Das ist die Transkription einer Folge meines Sternengeschichten-Podcasts. Die Folge gibt es auch als MP3-Download und YouTube-Video.
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Sternengeschichten Folge 351: MOND – Die modifizierte Newtonsche Dynamik
Über den Mond habe ich in den Sternengeschichten schon sehr viel erzählt. Heute aber geht es nicht um den Mond, sondern um MOND. Eine Abkürzung die für “MOdifizierte Newtonsche Dynamik” steht. Aber warum soll man den guten alten Newton modifizieren bzw. warum soll man das schon wieder tun?
Fangen wir mal am Anfang an, der in diesem Fall wahlweise im späten 17. oder im frühen 20. Jahrhundert liegen kann. Ende des 17. Jahrhunderts hat Isaac Newton seine berühmte Theorie zur mathematischen Beschreibung der Gravitation aufgestellt. Damit hat er viel mehr getan als einfach nur eine Formel aufzuschreiben mit der man mathematisch beschreiben konnte, wie Himmelskörper oder andere Objekte über die Gravitation miteinander wechselwirken. Er hatte ein komplett neues Bild des Universums geschaffen; sein Gravitationsgesetz war ein NATURgesetz, eine Regel, die im gesamten Kosmos gilt und Objekte auf der Erde (wie den berühmten fallenden Apfel) ebenso betrifft wie weit entfernte Planeten und Sterne. Das ist heute für uns selbstverständlich; damals war es aber eine revolutionäre Erkenntnis, dass etwas wie die Gravitation “universal”, also überall gleich funktioniert. Ich will heute aber gar nicht über Isaac Newton reden. Sein Gravitationsgesetz wird auch heute noch überall in der Physik und der Astronomie verwendet wenn es darum geht den Einfluss der Gravitationskraft auf die Bewegung von Objekten zu beschreiben.
Aber eben nicht immer; wenn Objekte sich zum Beispiel sehr schnell bewegen oder sehr starken Gravitationskräften ausgesetzt sind, dann funktioniert Newtons Formel nicht mehr. Dann muss man auf die verbesserte Beschreibung der Gravitation zurückgreifen, die Albert Einstein Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelt hat. Die Relativitätstheorie ist derzeit gültige Beschreibung der Gravitation; Newtons Theorie deswegen aber nicht zwingend “falsch”. Sie ist nur nicht in allen Fällen genau genug. Wenn es einfach nur darum geht zu beschreiben, wie etwa ein Apfel auf der Erde zu Boden fällt oder eine Raumsonde zu einem anderen Planeten fliegt, sind die Unterschiede zwischen Newtons und Einsteins Theorie normalerweise so gering, dass man sie getrost vernachlässigen kann. Man kann Newtons Beschreibung der Gravitation als Spezialfall der allgemeineren Theorie von Einstein betrachten. Unter “normalen” Umständen, also im Alltag auf der Erde oder auch im All, wenn man sich ausreichend weit genug von großen Massen wie Sternen oder schwarzen Löchern entfernt befindet, vereinfacht sich die komplizierte Theorie Einsteins zu der simplen Beschreibung von Newton.
Wenn ich heute von einer “modifizierten Newtonschen Dynamik” spreche, meine ich aber nicht das, was Einstein getan hat. Es geht um ein Problem, das ich schon in Folge 25 der Sternengeschichten ausführlich vorgestellt habe: Die “Dunkle Materie”. Die aber eigentlich besser “Überschüssige Gravitation” oder “Komische Bewegung von Zeug im Universum” genannt werden sollte. Kurz zusammengefasst haben zuerst der Astronom Fritz Zwicky im Jahr 1933 und dann Vera Rubin 1960 festgestellt, dass sich Galaxien und Sterne im Universum nicht so bewegen, wie sie es eigentlich tun sollten. Die Bewegung von Sternen in einer Galaxie wird zum Beispiel durch die Gravitationskraft bestimmt, die sie spüren. Man kann nun also eine Galaxie beobachten, aus der Helligkeit der Sterne berechnen, welche Masse die Galaxie haben muss und daraus die Stärke der Gravitationskraft, die ein Stern an einem bestimmten Ort der Galaxie spüren muss. Daraus wieder folgt, mit welcher Geschwindigkeit er sich bewegt. Nur haben diese Rechnungen nicht gestimmt. Die Sterne bewegten sich so, als wäre da mehr Masse als man sehen kann. Dieser Befund wurde seitdem immer wieder bestätigt; bei der Bewegung von Sternen, bei der Bewegung von Galaxien und der Bewegung ganzer Galaxienhaufen. Das Universum verhält sich so, als wäre da mehr Masse, als wir sehen können. Die fehlende Masse wurde “dunkle Materie” genannt und die allermeisten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gehen davon aus, dass es sich tatsächlich um fehlende Masse handelt. Also dass es neben der “normalen” Materie auch noch eine weitere, noch unentdeckte Art von Materie gibt, die zwar nicht im oder durch normales Licht sichtbar ist, aber trotzdem eine Gravitationskraft ausübt. Diese Hypothese wird auch durch andere Überlegungen gestützt; Beobachtungen des jungen Universums kurz nach seiner Entstehung deuten auf die Existenz dieser fehlenden Materie hin ebenso wie Hypothesen aus der Teilchenphysik.
