[Dieser Artikel entstammt der Recherche zu meinem Newton-Buch, haben dann aber aus verschiedensten Gründen keinen Platz mehr im fertigen Werk gefunden. Der erste Teil dieser Serie findet sich hier]
Ich weiß nicht, was sich Isaac Newton und seine Nachfolger damals gedacht haben als sie ihre Entdeckungen über die Bestandteile des Lichts gemacht haben von denen ich gestern berichtet habe. Aber ich weiß, was ich mir jedes mal aufs Neue denke, wenn ich die Ergebnisse der modernen Astronomie betrachte. Ich bin zutiefst beeindruckt von der Tatsache, dass wir heute so viel mehr sehen können, als die Menschen vor uns.
Wir vergessen angesichts der Fülle an Wissen ja gerne, wie außergewöhnlich es ist, dass wir überhaupt etwas über all die unvorstellbar weit entfernten Himmelskörper im Universum wissen können.
„Wir haben die Möglichkeit, ihre Formen, Entfernungen, Größen und Bewegungen zu bestimmen, während wir niemals durch irgendein Mittel ihre chemische Zusammensetzung [bestimmen können]“ hat der französische Philosoph Auguste Comte noch 1835 über die Sterne behauptet. Und auch wenn man es eigentlich besser wissen und bei Vorhersagen über die Zukunft Worte wie „niemals“ vermeiden sollte, kann man Comte eigentlich keinen Vorwurf machen. Jahrtausendelang konnten Astronomen nicht viel mehr tun, als die Positionen und Helligkeiten all der Lichtpunkte am Himmel aufzuzeichnen. Später erlaubten die Teleskope genauere Messungen und man konnte auch noch die Bewegung und die Entfernung der Sterne bestimmen. Aber das war es dann auch. Im Gegensatz zu all den anderen Wissenschaftlern, die ihre Forschungsobjekte direkt vor sich haben und sie abwiegen, angreifen oder aufschneiden können um zu sehen, was darin ist können die Astronomen wirklich nichts anderes als schauen.
Aber Isaac Newton hat uns gezeigt, dass im Licht viel mehr Information steckt, als man dachte. Und seine Nachfolger haben Dinge in seinem Regenbogen entdeckt, die uns – buchstäblich – die Augen für das Universum geöffnet haben. Der deutsche Optiker Joseph von Fraunhofer entdeckte 1814 dutzende dunkle Linien im Spektrum des Sonnenlichts, die heute „Fraunhofersche Linien“ genannt werden. Diese Linien waren schon 1802 vom Engländer William Hyde Wollaston gefunden worden. Davon wusste Fraunhofer aber nichts und außerdem hatte Wollaston auch keine Ahnung, was er da gefunden hatte und interpretierte die schwarzen Striche fälschlicherweise als Trennlinien zwischen den Farben. Darum sind die Linien heute eben nach Fraunhofer benannt und nicht nach Wollaston. Der muss sich aber auch nicht ärgern, immerhin hat er die chemischen Elemente Palladium und Rhodium entdeckt und einen See in Kanada, der nach ihm benannt wurde. 1859 fanden dann Gustav Kirchhoff und Robert Bunsen heraus, dass diese Linien entstehen, wenn Licht aus dem Inneren des Sterns auf die Atome trifft, aus denen er besteht. Jedes chemische Element blockiert einen ganz bestimmten Teil des Lichts und erzeugt ganz charakteristische Linien im Spektrum. Wir müssen die Linien nur vermessen und wissen so, woraus ein Stern besteht. Auguste Comte hatte sich mit seiner Aussage spektakulär geirrt und die Astronomen nun einen Weg gefunden, die Sterne zu verstehen.
Und als wir dann in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Teleskope ins Weltall schickten, wo sie außerhalb der störenden Erdatmosphäre auch all die neuentdeckten Arten des Lichts sehen konnten, zeigte sich das Universum in seiner ganzen Pracht. Heute können wir Bilder betrachten, auf denen ansonsten unsichtbare schwarze Löcher ihre Umgebung mit Röntgenlicht erleuchten. Wir sehen Millionen Lichtjahre lange Ströme aus heißem Gas die sich um ferne Galaxien winden. Mit ihren Infrarotaugen blicken die Astronomen durch kosmische Staubwolken und sehen zu, wie neue Sterne geboren werden. Die Ultraviolettstrahlung zeigt uns Polarlichter auf Jupiter und die Materie, die sich im fast leeren Raum zwischen den Sternen befindet. Das Universum leuchtet nicht nur in allen Farben des Regenbogens sondern in unzähligen Farben, die wir erst sehen können, seit wir angefangen auch mit unserem Geist zu sehen und nicht nur mit unseren Augen.
Newton hat uns gezeigt, wo wir suchen müssen und seine Nachfolger sind fündig geworden. Aber nicht alle waren davon begeistert. 1819 veröffentlichte der britische Poet John Keats sein Gedicht „Lamia“. Darin schrieb er unter anderem:
„Denn flieht nicht aller Zauber vor den Tücken
Nüchterner Denkungsart? Da war einmal
Ein Regenbogen hehr am Himmelssaal:
Jetzt kennt man sein Gewebe, seinen Bau,
Die Wissenschaft erklärte ihn genau
Und rubrizierte ihn wie andre Dinge.
