[Dieser Artikel entstammt der Recherche zu meinem Newton-Buch, haben dann aber aus verschiedensten Gründen keinen Platz mehr im fertigen Werk gefunden.]
Der Wecker klingelt. Ich würde eigentlich gerne noch weiterschlafen. Und das könnte ich eigentlich auch tun. Es gibt kein Büro, in dem ich rechtzeitig erscheinen muss; keinen Vorgesetzten, der mich pünktlich am Arbeitsplatz sehen will. Ich bin mein eigener Chef und als Autor kann ich arbeiten wann und wo ich es gerne möchte. Trotzdem will ich nicht zu viel vom Tag verschlafen und greife zur Fernbedienung auf meinem Nachttisch um das Radio einzuschalten. Ich kann ja zumindest noch ein bisschen liegen bleiben, und mir die erst Mal die Nachrichten anhören, bevor ich das warme und gemütliche Bett verlasse. Dass ich das kann, liegt an Isaac Newton. Dem Regenbogen, den er entschlüsselt hat und all den unsichtbaren Farben die seine Nachfolger entdeckt haben.
Newtons Experimente über Licht und Optik waren grandios. Er hat als erster wirklich verstanden, das Sonnenlicht nur eine Mischung aus verschiedenen Farben ist und dass man diese Farben mit entsprechenden optischen Instrumenten sichtbar machen kann. Seine Erkenntnisse haben Auswirkungen auf die Entwicklung der gesamten Naturwissenschaft gehabt und ganz besonders auf die Astronomie. Sie haben dazu geführt, dass ich den Beruf ausüben kann, den ich ausübe. Und sie erlauben es mir, ein weiteres Mal auf die Fernbedienung zu drücken um das Radio auszuschalten. Es wird Zeit für mich, auch langsam mit der Arbeit zu beginnen.
Früher habe ich als Astronom an Universitätssternwarten gearbeitet. Heute bin ich Autor und mein Schreibtisch steht gleich neben meinem Schlafzimmer. Ich hätte aber weder das Universum auf die Art und Weise kennen lernen können wie ich es während meines Studiums und meiner Forschungsarbeit getan habe, noch könnte ich nun an meinem Computer sitzen und darüber schreiben, wenn nicht Isaac Newton probiert hätte, das Licht zu verstehen. Heute ist „Licht“ ein Wort, dass in der Wissenschaft eine klare Bedeutung hat. Zu Newtons Zeit war es genauso geheimnisvoll und unverstanden wie der Rest der Welt. Newton war der erste, der verstand, was es damit auf sich hat. Aber selbst er hätte sich wahrscheinlich nicht vorstellen können, dass seine Entdeckungen irgendwann einmal dazu führen werden, dass Menschen drahtlos über weite Entfernungen miteinander kommunizieren können. Dass ein kleiner schwarzer Kasten neben meinem Bett unsichtbares Licht zu einem etwas größeren schwarzen Kasten ein paar Meter daneben schickt aus dem dann Musik oder Nachrichten zu hören sind die ebenfalls mit unsichtbaren Licht aus weit entfernten Städten dorthin transferiert worden sind. Er wäre noch viel verblüffter gewesen, wenn er gesehen hätte, wie ich das unsichtbare Licht nutze, um mich mit meinem Handy im Internet einzuloggen und die ersten Emails des Tages beantworte. All das hätte sich Newton wohl nie vorstellen können.
Newtons neuer Blick auf das Licht hat uns im wahrsten Sinne des Wortes die Augen geöffnet. Und danach haben wir sie noch einmal geöffnet, und eine ganz neue Welt entdeckt! Dank Newton wusste man, dass Licht nicht einfach nur „Licht“ ist sondern eine Mischung aus verschiedenen Farben. Farben, die man nun untersuchen konnte. Und was Newton noch nicht wusste, aber seine Nachfolger entdeckten: Es gab viel mehr Farben, als Newton oder seine Zeitgenossen sich vorstellen oder mit ihren Augen sehen konnten. Aber die Wissenschaft hatte schon bald gelernt, sich neue und bessere Augen zu konstruieren mit denen diese neuen Farben „gesehen“ werden konnten.
