Ich bin seit zwei Wochen unterwegs, quer durch das deutschsprachige Mitteleuropa – und immer noch nicht zuhause sondern gerade in einem Zug auf dem Weg von Friedrichshafen nach Ulm. Darum fallen die monatlichen Buchempfehlungen diesmal etwas kürzer aus. Aber geben tut es sie natürlich, denn gelesen habe ich einiges!

Der Brexit-Roman

Die Politik in Großbritannien wird von Tag zu Tag verwirrender und niemand, die dortigen Politikerinnen und Politiker eingeschlossen, scheint zu wissen, was da genau abgeht. Der Brexit ist wie ein gewaltiger Auffahrunfall in Zeitlupe, dem alle gebannt zusehen und WISSEN, das es nicht gut ausgehen kann, ohne in der Lage zu sein, etwas dagegen zu tun.

Was auch immer passiert, wird passieren. Und in der Zwischenzeit kann man “Middle England” (auf deutsch bald erhältlich unter “Klein Engeland”) von Jonathan Coe lesen. Es ist ein Roman über den Brexit, aber eigentlich ist es ein Roman über Menschen. Es geht um die Mitglieder der Familie Rotter, ihre Freunde und Bekannten und all das, was Menschen eben so passiert. Es geht um berufliche Wechsel, die Schwierigkeiten ein Buch zu schreiben, alte Liebe, junge Revoluzzer, Beziehungen zwischen ungleichen Partnern, und alles was sonst noch so in einem normalen Alltag vorkommt. Aber über und hinter all dem steckt die fundamentale Spaltung der Gesellschaft und die vage Unzufriedenheit mit dem Status Quo, die nicht nur in Großbritannien sondern auch im Rest der Welt gerade für Probleme sorgt. Niemand kann so genau sagen, was eigentlich nicht stimmen soll – aber alle sind der Meinung, das sich etwas ändern soll.

Coe beschreibt wunderbar, was die Menschen dazu getrieben hat, die politischen Entscheidungen zu treffen, die sie getroffen haben. Und wie diese Entscheidung das ganze Land nur noch weiter gespalten haben. Es ist ein spannendes Buch, ein informatives Buch und ein lustiger Roman noch dazu. Kann ich empfehlen!

Götter und Helden

Im Dezember habe ich schon über das absolut hervorragende Buch von Stephen Fry geschrieben, in dem er seine ganz eigene Nacherzählung der griechischen Mythologie präsentiert. Bei den alten Griechen gab es aber wirklich VIEL Mythologie und deswegen hat Fry mit “Heroes: Mortals and Monsters, Quests and Adventures” (auf deutsch) gleich noch einen zweiten Band geschrieben. Hier stehen die menschlichen und halbmenschlichen Helden im Mittelpunkt. Herkules, Orpheus, Jason, Ikarus, Medea und all die anderen klassischen Figuren und ihre Abenteuer werden von Fry wie gewohnt absolut menschlich, unterhaltsam und faszinierend vorgestellt. Wer “Mythos” gemocht hat, wird “Heroes” ebenso mögen und wer die beiden Bücher noch nicht kennt, hat etwas verpasst und einen sehr dringenden Nachholbedarf!

Noch mehr Götter

Formal ähnlich wie die Mythologie-Bücher von Fry ist “Norse Mythology” (auf deutsch: “Nordische Mythen und Sagen”) von Neil Gaiman. Der hat sich ja schon in seinen früheren Romanen (zB “American Gods”, das ich sicher auch schon irgendwann mal besprochen und vermutlich sehr empfohlen habe) mit Göttern beschäftigt. “Norse Mythology” ist aber kein Roman; es ist auch keine Nacherzählung im Stil von Stephen Fry. Man kann es vermutlich am besten als sehr unterhaltsames Sachbuch zur nordischen Mythologie beschreiben. Die Nacherzählung der germanischen Göttergeschichten ist sehr gut lesbar; aber vom Tonfall eher klassisch – es fehlt der locker-flapsige moderne Ton, der Frys Bücher so einzigartig macht. Aber trotzdem ist “Norse Mythology” ein wunderbares Buch für alle, einen Einstieg in diese spezielle Mythology suchen bzw. altes Wissen wieder ein wenig auffrischen wollen.

Geheime Nazi-Wissenschaftler

Vor langer Zeit hat mir ein sehr netter Blogleser mal den Roman Das Klingsor-Paradox von Jorge Volpi geschenkt. Seit ebenso langer Zeit lag das Buch – wie so viele andere Bücher bei mir – ungelesen herum, bis ich es nach Silvester aus einer spontanen Laune heraus doch endlich in die Hand genommen habe. Es ist eine absurd-fantastische Geschichte, die aber doch massiv in der historischen Realität und in wissenschaftlichen Fakten verankert ist. Es geht um einen amerkanischen Physiker, der im zweiten Weltkrieg zu einer Art Spion wurde und sich im Nachkriegsdeutschland auf die Suche nach “Klingsor” macht, dem mysteriösen Chefwissenschaftler der Nazis. In der Realität hat es den nicht gegeben, im Buch steht er aber hinter allen Dingen und muss dringend enttarnt und gefunden werden. Dabei helfen soll ein deutscher Mathematiker, mit ebenso mysteriöser Verangenheit.

