zuerst 2 Zeiteinheiten braucht um sich einmal auf und ab zu bewegen; danach 7, dann 17, dann nur eine Zeiteinheit, dann ganze 45 Zeiteinheiten, dann 3 und so weiter. Ein anderer möglicher Zustand wäre die Folge 2,2,2,2,2,4,5,18,56,198, usw. Hier startet der Planet mit einem regelmäßigen Jahresablauf und braucht immer zwei Zeiteinheiten für eine Pendelbewegung, bevor sie auf einmal immer länger wird und sich der Planet immer weiter von den Sternen entfernt, bevor er seine Bewegungsrichtung wieder umkehrt.
Moser konnte nun aber zeigen, das man sich irgendeine beliebige Abfolge von Zahlen ausdenken kann und immer eine Ausgangskonfiguration des Sitnikov-Problems finden wird, bei der der Planet bei seiner Pendelbewegung genau dieser Zahlenfolge folgen wird! Egal also, wie komplex oder seltsam man die Bewegung des Planeten haben möchte: Im Sitnikov-Problem findet man irgendwo genau diese komplexe und seltsame Art der Bewegung.
Genau deshalb ist es für die Astronomie auch so wertvoll. Das Sitnikov-Problem mag zwar seltsam und künstlich sein; mag keine Entsprechung in der Realität haben. Aber es ist mathematisch einfach zu untersuchen und enthält trotzdem die gesamte Komplexität die man bei der Bewegung von Himmelskörpern finden kann!
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