Es sind Farben, die heute überall in unserem Alltag zu sehen sind. Beziehungsweise nicht zu sehen sind (weil unsichtbar). Aber trotzdem vorhanden. Als ich heute morgen faul in meinem Bett lag und mit der Fernbedienung mein Radio eingeschaltet habe, kam Licht aus ihr heraus und traf auf einen entsprechenden Sensor, der das Gerät aktiviert hat. Als sich mein Handy mit dem Internet verband, empfing es Licht von meinem WLAN-Router. Fast immer wenn wir von irgendeiner „drahtlosen“ Verbindung sprechen oder einer „Fernbedienung“, reden wir von einem Phänomen, dessen Grundlage Isaac Newton damals erforscht hat. All die unsichtbare Strahlung, die Signale von einem Punkt zu einem anderen Punkt übermittelt ist nichts anderes als Licht. Licht, das wir mit unseren Augen nicht sehen können.
Newton sah damals bei seinen Experimenten nur den gewohnten Regenbogen, der auf der einen Seite mit den Farben blau und violett beginnt und sich dann über grün und gelb bis hin zu rot erstreckt. Dieses sogenannte Lichtspektrum ist aber nur ein kleiner Ausschnitt dessen, was wirklich vorhanden ist. Der wahre Regenbogen geht noch viel weiter!
Das entdeckte Wilhelm Herschel 83 Jahre nach Newtons Tod. Herschel, der Astronom der als erster Mensch der Neuzeit einen unbekannten Planeten entdeckte (Uranus, hinter der Bahn des Saturn) interessierte sich natürlich ebenfalls sehr für die Eigenschaften des Lichts. So wie Newton experimentierte er mit dem Sonnenlicht und erzeugte einen Regenbogen aus den bekannten Farben. Herschel war aber an einer ganz anderen Eigenschaft interessiert: Er wollte wissen, ob die unterschiedlichen Farben unterschiedliche Temperaturen haben. Ist blaues Licht genau so warm oder kalt wie grünes oder rotes Licht? Oder hat die Farbe auch etwas mit der Temperatur zu tun? Um das herauszufinden, platzierte Herschel Thermometer im Regenbogen
Tatsächlich zeigte sich: Blaues Licht war kälter als rotes Licht. Um entsprechende Vergleichsmessungen zu haben, maß Herschel aber auch die Umgebungstemperatur, das heißt er legte seine Thermometer auch dorthin, wo keine Farben des Regenbogens zu sehen war. An den meisten Stellen maß er so einfach nur die normale Raumtemperatur. Aber ein Thermometer, das direkt hinter dem roten Ende des Regenbogens lag, zeigte sehr viel höhere Werte an. Es war dort noch wärmer als im roten Licht und im Rest des Raumes. So, als läge hinter dem roten Ende noch eine weitere Farbe, die zwar für unsere Augen unsichtbar, aber deutlich wärmer als die anderen Farben ist.
Es muss ein aufregendes Gefühl gewesen sein, eine komplett neue Farbe entdeckt zu haben. Eine bisher ungesehene und weiterhin unsichtbare und trotzdem vorhandene Strahlung; einen Teil des Lichts der immer schon da war aber erst jetzt von Wilhelm Herschel bemerkt wurde. Ein neues Phänomen braucht einen neuen Namen, vor allem dann, wenn es sich um eine neue Farbe handelt. . Herschel nannte das Phänomen „kalorische Strahlung“ (vom lateinischen „calor“ für Wärme bzw. Hitze); heute benutzen wir dafür allerdings den Begriff „Infrarotstrahlung“.
Kurze Zeit später machte ein anderer Forscher eine ähnliche Entdeckung. Im Jahr 1801 untersuchte der junge Johann Wilhelm Ritter an der Universität Jena ebenfalls den Regenbogen des Lichtspektrums. Vom Fenster meines Arbeitszimmers aus kann ich die Universität sehen; sie liegt gleich auf der anderen Straßenseite. Ritter hat dort aber nicht gearbeitet, das neue Universitätsgebäude (das ehemalige Stadtschloss von Jena) wurde erst 1908 eröffnet. Der Arbeitsplatz des damals gerade 25jährigen Ritter war im alten Collegium Jenense (Das nicht weit entfernt von meiner Wohnung liegt und an dem im 17. Jahrhundert übrigens auch der Mathematiker und Astronom Erhard Weigel arbeitete und dort das Gerät erfand, nach dem ich mein Internetblog benannt habe: Ein „Astrodicticum Simplex“), nur einen kurzen Spaziergang entfernt. Dort hatte Ritter mit seiner Forschung schon einiges an Aufsehen erregt. Sein Arbeitsgebiet war der Galvanismus, also der Einfluss elektrischen Stroms auf die Muskelfasern von Lebewesen.
