Der Artikel ist Teil einer Serie zum Buch ”Die Himmelsscheibe von Nebra – Der Schlüssel zu einer untergegangenen Kultur im Herzen Europas”* von Harald Meller und Kai Michel. Die restlichen Artikel der Serie findet man hier.
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Welches astronomische Wissen ist auf der “Himmelsscheibe von Nebra” verschlüsselt? Schon bei der ersten Begutachtung dieses berühmten Objekts war klar, dass es etwas mit dem Sternhaufen der Plejaden zu tun haben muss. Aber das kann eigentlich noch nicht alles gewesen sein. Die Benutzung der Konstellation aus Plejaden und Mond am Himmel als Instrument um im Lauf des Jahres den Überblick über die Jahreszeiten zu behalten war kein komplexes Wissen. Das musste schon damals allen Bauern bekannt gewesen sein – also quasi allen. Die Himmelsscheibe ist aber viel zu komplex und wertvoll um nur eine simple Bauernregeln zu illustrieren. Sie ist aufwendig vergraben worden und sie muss für die Menschen damals einen großen Wert gehabt haben. Sie muss noch eine weitere Botschaft verstecken; ein weiteres Rätsel, das gelöst werden muss.
Und vielleicht hat es der Astronom Rahlf Hansen vom Planetarium Hamburg gelöst. Er meldete sich nach der öffentlichen Bekanntgabe des Funds der Himmelsscheibe per Post beim Landesmuseum in Halle. Und hatte eine erstaunliche Interpretation anzubieten.
Ihm war die Form der Mondsichel auf der Himmelsscheibe aufgefallen. Da ist nicht die elegante dünne Sichel zu sehen, die man sonst von Sichelmond-Abbildungen kennt. Der Sichelmond der Himmelsscheibe ist eher plump. Wie dick der Mond erscheint, hängt vom Alter ab. Je älter, desto dicker (ein wenig so wie bei uns Menschen…). Mit “Alter” ist hier natürlich nicht das physikalische Alter des Mondes selbst gemeint, sondern der Zeitraum, der seit der Neumondphase des Mondes verstrichen ist. Zwischen Neu- und Vollmond wächst der für uns sichtbare beleuchtete Teil des Monds beständig an und das, was auf der Himmelsscheibe zu sehen ist, entspricht einem Mond der 4,5 Tage nach Neumond am Himmel zu sehen ist.
In einem alten Keilschrifttext aus Babylonien (aus dem 7. bis 3. Jahrhundert vor Christus) stieß Hansen dann auf eine Beschreibung genau so eines Mondes. Im ersten Monat des Jahres; im Frühlingsmonat Nissan, solle man auf die Mondsichel und die Plejaden achten, war da zu lesen. Warum? Weil das Informationen über die Notwendigkeit eines Schaltjahres liefern konnte.
Schaltjahre bzw. Schalttage oder Schaltmonate sind vielleicht das beste Beispiel dafür, dass unsere Welt keinem absichtlichen Design entsprungen ist. Denn die zwei großen “Himmelsuhren” – Sonne und Mond – passen einfach nicht zusammen. Nimmt man den Mond als Taktgeber; zählt man also die Zeit zwischen Vollmond und Vollmond (oder Neumond und Neumond), dann kommt man auf circa 29,5 Tage. 12 solcher “Monate” (daher kommt ja auch dieses Wort) ergeben 354 Tage. Die Sonne passt da nicht dazu: Ein kompletter Umlauf der Erde um die Sonne dauert 365 Tage. Wir haben einen Unterschied von 11 Tagen und der hat die Menschen schon immer irritiert.
Nimmt man nur den Mond als Kalenderbasis, dann kriegt man einen Kalender, der durch die realen Jahreszeiten wandert, die ja auf dem Sonnenjahr basieren. Ein Fest etwa, das im Mondkalender ursprünglich auf den Frühlingsanfang gelegt wird, wird im Laufe der Zeit im Sommer stattfinden, dann im Winter, und so weiter. Der islamische Kalender ist genau so ein reiner Mondkalender, weswegen das islamische Ramadanfest auch immer zu einem anderen Zeitpunkt im (gregorianischen) Kalenderjahr stattfindet.