Philosophie wirft ihre kecke Schlinge
Um Engelsschwingen und um Zauberpracht
In Luft und Bergesschoß und Meeresnacht,
Zerreißt die Wunder.“ (Übertragen von Gisela Etzel, Leipzig: Insel Verlag, [1910].)
Im Original klingt das so:
„Do not all charms fly
At the mere touch of cold philosophy?
There was an awful rainbow once in heaven:
We know her woof, her texture; she is given
In the dull catalogue of common things.
Philosophy will clip an Angel’s wings,
Conquer all mysteries by rule and line,
Empty the haunted air, and gnomed mine–
Unweave a rainbow, as it erewhile made.“
Keats beschwert sich also darüber, dass „nüchterne Denkungsart“ den Regenbogen erklärt und „rubriziert“ hat. Die „Philosophie“ (und damit meint er das, was Newton und seine Kollegen betrieben haben und nicht das, was man heute darunter versteht) hätte die „Wunder zerrissen“ und all der „Zauber“ wäre geflohen. Nun, Keats war Romantiker und eine gewisse Dramatik lässt sich da wohl nicht vermeiden. Aber wieso er sich so sehr darüber aufregt, dass Newton und die ihm nachfolgenden Wissenschaftler nun einen Regenbogen nicht nur betrachten, sondern auch verstehen können, erschließt sich mir nicht (Und den nach ihm benannten Asteroiden „(4110) Keats“ hat er definitiv nicht verdient. Ohne Newtons Arbeit wäre er niemals entdeckt worden!). Dabei ist Keats Meinung über die Erkenntnisse der Wissenschaft keineswegs eine Einzelmeinung aus dem 19. Jahrhundert. Auch heute noch gibt es viele Menschen, die der Meinung sind, die „nüchterne Denkungsart“ der Wissenschaft ließe keinen Raum für Fantasie, Kreativität, Romantik und Zauber.
Das Vorurteil, Wissenschaft und Wissenschaftler wären kalt, emotionslos und hätten keinen Sinn für die Schönheit der Welt hält sich hartnäckig. Ich persönlich kann das absolut nicht nachvollziehen. Diese Sicht auf die Welt zeigt eine meiner Meinung nach erschreckende Engstirnigkeit. Ein Regenbogen ist schön und diese Schönheit kann ein Wissenschaftler genau so erkennen, fühlen und genießen wie jeder andere Mensch. Und sie wird definitiv nicht zerstört, nur weil man weiß, wie ein Regenbogen entsteht.
Wie groß die Vorurteile gegenüber der wissenschaftlichen Sicht auf die Welt auch heute noch sind, erfahre ich durch die regelmäßigen Beschimpfungen und Drohungen, die in meinem Email-Postfach landen. Wer die Wissenschaft als Zerstörerin der natürlichen Schönheit ansieht und Wissenschaftlern Emotionen und damit die Menschlichkeit abspricht, hat offensichtlich auch kein Problem mit Morddrohungen: „Du wirst nie wieder ruhig schlafen können.WIR wissen wo du wohnst, WIR kennen dein Gesicht. Zieh dich warm an, die Funken werden fliegen!“ lautet da noch eine der harmloseren Emails, die ich bekommen habe. Andere drohen mit direkter körperlicher Gewalt, veröffentlichen Hass-Videos über mich Internet oder probieren mich mit juristischen Drohungen und Anzeigen von meiner Arbeit abzuhalten.
Wieso die Beschäftigung mit der Wissenschaft so viele Menschen so wütend macht, wird mir immer ein Rätsel bleiben. Es gibt keinen Grund dafür. Dem Physiker und Nobelpreisträger Richard Feynman wurde einmal von einem Künstler vorgeworfen, er könne die Schönheit einer Rose nicht verstehen. Seine Antwort darauf lautete: „Die Schönheit, die sie für dich hat, entgeht mir keineswegs. Aber ich sehe auch eine tiefere Schönheit, die sich anderen nicht ohne weiteres erschließt. Ich sehe die komplizierte Wechselbeziehungen in der Blüte. Die Blüte ist rot gefärbt. Sie hat eine Farbe – bedeutet das, dass sie sich in der Evolution entwickelt hat, um Insekten anzulocken? Damit haben wir eine neue Frage. Können Insekten Farben sehen? Haben sie ein Gespür für Ästhetik? Und so weiter. Ich verstehe nicht, wie eine Blüte an Schönheit verlieren soll, wenn wir sie untersuchen. Es kommt immer nur Schönheit hinzu.“
Es ist genau diese tiefere Schönheit, die mich antreibt. Die Wissenschaft ist ein einzigartiger Weg, die Welt zu betrachten und Dinge zu sehen, die ansonsten unsichtbar werden. Die Welt sieht völlig anders aus, wenn wir nicht mehr nur unsere Auge zum sehen benutzen, sondern auch unseren Geist. Sie wird vielfältiger, interessanter und sie wird vor allem schöner! Vor mehr als 300 Jahren hat Isaac Newton in einer dunklen Scheune auf einen kleinen Regenbogen gestarrt. Er war in der Lage, die „tiefere Schönheit“ zu erkennen, die in ihm steckt. Er hat den „Zauber“ nicht zerrissen. Er hat uns den Blick auf ein faszinierendes Universum eröffnet, dass wir heute zugleich ergriffen und neugierig betrachten, immer auf der Suche nach noch tieferen Einblicken und noch tieferer Schönheit.
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