Am Samstag ist Feiertag! Zumindest in Österreich – in Deutschland und der Schweiz ist der 6. Januar nur in einigen Regionen gesetzlicher Feiertag. Gefeiert werden die “Heiligen Drei Könige”, die “Weisen aus dem Morgenland”. Die interessieren mich allerdings nur wenig. Aber wenn man an diesem Tag über zusätzliche Freizeit verfügen sollte, dann kann man die gleich nutzen, um über einen echten “Weisen aus dem Osten” nachzudenken. Georg Cantor nämlich, der am 6. Januar 1918 in Halle an der Saale gestorben ist und somit dieses Jahr seinen 100. Todestag begeht (bzw. nicht begeht, weil er ja tot ist).
Georg Cantor gehört für mich zu den faszinierendsten Personen der Mathematikgeschichte. Er war manisch-depressiv, immer wieder in psychiatrischer Behandlung; hat sich an Verschwörungstheorien über die “wahre” Urheberschaft von Shakespeares Werken beteiligt; war überzeugt davon manche seiner mathematischen Erkenntnisse direkt von Gott übermittelt bekommen zu haben und starb verarmt in einem Sanatorium in Halle an der Saale. Und trotzdem hat er die Mathematik mit seiner Arbeit über die Unendlichkeit revolutioniert.
Das Unendliche fasziniert die Menschen immer; vermutlich deswegen, weil wir es uns nicht wirklich vorstellen können. Und wenn wir es probieren, dann landen wir früher oder später immer bei Widersprüchen, Paradoxien und anderen Problemen. Unser Hirn ist nicht gemacht für die Unendlichkeit. Aber dafür die Mathematik! Genau das gehört zu den großen Leistungen von Cantor: Er hat die Unendlichkeit mathematisch erfasst. Und nicht nur das: Er konnte sogar zeigen, dass es “Die Unendlichkeit” nicht gibt, sondern unterschiedliche Abstufungen. “Unendlich” ist nicht gleich “unendlich”; es gibt Unendlichkeiten die größer sind als andere Unendlichkeiten.
Das klingt absurd, ist aber eine mathematische Realität. Und noch dazu eine, die man ohne große mathematische Fachkenntnisse nachvollziehen kann. Dazu braucht man nur das berühmte “zweite Cantorsche Diagonalargument”. Und das geht so:
Stellen wir uns die reellen Zahlen vor. Das ist die Gesamtheit aller rationalen und irrationalen Zahlen. Die rationalen Zahlen sind die, die sich als Brüche darstellen lassen. Die irrationalen Zahlen sind die, die nicht durch einen Bruch dargestellt werden; die unendlich viele Nachkommastellen ohne Muster haben. 1, 8 und 76423 sind rationale Zahlen; ebenso wie 17/23, 3/4 oder 1/2. Die Zahl Pi oder die Wurzel aus zwei dagegen sind irrationale Zahlen. Soweit, so klar. Die Frage lautet nun: Wie viele dieser reellen Zahlen gibt es?
Es scheint so, als könnte die Antwort nur “unendlich viele” lauten. Aber der Anschein zählt in der Mathematik nichts, es braucht einen exakten Beweis. Und da kommt nun Cantor ins Spiel. Stellen wir uns alle reellen Zahlen zwischen 0 und 1 vor. Wir schreiben sie in einer langen Liste auf, und benutzen die Dezimalbruchentwicklung. Vereinfacht gesagt, kriegen wir eine Liste die so aussieht:
Z1 = 0, a11, a12, a13, …
Z2 = 0, a21, a22, a23, …
Z3 = 0, a31, a32, a33, …
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Z1 ist die erste reelle Zahl in unserer Liste. Sie beginnt mit “0,” und dann folgen jede Menge Nachkommastellen, die ich mit a11, a12, a13, … beschrieben habe. Genaugenommen folgen immer unendlich viele Nachkommastellen (Ich kann ja zum Beispiel auch die Zahl “0,1” als “0,1000000…..” schreiben). Als nächstes in der Liste kommt Zahl 2, dann Zahl 3, und so weiter. Und auch hier ist klar: Es müssen unendlich viele Zahlen in der Liste stehen. Aber – und das ist die große Frage – stehen auch alle reelle Zahlen zwischen 0 und 1 in der Liste?
