Gestern habe ich mich wieder einmal mit den ungelösten Problemen der Astronomie und Physik beschäftigt. Das sind auch genau die Phänomene, nach denen ich bei Vorträgen und Auftritten immer wieder gefragt werde (zum Beispiel erst kürzlich hier). Was ist dunkle Materie? Welche Form hat das Universum? Wie vereint man Quantenmechanik und Relativitätstheorie? Was ist dunkle Energie? Gerade die letzte Frage bekomme ich immer wieder gestellt; vermutlich weil “dunkle Energie” so mysteriös klingt und die Fantasie so vieler Menschen anregt. Gestern war aber auch der Internationale Tag der Frauen und Mädchen in der Wissenschaft. Das hat auf den ersten Blick nicht viel mit der Frage nach der dunklen Materie zu tun. Auf den zweiten Blick aber sehr wohl.
Wenn ich gefragt werde, welche noch offene Fragen in der Wissenschaft ich gerne beantwortet hätte: Dann natürlich alle! Aber realistischerweise antworte ich auf diese Frage immer: Ich habe große Hoffnung, noch zu erfahren, wie die wahre Natur der dunklen Materie aussieht. Denn hier haben wir schon jede Menge Daten gesammelt. Wir wissen seit mehr als 100 Jahren über die Existenz dunkler Materie Bescheid; wir haben ihren Einfluss auf das Universum analysiert und haben sehr gute Ideen, wie wir herausfinden können, worum es sich dabei handeln kann. Ob wir das auch tatsächlich schaffen ist eine andere Frage. Aber wir wissen zumindest, in welche Richtung uns der Weg zu einer Antwort führt.
Bei der dunklen Energie ist das ganz anders. Hier wissen wir seit den 1990er Jahren, dass dieses Phänomen existiert. Das Universum expandiert immer schneller – das haben wir durch Beobachtungen festgestellt – und für dieses Verhalten muss es einen Grund geben. Diesen Grund haben wir “dunkle Energie” genannt, ohne zu wissen um was es sich dabei genau handelt. Das wissen wir heute immer noch nicht und wir haben auch immer noch keine wirklich gute Ahnung. Vielleicht hat es etwas mit den Eigenschaften des Vakuums zu tun, das wir noch nicht komplett verstanden haben. Vielleicht brauchen wir eine neue Beschreibung der Wirkung von Gravitation auf quantenphysikalischer Ebene. Vielleicht haben wir irgendwas ganz anderes falsch verstanden. Wir wissen es nicht und es fehlt uns auch ein klar definierter Weg, um an eine Antwort gelangen zu können.
Und genau hier kommt nun der auf den ersten Blick nicht zu diesem Thema passende “Internationale Tag der Frauen und Mädchen in der Wissenschaft” ins Spiel. Wenn man nichts weiß, braucht man mehr Wissen. Das ist trivial, aber wir haben bei weitem nicht so viel Wissen wie wir schon längst haben können. Eurostat hat gestern eine Statistik veröffentlicht die zeigt, wie viele Frauen in Wissenschaft & Technik arbeiten. Im EU-weiten Durchschnitt sind das 41 Prozent. Österreich, Deutschland und die Schweiz dürfen sich aber gerne ein wenig schämen (gerne auch sehr viel), denn mit nur knapp über 30 Prozent Frauen in Wissenschaft und Technik findet man sie unter den letzten 5 Ländern dieser Statistik. Angeführt wird sie von Litauen, wo die Frauen mit 57 Prozent sogar die Mehrheit stellen. Auch in Lettland, Portugal und Bulgarien gibt es mehr als 50 Prozent Frauen in wissenschaftlichen Berufen. Weltweit stellen Frauen in der Forschung aber nur 30 Prozent; unter denjenigen die ein naturwissenschaftliches Studium beginnen sind es global gesehen sogar nur 5 Prozent.
Ich will jetzt gar nicht auf die einzelnen Gründe eingehen, die dazu führen, dass Frauen in den Naturwissenschaften immer noch so unterrepräsentiert sind bzw. auf die Unterschiede zwischen den Ländern im Eurostat-Ranking. Obwohl das zweifelsohne eine wichtige Diskussion ist, die auch geführt werden muss, geht es mir um etwas anderes: Um die enorme Verschwendung von Wissen! Jedesmal, wenn irgendwo einem Mädchen erklärt wird, dass Mathematik oder Physik nichts für sie ist; jedesmal, wenn im Fernsehen und den anderen Medien die üblichen Rollenklischees reproduziert werden und jungen Frauen dadurch nahegelegt wird, sich doch auch ihrem Geschlecht “entsprechend” zu verhalten; jedesmal wenn eine Frau ein naturwissenschaftliches Studium beenden weil sie sich in einer diskriminierenden Umgebung nicht durchsetzen kann; jedesmal wenn eine Frau aufgrund ihres Geschlechts eine Stelle an einer Universität nicht bekommt: Jedesmal verlieren wir Wissen.
Vielleicht wüssten wir schon längst, was dunkle Energie ist. Aber diejenige, die die zündende Idee für einen Durchbruch gehabt hätte, wurde leider von ihren Lehrern davon abgehalten ihren physikalischen Interessen zu folgen. Vielleicht hätten wir schon längst eine Theorie der Quantengravitation, aber diejenige, die sie finden hätte können, ist leider in einer Gesellschaft aufgewachsen, in der Frauen keinen Zugang zu höherer Bildung haben. Die Ingenieurin, die den revolutionären Weltraumantrieb für den Flug und die Besiedelung des Mars gebaut hätte, hat ihr Leben vielleicht irgendwo in einem Ausbeutungsbetrieb verbracht und Kleidung für reiche Menschen in Europa genäht. Die Biologin, die den Durchbruch bei der Behandlung von Krebs gefunden hätte, wurde von ihren Eltern überredet, doch lieber etwas “passenderes” zu studieren. Und so weiter.
Ich frage mich oft, wie viele wissenschaftliche Revolutionen und geniale Antworten auf offene Fragen wir schon verpasst haben, nur weil wir es als Gesellschaft nicht schaffen alle Menschen in ihren naturwissenschaftlichen Begabungen zu fördern. Es sind ja nicht nur die Frauen, die systematisch unterrepräsentiert sind, wenn es um die Wissenschaft geht sondern auch viele andere Bevölkerungsgruppen und Minderheiten; ganze Länder und Kontinente. Wer weiß, was all die naturwissenschaftlichen begabten Menschen in Afrika in den letzten Jahrzehnten herausgefunden hätten, wenn es dort die gleichen Strukturen und Möglichkeiten gäbe wie im globalen Westen.
Die beste Strategie um die großen offenen Fragen der Wissenschaft zu beantworten: Sorgen wir dafür, dass so viele Menschen wie möglich ihre wissenschaftliche Begabung ausleben können!
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