Heute gibt es mal wieder einen Gastbeitrag. Und zwar vom Historiker Christian Schwaderer. Viel Spaß damit!
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Ein Beispiel für den Blick aufs große Ganze
weil ich nach der jahrelangen Differenziererei […] angefangen habe das Nichtdifferenzieren zu lernen (Rainald Goetz, Irre ,Frankfurt am Main 1983 S. 240.)
Das große Ganze in den Blick zu nehmen und zu behalten ist eine ebenso häufig gehörte wie schwer zu erfüllende Forderung. Manchmal erscheint das große Ganze auch erst, wenn man das Differenzieren weglässt und mit etwas Abstand zurückblickt, auf eine Zeit, in der vielleicht zu sehr auf Details fixiert war. Ich habe vor mehr als fünf Jahren eine Dissertation vollendet, von der ich nicht sagen kann, ob sie zurecht vollkommen unbeachtet geblieben ist, der man auf jeden Fall aber wird vorwerfen müssen, einen bestimmten Blick auf das größte Ganze, das wir kennen, versäumt zu haben.
Wenn man nicht mehr im Sumpf der Details feststeckt und der Blick nicht mehr am durch Quellenzitate und Literaturbelege zerfurchten Text haften bleiben kann, kann das Auge ungehindert in fremde Sphären schweifen und das große Ganze sehen. Und plötzlich wird klar, dass die Geschichtswissenschaft zu einer der größten Fragen der Menschheit etwas zu sagen hat: Gibt es irgendwo dort draußen in sphärischer Ferne intelligentes Leben?
Wenn man den Blick aufs große Ganze fremder Wissenschaften richtet, wird man deren Inhalte und Ergebnisse selten gänzlich begreifen können, aber womöglich ist es entscheidender, deren Grenzen und Probleme zu erahnen. Wenn man auf diesem Wege der Astrophysik und der „Search for Extraterrestrial Intelligence“ (SETI) einen Besuch abstattet, wird man womöglich auf das sogenannte Fermi-Paradox stoßen, das da in etwa lautet: Es gibt vermutlich so viele Planeten alleine in unserer Galaxie – da muss es doch intelligentes Leben geben! Warum sehen wir dann nichts davon?
Man hat versucht, sich der Anzahl potenziell mit uns „kommunikationsfähiger“ außerirdischer Zivilisationen mit einer Formel zu nähern, der sogenannten Drake-Gleichung: Anzahl Sterne, Anteil von Sternen mit Planeten, Anzahl potenziell lebensfreundlicher Planeten und so weiter. Am spannendsten und wohl kontroversesten darunter dürfte der Faktor fi sein: der Anteil an Planeten mit intelligentem Leben.
Nun sollte man gewiss die Frage stellen, was Intelligenz eigentlich sei und wo sie beginne (nicht nur wenn man über „außerirdische“ Intelligenz spricht, auch bei ganz profan-irdischen Dingen). Aber an dieser Stelle ist das gar nicht das Problem. Das Problem liegt in der Geschichte.
Schauen wir 5000 Jahre zurück.
Ja, für eine Wissenschaft wie Astrophysik, die sich etwa damit befasst, ob die Erde nun 3,8 oder doch 4,0 Milliarden Jahre alt sei, sind 5000 Jahre nur ein kurzes Rauschen im Sternenstaub. Der Historiker aber kann mit einem Zeitraum von 5000 Jahren argumentativ durchaus etwas anfangen.
Begeben wir uns also etwa 5000 Jahre zurück irgendwohin ins Nirgendwo der verschneiten Alpen und treffen dort den „Ötzi“. Ötzi besaß Kleidung, Schuhe, Waffen und Intelligenz. Wie auch immer man die kognitive Leistung von Delfinen, Papageien, Raben oder anderen schlauen Tieren betrachten möchte – keines davon wurde je mit einem Kupferbeil gesehen (zumindest nicht mit einem selbst gebauten). Die Frage mithin müßig, was Intelligenz sei: Ötzi hatte sie. Er war Teil einer menschlichen Gesellschaft, die in der Lage war, komplexe Werkzeuge herzustellen, und über Sprache verfügte. Wenn wir an die Drake-Gleichung denken, ist ihr Faktor fi hier gegeben und für den Kosmos alles bereitet: Intelligenz war da – der Rest doch nur eine Frage der Zeit. Und unter astrophysischen Maßstäben eine Frage von geradezu lächerlich kurzer Zeit. Ötzi gehörte bereits der potenziell kommunikationsfähigen Spezies „Mensch“ an – und er hatte lediglich das Pech, dass Menschen nicht 5200 Jahre als werden können. Sonst wäre es ihm dereinst vergönnt gewesen, auf seinem Fernseher mitzuverfolgen, wie Neil Armstrong den Mond betrat.