Im Laufe der Handlung tauchen nicht nur alle großen Namen der damaligen Naturwissenschaft auf – Einstein, Gödel, von Neumann, Heisenberg, Schrödinger, Planck, Bohr, usw – sondern auch die von diesen Forschern entwickelte Wissenschaft spielt eine große Rolle. Mir persönlich war die Verknüpfung zwischen Quantenmechanik, Relativitätstheorie & Co mit dem menschlischen Handeln und Denken zwar oft ein wenig erzwungen. Aber insgesamt ist es ein spannendes Buch bei dem man nicht nur einen klassischen Spionagethriller geliefert bekommt, sondern auch einen Überblick über die Wissenschaft des 20. Jahrhunderts und Schlüsselmomente der kriegswichtigen Forschung im Europa während des zweiten Weltkriegs.

Americanah

Am meisten beeindruckt hat mich im Januar das Buch “Americanah” von Chimamanda Ngozi Adichie (auf deutsch ebenfalls “Americanah”. Die Handlung ist eigentlich sehr unaufregend. Es geht um ein junges Mädchen, ihre erste große Liebe und die Trennung, als sie zum Studium in die USA geht. Es geht um die Rückkehr nach Hause und den Versuch die alte Beziehung wieder aufzunehmen.

Das junge Mädchen ist Ifemelu und ihr Jugendfreund ist Obinze. Beide wachsen im Nigeria der 1990er Jahre auf und das ist schon die erste Besonderheit. Auf jeden Fall aus Sicht des typisch westlichen Lesers, der sich Afrika nicht als Kontinent voller komplett unterschiedlicher Länder vorstellt, sondern als vage Einheit, voller Menschen die irgendwo in komischen Hütten zwischen Löwen und Elefanten leben. Und selbst wenn man weiß, dass das nicht so ist, hat man diese Bilder doch irgendwie immer im Hinterkopf. Das ging mir nicht anders und es war daher äußerst erfrischend, ein Land wie Nigeria auch einmal in Buchform als echtes Land kennenzulernen. Nicht als Reiseroman von Europäern, die kurz auf Besuch sind. Sondern so wie wir es gewohnt sind, in anderen Romanen Deutschland, England oder die USA zu sehen: Als normale Heimat der Protagonisten in denen halt all die Dinge passieren, die eben so passieren. Und auch wenn sich die Handlung zwischendurch nach England und in die USA verlagert ist es sehr spannend, diese für uns gewohnten Ländern durch den Blick der beiden nigerianischen Jugendlichen zu betrachten.

Ifemelu und Obinze sind nicht aus Nigeria geflüchtet, es ist kein Kriegs- oder Armutsdrama. Beide kann man vermutlich zur Mittelschicht zählen, sie haben gut gebildete Eltern, studieren und haben am Ende doch ganz unterschiedliche Schicksale. Beide haben natürlich mit Rassismus zu kämpfen, aber während Ifemelu in den USA zur erfolgreichen Bloggerin wird und in ihren Texten die ganze Absurdität der Spaltung zwischen den Rassen und Klassen offenlegt, muss Obinze in England sich der rassistischen Realität auf ganz andere Weise stellen. Die Rückkehr der beiden nach Nigeria dreht die Dinge dann wieder einmal komplett um… aber ich will nicht zu viel verraten. Lest “Americanah” – es ist wirklich ein sehr beeindruckendes und spannendes Buch.

Wer will ewig leben?

Andreas Brandhorst hat mit “Ewiges Leben” einen weiteren typischen Wissenschaftsthriller geschrieben. Wer Brandhorst kennt, weiß was einen erwartet… Diesmal geht es um eine mysteriöse Biotech-Firma, die eine Journalistin engagiert um das Firmenjubiläum zu dokumentieren. Aber wie das mit Journalisten so ist: Irgendwann wird was aufgedeckt und in diesem Fall ist es das Geheimnis des ewigen Lebens (kein Spoiler, damit geht die Story quasi los). Es gibt die üblichen Verwicklungen, Verfolgungsjagden, Bösewichte und Helden – das Buch ist nicht außergewöhnlich gut, aber spannend genug um ne langweilige Zugfahrt o.ä. weniger langweilig zu machen.

Die letzten Antworten von Stephen Hawking

Der erste Todestag von Stephen Hawking jährt sich im März und nachdem ich ja ein Buch über seine Arbeit geschrieben habe, wollte ich natürlich auch wissen, was er selbst in seinem letzten, posthum veröffentlichten Werk zu sagen hat.

