Der Artikel ist Teil einer Serie zum Buch ”Die Himmelsscheibe von Nebra – Der Schlüssel zu einer untergegangenen Kultur im Herzen Europas”* von Harald Meller und Kai Michel. Die restlichen Artikel der Serie findet man hier.
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Die Himmelsscheibe von Nebra ist ein beeindruckendes Objekt. Die Geschichte ihres Fundes war ebenso kurios wie spannend. Ihre Echtheit musste extra von der Justiz geprüft werden. Sie wurde mit Materialien gebaut, die aus Regionen stammen die weit entfernt vom Fundort in Mitteldeutschland gewonnen wurden. Und sie verschlüsselt erstaunlich komplexes astronomisches Wissen. Wissen, das wir anderswo in der Geschichte erst 1000 Jahre später finden. Welche Gesellschaft also war in der Lage, so komplexes astronomisches Wissen nicht nur zu finden, sondern auch in Form der Himmelsscheibe weiter zu geben? Wer hat da vor 4000 Jahren in Mitteldeutschland gelebt, der dazu in der Lage war?
In der klassischen Vorstellung der prähistorischen Bronzezeit in Deutschland war hier nicht viel los. Es gab bäuerliche Gesellschaften; ohne Schrift, ohne komplexe Strukturen und ohne große Kultur. Nicht zu vergleichen mit den Hochkulturen in Vorderasien; mit Mesopotamien, Babylonien, etc.
Wenn aber die “Barbaren” in Deutschland nicht in der Lage waren, so etwas wie die Himmelsscheibe zu konstruieren, dann muss sie anderswo her kommen. Das aber erscheint nach all dem was wir über sie wissen sehr unwahrscheinlich zu sein. Sie wurde mit Materialien konstruiert, die aus der Gegend stammen (obwohl andere, wie das Gold, auch von weiter her gehandelt wurden). Und vor allem ist ihre astronomische Ausrichtung und Information eindeutig auf Mitteldeutschland bezogen. Bleibt also nur der Schluss: Die Gesellschaft die damals die Himmelsscheibe konstruiert hat, war gar nicht so primitiv wie wir es uns vorstellen…
Der Landesarchäologe Harald Meller und Kai Michel machen in ihrem Buch “Die Himmelsscheibe von Nebra” an dieser Stelle einen kleinen Ausflug in die historisch gut dokumentieren Kulturen der Akkader, Assyrer und Babylonier die in Mesopotamien vor 4 Jahrtausenden die ersten großen Reiche gebildet haben. Und warfen einen Blick auf das, was diese Kulturen zu Kalendern und vor allem zu Schaltregeln zu sagen hatten. Denn genau so eine Schaltregel scheint ja das überraschende “Geheimnis” der Himmelsscheibe zu sein.
Wer hat herausgefunden, dass man so eine Schaltregel braucht? Und wer legt fest, dass sie verwendet wird? Das sind zentrale Fragen, wenn man die Gesellschaft verstehen will, die die Himmelsscheibe geschaffen hat. In Mesopotamien hat man schon vor 3000 Jahren Kalender erstellt die auf den Mondphasen beruhen und auch festgestellt, dass man so einen Mondkalender durch Schaltmonate korrigieren muss, wenn man nicht will, dass er asynchron zum Vergehen der Jahreszeiten läuft. Wenn der aus der Beobachtung des Mondes bestimmte Anfang des Frühlingsmonats auch wirklich immer im Frühling liegen soll, muss man immer dann Schalttage einfügen, wenn sich die Zyklen von Sonnenjahr und Mondjahr zu weit voneinander entfernt haben. Genau so eine Vorschrift findet sich auf der Himmelsscheibe; genau so eine Vorschrift finden wir auch in den Keilschrifttexen aus Mesopotamien (die jünger als die Himmelsscheibe sind).
Es gab aber in Mesopotamien lange Zeit keine fixe, regelmäßige Schaltregel. Die Schaltungen die man durchführte waren, das sagen die Aufzeichnunge, sehr unregelmäßig. Mal so, mal so – erst in der Mitte des ersten Jahrtausends vor Christus haben sich feste Schaltregeln etabliert. Warum und warum erst so spät?
Für die Organisation der Landwirtschaft braucht man nicht unbedingt eine komplizierte Schaltregel. Man braucht eigentlich gar keine Schaltregeln. Und wer ein Staatswesen zu verwalten hat, findet unregelmäßige Kalender auch nicht so toll. Deswegen gab es schon im dritten Jahrtausend vor Christus in Mesopotamien ein “Verwaltungsjahr”, das komplett unabhängig vom Mond funktionierte. Es gab 12 Monate mit je 30 Tagen und insgesamt ein Jahr mit 360 Tagen. Das war praktisch – aber wenn man die Alltagskalender in Einklang mit den Jahreszeiten halten will, kommt man eben nicht um Schaltregelungen umhin.
Und die machen alles kompliziert. Wenn schon Schalttage bzw. Schaltmonate, wie es früher üblich war, dann doch bitte nach einer fixen, regelmäßigen Gesetzmäßigkeit. Würden wir zumindest heute denken – aber damals liefen die Dinge anders. Die Herrscher hatten kein Interesse an regelmäßigen Schaltzyklen. Sie wollten die Macht über den Kalender nicht an die Astronomen abtreten. Sondern sich weiterhin das Recht vorbehalten, je nach Notwendigkeit Schaltmonate anzuordnen oder halt nicht. Denn ein zusätzlicher Monat bedeutet ja auch zusätzlich Steuereinnahmen.
Erst als die Reiche immer größer und die Verwaltung immer komplexer wurde, hatte man keine Alternative mehr zu den regelmäßigen Schaltvorschriften. Wenn es also auf der Himmelsscheibe eine klar definierte und astronomische Regel zur Einführung von Schalttagen gibt, dann muss es dazu auch einen entsprechend komplexen “Staat” gegeben haben, der so etwas zwingend nötig macht. Eine Gesellschaft, für die eine fixe und verbindliche Regel zur Einführung von Schalttagen so nützlich war, dass sie auf einem kostbaren Objekt wie der Himmelsscheibe von Nebra aufgezeichnet wurde.
Wo aber gab es im Mitteleuropa vor 4000 Jahren so eine komplexe Gesellschaft? Laut dem, was man bisher über die Geschichte wusste, gar nirgends. Nördlich der Alpen war bis zum Mittelalter nichts, was einem “Staat” oder “Imperium” ähnlich war. Es scheint da also etwas zu geben, was wir noch nicht wissen. Und wenn wir wissen wollen, was da gewesen sein könnte, müssen wir noch einen viel genaueren Blick auf die Symbolik der Himmelsscheibe werfen. Was in den nächsten Folgen dieser Serie auch passieren wird…
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