Die Universität Jena war damals ein Zentrum der Frühromantik und Ritter verkehrte nicht nur mit den Philosophen und Schriftstellern dieser Strömung sondern ließ sich offensichtlich auch beim Verfassen seiner Abhandlungen von deren weitschweifigen Stil beeinflussen. Seine ersten Forschungsergebnisse trug er beispielsweise unter dem Titel „Ueber den Galvanismus: einige Resultate aus den bisherigen Untersuchungen darüber, und als endliches: die Entdeckung eines in der ganzen lebenden und todten Natur tätigen Princips“ vor.
Die Publikation seiner Arbeit fiel ihm allerdings schwer; Johann Christian Reil, der Herausgeber des „Archivs für Physiologie“ hielt Ritters Thesen für „zu dreist“ und lehnte die Publikation ab. Ritter hat sich davon nicht beirren lassen; er arbeitete weiter und hatte durchaus berühmte Gesprächspartner: Goethe, Schiller, Novalis, Herder, Schlegel und andere literarische Berühmtheiten kommunizierten regelmäßig mit ihm. Dass Ritter im Gegensatz zu seinen Freunden heute kaum jemandem bekannt ist, liegt wahrscheinlich auch daran, dass seine wissenschaftlichen Arbeiten alle im gleichen, eher schwer lesbaren Stil des schon vorhin erwähnten Vortragstitels gehalten sind. Und natürlich auch daran, dass Literaten generell mehr Aufmerksamkeit bekommen als Naturwissenschaftler. In der Schule kann man froh sein, wenn man überhaupt etwas brauchbares über Optik oder Galvanismus lernt; vom Leben eines Johann Wilhelm Ritter ganz zu schweigen. Wer dagegen nichts über Goethe oder Schiller weiß, gilt als Banause. Ich behaupte ja nicht, dass die Klassiker uninteressant oder unwichtig sind. Aber die Naturwissenschaft ist definitiv nicht weniger wichtig als die Literatur der Klassiker. Und Goethe mag zwar gute Bücher geschrieben haben – vom Licht hatte er allerdings absolut keine Ahnung! Aber das ist wieder eine andere Geschichte…
An den Ergebnissen von Ritters Forschung selbst kann die mangelnde Aufmerksamkeit eigentlich nicht gelegen haben. Wie es sich für einen Romantiker gehört starb er zwar schon früh; mit 34 Jahren (unter anderem an den Folgen der elektrischen Selbstversuche, die er durchgeführt hatte). Davor hatte er aber noch Gelegenheit, beispielsweise eine „Ladungssäule“ zu bauen: Ein Speicher für Energie und der Vorläufer der Batterien und Akkus die wir heute überall verwenden. Ritter war Begründer der modernen Elektrochemie, entdeckte einige grundlegende Eigenschaften der Elektrizität (und wenn er ein bisschen besser darin gewesen wäre, seine Entdeckungen zu verbreiten und vor allem besser gewesen wäre als sein Zeitgenosse Alessandro Volta, dann würden wir elektrische Spannung heute vielleicht in „Ritter“ messen und nicht in „Volt“). Und er entdeckte eine weitere neue Farbe in Newtons Regenbogen!
So wie Herschel betrachtete auch Ritter ein Lichtspektrum das er mit einem Prisma erzeugt hatte. Anstatt Thermometer verwendete er aber Silberchlorid-Papier. Dieses lichtempfindliche Material wurde später auch oft in der Fotografie eingesetzt; Ritter aber wollte einfach nur wissen, ob das Papier unterschiedlich stark auf unterschiedliche Farben reagiert. Das war der Fall: blau/violettes Licht färbte die lichtempfindliche Silberchlorid-Schicht schneller und stärker ein als rotes Licht. Aber ein Papierstreifen, den er hinter das violette Ende des Regenbogens legte, also dorthin, wo kein Licht mehr zu sehen war, färbte sich noch stärker. Er kam zu dem gleichen Schluss wie Herschel: Da musste noch eine andere Art des Lichts sein, das zwar vorhanden aber für unsere Augen unsichtbar ist. Die Namensgebung brauchte auch hier ein wenig Zeit. Ritter nannte es „oxidierende Strahlung“; seine Kollegen bevorzugten den Begriff „chemische Strahlung“ und heute hat man sich auf den Begriff „Ultraviolettstrahlung“ oder einfach „UV-Strahlung“ geeinigt.