Um das heraus zu finden, konstruieren wir eine Diagonalzahl. Das geht so: Die neue Zahl – nennen wir sie X – muss formal so aussehen:
X = 0, x1, x2, x3, …
Auch X ist eine reelle Zahl mit unendlich vielen Nachkommastellen x1, x2, x3, etc. Aber nicht einfach irgendwelche Nachkommastellen! Wir suchen sie uns nach einer simplen Regel aus: x1 ist gleich 3. Es sei denn, a11 ist gleich 3, dann wählen wir x1 gleich 4. Damit erreichen wir, dass x1 auf jeden Fall immer einen anderen Wert hat als a11. Für x2 spielen wir das gleiche Spiel, nur jetzt mit a22: Wir wählen 3, es sei denn a22=3, dann wählen wir 4. Und so weiter, für alle der unendlichen vielen Nachkommastellen.
Jetzt kommt es: Am Ende haben wir uns so eine Zahl gebastelt, bei der sicher gestellt ist, das sie sich von der Zahl Z1 unterscheidet (weil ja die erste Nachkommastelle unterschiedlich ist). Es ist auch sicher gestellt, dass sie sich von Z2 unterscheidet (weil die zweite Nachkommastelle unterschiedlich ist). Und so weiter: Wir haben eine Zahl konstruiert, die sich von jeder der unendlichen vielen Zahlen Z1, Z2, Z3, … in unserer Liste unterscheidet.
Oder anders gesagt: Wir haben eine reelle Zahl konstruiert, die nicht in unserer unendlich langen Liste enthalten ist! Wir sind aber zu Beginn davon ausgegangen, dass unsere Liste alle reelle Zahlen enthält. Das ist aber offensichtlich nicht der Fall. Der “Fehler” liegt in der Annahme, man könne die reellen Zahlen in einer unendlich langen Liste aufschreiben. In der Mathematik heißt die Eigenschaft “Abzählbarkeit”: Wir können alle Zahlen in unserer Liste zählen. Wir werden zwar nie zu einem Ende gelangen, weil es unendlich viele sind. Aber wenn wir die natürlichen Zahlen (1, 2, 3, etc) durchgehen, werden wir jeder natürlichen Zahl genau eine Zahl unserer Liste zuordnen können und keine bleibt übrig.
Hätten wir unsere Liste nur auf die rationalen Zahlen beschränkt, dann hätten wir kein Problem. Die kann man abzählen; hier kann man jedem Eintrag der Liste genau eine natürliche Zahl zuordnen (das hat Cantor in seinem ersten Diagonalargument bewiesen). Die rationalen Zahlen sind “abzählbar unendlich” beziehungsweise das, was wir normalerweise unter “unendlich” verstehen. Wie Cantors zweites Diagonalargument aber eindrucksvoll demonstriert geht das für die reellen Zahlen nicht. Man kann sie nicht abzählen: Selbst wenn man jeder natürlichen Zahl eine Zahl aus der Liste zuordnet, bleiben Zahlen übrig, die keine Nummer bekommen haben (zum Beispiel unsere Diagonalzahl).
Es gibt “mehr als unendlich viele” reelle Zahlen. Oder, wie Cantor es mathematisch formalisiert hat: Es gibt unterschiedliche Mächtigkeiten unendlich großer Mengen. Und die Mächtigkeit der Menge der reellen Zahlen ist größer als die Mächtigkeit der rationalen oder natürlichen Zahlen. Und da hört es noch lange nicht auf: Man kann auch Mengen konstruieren, die “unendlicher” sind als die Menge der reellen Zahlen. Und Unendlichkeiten, die noch “größer” sind. Cantor hat gezeigt, dass es unendlich viele Unendlichkeiten gibt von denen jede größer ist als die vorhergehende…
Das fasziniert mich jedesmal aufs Neue. Intuitiv verstehen kann man diesen ganzen Kram zwar trotzdem noch nicht. Aber trotz aller Paradoxien, Widersprüchlichkeiten und der Beschränkung unseres Gehirns kann man die Unendlichkeiten mathematisch erfassen! Und das ist irgendwie höchst beeindruckend!
P.S. Wer mehr über all die Unendlichkeiten wissen will, dem empfehle ich dringend das hier besprochene Buch.
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