Will man Mond- und Sonnenkalender in Einklang bringen, muss man regelmäßig Schalttage einführen, damit die beiden Zyklen nicht zu sehr auseinander laufen. Nur: Wann macht man das am besten?
Genau das sagt uns – laut Rahlf Hansen – die Himmelsscheibe von Nebra. Es geht um die Frage, wann der Mond im Frühlingsmonat neben den Plejaden am Himmel zu sehen ist und wie er dabei aussieht. Wenn er am 1. Tag des Nissans dort zu sehen und noch dünn ist, dann ist alles in Ordnung und Mond- und Sonnenjahr laufen noch im Takt. Taucht der Mond aber erst am 3. Nissan neben den Plejaden auf und ist der dann schon dicker, dann ist das Mondjahr zu weit vom Sonnenjahr abgewichen und es ist Zeit, ein paar Schalttage einzufügen.
Diese Regel war es, die Hansen im babylonischen Text entdeckte. Und diese Regel vermutete er auch – 1000 Jahre vorher – auf der Himmelsscheibe verschlüsselt. Sie war in einer schriftlosen Gesellschaft eine Vorlage, mit der Jahr für Jahr der reale Mond am Himmel verglichen werden konnte um zu prüfen ob es schon Zeit für ein Schaltjahr ist. Dazu passt auch die Anzahl der Sterne: Insgesamt sind 32 davon auf der Scheibe zu finden. Hansen hat das so erklärt: Man fängt mit dem Neumond VOR dem Frühlingsmonat an und zählt die Tage die vergehen, bis Mond und Plejaden wieder zusammen am Himmel erscheinen. In einem regulären Jahr sind das circa 29 Tage – wenn die Zyklen aber zu weit auseinander gelaufen sind, dauert es 32 Tage! Genau so viel, wie Sterne auf der Himmelsscheibe zu finden sind.
Die Regel zur Bestimmung von Schaltjahren ist also doppelt auf der Himmelsscheibe verschlüsselt. Einmal bildlich, als Dicke des Mondes die er beim Zusammentreffen mit den Plejaden in Jahren hat, die Schaltjahre sind. Und einmal als Anzahl der Sterne (Tage) die vom Neumond aus vergehen müssen, wenn ein Schaltjahr nötig ist. Das ist praktisch, denn man kann ja den Mond nicht immer beobachten (auch früher gab es ja schlechtes Wetter und bedeckten Himmel).
Man kann die Interpretation noch weiter treiben. Es gibt ja neben den 32 kleinen Sternen noch einen dicken Goldkreis auf der Scheibe der bis jetzt meist als Vollmond interpretiert worden ist. Man kann ihn aber auch als weiteren Zählpunkt deuten. Dann würde die Symbolik 33 Mondjahren (also 33 mal 12 Monate) entsprechen und die sind tatsächlich fast genau so lang wie 32 Sonnenjahre (11680 Tage zu 11682 Tage).
Wenn diese Interpretation tatsächlich stimmt, dann ist auf der Himmelsscheibe überraschend viel astronomisches Wissen zu finden. Einerseits die ursprüngliche “Bauernregel” zur Einteilung des landwirtschaftlichen Jahres. Andererseits aber auch komplexes Kalenderwissen zur korrekten Einteilung der Zeit; und das gleich in mehrfacher Ausführung. Und all das viele Jahrhunderte bevor wir die ersten schriftlichen Aufzeichnungen über all diese Gesetzmäßigkeiten kennen!
Um dieses Wissen zu erhalten, war jede Menge astronomische Arbeit nötig. Das erfährt man nicht einfach, wenn man mal eben kurz zum Himmel schaut. Man muss den Verlauf des Mondes und seine Position am Himmel im Vergleich zu den restlichen Sternen mindestens 40 Jahre lang kontinuierlich beobachten, wenn man all das wissen will. Das braucht spezialisierte “Astronomen” und eine entsprechende Gesellschaft, die solche Spezialisten unterhalten kann. Gab es die im Mitteldeutschland des 4. Jahrtausend vor Christus? Oder ist das Wissen über die Himmelsscheibe aus einer anderen Region importiert worden? Das wird das Thema im nächsten Artikel meiner Serie über die Himmelsscheibe von Nebra sein.
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