Aber ist es wirklich von da an so einfach?
Die Drake-Gleichung enthält auch den Faktor fc für den Anteil an Zivilisationen, die kommunizieren (können). Was die SETI-Community allerdings nach dem Wenigen und Undifferenzierten, das ich von außen sehe, kaum macht, ist das Bedenken von Wahrscheinlichkeiten in der Menschheitsgeschichte.
Wahrscheinlichkeiten überhaupt, ganz gewiss. Darum handelt die ganze Diskussion um die Drake-Gleichungs-Faktoren, etwa bei der Intelligenz: Wie wahrscheinlich ist es, dass sich intelligentes Leben ausbildet? War es ein großer, womöglich einmaliger Zufall, dass das Menschen-Vorfahr-Tier seine Bäume verließ und mit den Fähigkeiten, die zum Baumleben ausgebildet waren, dereinst begann, komplexe und modifizierte Werkzeuge benutzen? Oder passiert derlei gar öfter?
Wenn wir das wüssten, wären wir einen Schritt weiter. Aber wir wären längst nicht bei der Beantwortung der Frage: Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir mit Außerirdischen kommunizieren können?
Denn es bleibt die Anschlussfrage: Ist es von dem Weltmoment an, als der Vor-Mensch seinen Baum verließ, ein Selbstläufer? Führt von der Höhlenmalerei ein direkter Weg ins Internet? Gibt es hier nicht eine Berufsgruppe, die vielleicht etwas dazu zu sagen hätte?
Doch, die gibt es.
Und wenn man als Historiker*in die Differenziererei einmal beiseite lässt, kann man sich der Antwort immerhin nähern: Wie wahrscheinlich ist es, dass sich der Mensch vom Jäger und Sammler zum Beherrscher von Hochtechnologie entwickelt hat?
Wenn man aus der Vogelperspektive einen Blick auf die Menschheitsgeschichte wirft, scheint es, dass von dem Moment, als der anatomisch moderne Mensch über die Kontinentalplatten streifte, der Weg zu so etwas wie „Hochkultur“ oder „Zivilisation“ frei war: Menschen sind offenbar grundsätzlich in der Lage, Räder, Häuser und Tempel zu bauen. Mehrmals hat sich der Homo sapiens in größeren Gebilden (man sollte besser nicht von „Staaten“ sprechen) zusammengetan und Schrift entwickelt.
Was aber geschah dann? Die meisten „Reiche“ sind auf diesem Stadium geblieben und früher oder später untergegangen. Dass der Mensch dereinst Dampfantrieb, Feuerwaffen und Verbrennungsmotor erfand und Elektrizität für sich nutzbar machte, gab es nur einmal, nämlich in Europa (und Nordamerika).
Wenn man so will, ist der Flaschenhals zwischen Primaten auf Bäumen und Büromenschen mit Smartphone die Erfindung von Hochtechnologie.
Nun ist es keineswegs so, dass sich noch niemand Gedanken gemacht hat, warum gerade in Europa die ersten Menschen mit Brillen auf der Nase und einem gedruckten Buch in der Hand in einen Zug gestiegen sind. Im Gegenteil: Herausgebildet hat sich gar der schöne Ausdruck vom „europäischen Sonderweg“, ein Konsens hingegen nicht.
Aber darum soll es hier gar nicht gehen.
Die Frage ist: Wie „zwangsläufig“ war das alles? Wären Brillen, Buchdruck und Eisenbahnen irgendwann auch in Südamerika, Afrika oder Australien erfunden worden, wenn die Menschen dort nur lange genug Zeit gehabt hätten, bevor sie von europäischen Kolonialherren entmündigt worden sind?
Eine Antwort darauf brächte uns zumindest Indizien dazu, wie groß die Chance ist, dass extraterrestrische Zivilisationen das Stadium „mit uns kommunikationsfähig“ erreichen.