Nach den Entdeckungen von Herschel und Ritter dauerte es ein klein wenig, aber als das 19. Jahrhundert Anstalten machte aufzuhören, legten die Naturwissenschaftler noch einmal ordentlich nach und fanden jede Menge weitere „Farben“ des Lichts die noch nie jemand gesehen hatte. 1887 gelang Heinrich Hertz der erste Nachweis von Radiowellen, 1895 fand Wilhelm Röntgen durch reinen Zufall die Art der Strahlung, die heute nach ihm benannt ist und die ihm recht überraschend den ersten Nobelpreis für Physik eingebracht hat (Etwas, das den öffentlichkeitsscheuen Röntgen extrem irritiert hat: Eigentlich wurde von ihm erwartet, persönlich nach Stockholm zu reisen um dort einen Vortrag zu halten. Das schob er allerdings so lange auf, bis das Nobelkommitte genervt aufgab, ihm den Vortrag erließ und die Medaille per Post zuschickte) und 1900 entdeckte Paul Villard die Gammastrahlung. Radiowellen, Röntgen- und Gammastrahlung kennen wir heute im Alltag als völlig unterschiedliche Phänomene. Das Radio brauchen wir, um beim Autofahren Musik zu hören, die Röntgenstrahlung trifft man hauptsächlich beim Arzt und vor der radioaktiven Gammastrahlung fürchten wir uns wenn in den Nachrichten wieder einmal von Atomkraftwerken die Rede ist.
Aber trotz all dieser Unterschiede ist doch alles nichts anderes Licht. Newtons Regenbogen war der Anfang; das komplette „elektromagnetische Spektrum“ das Ende. Der schottische Physiker James Clerk Maxwell entwarf schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die theoretischen Grundlagen zur Beschreibung von elektromagnetischen Wellen und konnte dabei nicht nur die beiden Phänomene der Elektrizität und des Magnetismus vereinen und auch zeigen, dass das sichtbare Licht nichts anderes ist, als eine sich ausbreitende Welle aus gekoppelten elektrischen und magnetischen Feldern sondern sagte auch die Existenz jeder Menge anderer solcher Wellen vorher.
Heute sind elektromagnetische Wellen die Grundlage fast unserer gesamten Technik. Die Fernbedienung meines Radios sendet Infrarotstrahlung aus, mein Handy kommuniziert per Mikrowelle mit dem Internet, das Trinkwasser aus der Wasserleitung wird per Ultraviolettstrahlung desinfiziert und so weiter. Aber noch viel besser als im Alltag habe ich das elektromagnetische Spektrum bei meiner Arbeit als Astronom kennengelernt.
Zur Zeit von Isaac Newton waren die Sterne weitestgehend unverstandene Himmelskörper. Man wusste nicht, wie groß oder wie weit entfernt sie waren. Man hatte keine Ahnung, wie sie funktionierten, was sie waren oder warum sie leuchteten. Man wusste nur, dass sie Licht ausstrahlten und „Licht“ war damals natürlich nur das für die menschlichen Augen sichtbare Licht. Heute sind die Astronomen ein ganzes Stück weiter. Wir wissen, dass Sterne unvorstellbar weit entfernte Kugeln aus Gas sind, die so wie unsere Sonne Licht durch die Fusion von Atomen erzeugen und wir haben sogar eine ziemlich gute Vorstellung davon, wie sie das anstellen. Vor allem aber wissen wir, dass Sterne nicht nur im für uns sichtbaren Licht strahlen, sondern im kompletten elektromagnetischen Spektrum.
Unsere Sonne leuchtet wenn wir sie mit unseren Augen betrachten. Sie leuchtet aber auch im Radiolicht, im Infrarotlicht, im Röntgenlicht und in all den anderen Farben, die Wissenschaftler in den letzten Jahrhunderten entdeckt haben. Dass wir das Universum heute so gut verstehen, wie wir es tun, hat unter anderem den Grund, dass wir gelernt haben, all die für uns unsichtbaren Arten der Strahlung zu sehen.
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