Wer Hawkings Arbeit schon kennt wird in “Kurze Antworten auf große Fragen” (im Original: “Brief Answers to the Big Questions: the final book from Stephen Hawking “) nicht mehr viel Neues erfahren. Thematisch findet man dort das, was man schon in seinen früheren Büchern, seinen Vorträgen und Interviews gehört hat. Trotzdem ist es immer wieder interessant, Hawking über schwarze Löcher, den Urknall, die Quantenmechanik und die Relativitätstheorie reden zu hören. Und auch seine Gedanken über die Besiedelung des Weltraums, die Suche nach Aliens oder die Vor- und Nachteile Künstlicher Intelligenz sind spannend (wenn ich auch nicht überall mit ihm übereinstimme). Das Buch, entstanden aus seinem Nachlass, ist eine schöne Erinnerung an Stephen Hawking bzw. auch ein guter Einstieg in sein Werk, falls man noch nichts von ihm kennen sollte. Mir ist es manchmal ein wenig schluddrig übersetzt vorgekommen; aber der Schreibstil von Hawking selbst ist ja ebenfalls ein wenig gewöhnungsbedürftig und das Original hab ich in dem Fall nicht gelesen, kann also nicht sagen, ob es wirklich an der Übersetzung liegt oder nicht.

Das wars für Januar; jetzt kommt der kurze Februar! In dem aber trotzdem Zeit für ein paar Bücher sein sollte. Und von denen hört ihr dann in einem Monat!

Kommentare (6)

  1. #1 jormungandr
    Ulm
    30. Januar 2019

    Hey in Ulm, wenn was essen willst geh zum Barfüsser oder das Erste Ulmer Pfannkuchenhaus 🙂
    Gruss Phil

  2. #2 Florian Freistetter
    30. Januar 2019

    In Ulm war ich nur 2 Minuten zum Umsteigen. Richtung München – da bin ich aber schon wieder durch und mittlerweil auf dem Weg nach Salzburg (was aber immer noch nicht das endgültige Ziel ist).

  3. #3 äymm
    30. Januar 2019

    Heroes ist in der Tat sehr empfehlenswert! Mythos und Norse Mythology natürlich auch. Wobei ich alle drei als Hörbuch (jeweils von den Autoren gelesen) genießen konnte

  4. #4 Peer
    30. Januar 2019

    Americanah ist wirklich sehr gut! Das hat mir auch sehr gefallen!
    Gerade Rosewater von Tade Thompson gelesen – das spielt auch in Nigeria, ist aber SF (es spielt 2060) und erinnert etwas an Neuromancer, allerdings nicht mit Cyberspace, sondern einer Art “Telekinesenspähre”. Schwierig zu erklären, aber das Buch ist sehr lesenswert, auch weil das Setting sehr dicht ist (und es auch mal Spaß macht, einen SF-Roman zu lesen, der nicht in Europa, USA oder Ostasien spielt).

    Und apropos SF der nahen Zukunft: “Halting State” von Charles Stross (deutscher Titel : Du bist tot!) spielt in Schottland, dass sich nach dem Brexit von Großbritannien losgesagt hat und sich der EU angeschlossen hat. Witzigerweise ist das Buch schon 10 Jahre alt! Bemerkenswerte Vorraussicht hat Stross da beweisen… Die Handlung ist auch spannend und originell (es geht um einen Banküberfall in einem Online-Spiel) und das Buch ebenfalls unbedingt zu empfehlen.
    Und wer es ernsthafter mag, dem empfehle ich wieder mal Dave Eggers großartiges “Weit gegangen” (Engl.: The what is the what) über einen Flüchtlingsjungen aus dem Sudan, die auf einer wahren Geschichte basiert. Eines der beeindruckensten Büchern, das ich kenne.

  5. #5 schlappohr
    31. Januar 2019

    Das Klingsor-Paradox hat mich auch sehr fasziniert. Die enge Verzahnung von Wahrheit und Fiktion haben jedoch bei mir auch ein mulmiges Gefühl hinterlassen. Bei einigen Dingen habe ich mich gefragt, ob das nun fiktiv war oder sich wirklich so abgespielt hat, z.B. der minutengenaue Ablauf des Hitler-Attentats. Ohne sich in der Geschichte der damaligen Zeit wirklich gut auszukennen, ist man da manchmal etwas ratlos. Ich muss natürlich gestehen, dass Geschichte nicht gerade zu meinen Lieblingsfächern gehört hat… eine Abneigung, die bis heute erhalten geblieben ist. Andererseits finde ich die Nazi- und Nachkriegszeit auch wieder irgendwie faszinierend, vielleicht weil während meiner Kindheit in meinem familiären Umfeld noch viele Artefakte (Bilder, Gegenstände, Erzählungen) aus dieser Zeit existiert haben.

  6. #6 Marie
    Bregenz
    31. Januar 2019

    Hallo Florian, Deinen Vortrag in Friedrichshafen habe ich gehört und fand ihn sehr informativ. Mach weiter so mit dem Aufklären über abstruse Verschwörungstheorien! – Nun zu Deiner Buchempfehlung. Klein Engeland wird im März vorerst leider nur auf Niederländisch erscheinen. Wann die deutsche Übersetzung kommt bleibt abzuwarten – inzwischen lese ich es gerne auf Englisch 🙂 Viele Grüße aus Bregenz von Marie