Der Geschichtswissenschaft ist es verwehrt, Dinge experimentell zu veri- oder falsifizieren. Wir können nicht sagen, was nur eine Frage der Zeit gewesen wäre, was einem einmaligen Zufall, was äußeren Einflüssen geschuldet war.
Doch eine These lässt sich immerhin aufstellen: Die Wahrscheinlichkeit einer „zwangsläufigen Hochtechnologisierung“, die bei genügend Zeit immer und überall stattfände, dürfte dann als recht hoch gelten, wenn im Menschen etwas wie ein immerwährender Drang zur Erfindung verankert wäre. Wenn der Mensch nie etwas anderes gewollt hätte als Hochtechnologie zu erfinden, dann hätte er es früher oder später getan.
Aber ist dem so? Hatte der Mensch allzeit einen starken Zug zu technischen Innovationen? Hat die Menschheit (oder einzelne Gruppen) Fähigkeit, Willen und Weitsicht, das eigene Leben durch Technik umzugestalten?
Ich selbst habe – ohne dass mir das damals in diesem Zusammenhang bewusst war – in den Köpfen der Menschen nach Antworten gesucht.
In meiner Dissertation hatte ich mir zur Aufgabe gemacht, nach Technik- und Innovationsdiskussionen im finsteren Mittelalter zu suchen. Es gab tatsächlich im Europa in der Zeit zwischen 500 und 1200 Technik, Erfindungen und Innovationen. Wenn dem aber so aber: Wie wurde es denn bewertet? Wie hat man darüber gedacht, gesprochen und geschrieben? Gab es ein mittelalterliches Äquivalent zu den Apple-vs-Windows-PC-Flame-Wars? Gab es gar die Hoffnung, durch zukünftige technische Neuerungen Antworten auf die Fragen der Zeit zu finden?
Kurz gesagt: Ich habe nichts derlei gefunden. Die erhaltenen Texte aus jenen Tagen entstammen zu einem überwältigenden Teil der Feder gebildeter Geistlicher. Der Foren-Troll war im Mittelalter noch nicht erfunden, es überwiegt der schreibende Mönch. Und so scheint es, als habe zumindest die geistliche Elite der Zeit sich keine großen Diskussionen um das Für und Wider geliefert, als um sie herum die Technik langsam, aber stetig weiterentwickelt wurde. Hin und wieder aufblitzende Einzelbemerkungen zu technischen Dingen und zu kleinen Erfindungen, aber nichts zum großen Ganzen. Es gab keine Partei, welche die Technisierung forderte, forcierte und publizistisch flankierte. Technik war nichts, was zwischen 500 und 1200 erkennbar die Menschen aufwühlte und schon gar nichts, auf das sie ihre Hoffnungen richtete. Sie zu verbessern kein Lebensziel.
Das ist keine Antwort, aber immerhin eine Nicht-Antwort. Falls es zu allen Zeiten einen „Drang zur Erfindung von Technik“ gegeben hat, mit dem man die Annahme, „Vom Ötzi zum Laptop ist es nur eine Frage der Zeit“ (die ich den SETI-Leuten schlichtweg unterstelle), begründen könnte – dann habe ich von diesem Drang kaum eine Spur entdeckt.
Ein Blick auf die Menschheitsgeschichte zeigt uns: Der Weg zur Hochtechnologie war singulär. Ein Blick in die Köpfe schreibender Geistlicher zwischen 500 und 1200 zeigt uns:
Der Wille zur Technik war damals nicht da.
Wenn man mithin einen nicht-differenzierenden Historiker fragt, ist es – bei aller Unwahrscheinlichkeit – immerhin noch wahrscheinlicher, dass irgendwo zwischen Sternen, schwarzen Löchern und Dunkler Materie ein Planet ist, auf dem intelligente Lebewesen mit Häusern, Kunstwerken und einer kleinen schriftkundigen Elite leben, als dass es dort draußen Beherrscher gigantischer Radiotransmitter gibt, deren Wellen uns dereinst erreichen könnten.
Die Chance, dass es in naher Zukunft auf interstellar-neutralem Nicht-Boden zum gemütlichen Kaffeetrinken zwischen Menschheitsvertretern und Außerirdischen kommen wird, ist damit noch geringer geworden.
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