Konkret nachgewiesen hat man diese seltsame Art der Materie aber noch nicht; man beobachtet nur überall im Universum die Gravitationskraft, die von ihr ausgeht bzw. auszugehen scheint. Aber vielleicht gibt es gar keine “fehlende Materie” – vielleicht müssen wir einfach nur die Gesetze der Gravitation modifizieren. Denn wenn die Dinge sich nicht so bewegen wie sie es eigentlich sollten, dann muss das ja nicht am Einfluss einer unsichtbaren Art von Materie liegen. Es kann auch daran liegen, dass wir das falsche mathematische Gesetz zur Beschreibung der Gravitation verwenden. Das jedenfalls war die Idee des israelischen Physikers Mordehai Milgrom, der 1981 die “Modifizierte Newtonsche Dynamik” oder kurz “MOND” entwickelte. Aus mathematischer Sicht ist sie eigentlich recht simpel. Das zweite Newtonsche Axiom besagt ja bekanntlich, dass Kraft gleich Masse mal Beschleunigung ist. Daraus kann man das ebenso bekannte Newtonsche Gravitationsgesetz ableiten, nach dem die Gravitationskraft proportional zu den beteiligten Massen der Objekte und indirekt proportional zum Quadrat des Abstands zwischen ihnen ist.
Milgrom veränderte nun das zweite Newtonsche Axiom minimal. Bei “normalen” Beschleunigungen bleibt alles so wie es ist. Muss es ja auch, denn das zweite Newtonsche Axiom ist durch unzählige Beobachtungen und Experimente extrem gut bestätigt. Nur wenn die auf Himmelskörper wirkende Beschleunigungen extrem klein sind, weicht Milgroms Formel von Newtons Formel ab. Und “extrem klein” heißt hier auch wirklich sehr, sehr klein. Die Grenze, bei der die Modifikation von Milgrom wirksam wird, liegt bei Beschleunigungen von 0,0000000001 Metern pro Sekunde zum Quadrat. Sowas können wir in keinem Labor auf der Erde messen; so etwas kann man nur auf den sehr großen kosmischen Skalen beobachten; wenn sich Sterne und Galaxien bewegen. Aber genau darum geht es ja!
Milgroms modifiziertes Gravitationsgesetz stimmt also in so gut wie allen Fällen mit dem von Newton überein. Wenn es aber etwa darum geht die Bewegung von Sternen in Galaxien zu beschreiben, liefert es andere Ergebnisse. Dann zeigt sich genau das, was Zwicky und Rubin beobachtet haben: Himmelskörper bewegen sich so, als wäre da mehr Masse vorhanden als man sehen kann. Nur dass man diese “fehlende Masse” eben nun nicht mehr braucht. Es reicht das modifizierte Gravitationsgesetz.
Es ist jetzt keine große Überraschung, dass man mit der modifizierten Newtonschen Dynamik die Bewegung von Sternen in Galaxien korrekt beschreiben kann. Genau dafür wurde sie ja entwickelt. Die Frage ist: Ist sie eine korrekte Beschreibung des Universums? Wirkt die Gravitation bei sehr kleinen Beschleunigungen wirklich ein bisschen anders als bei größeren Beschleunigungen? Oder ist da draußen doch noch eine unbekannte Art von Materie die es unnötig macht, das Gravitationsgesetz zu verändern?
Diese Debatte wird seit Jahrzehnten geführt und es sieht nicht so aus, als würde man demnächst zu einem Ergebnis gelangen. Die Hypothese der dunklen Materie hat sehr viele Vorteile; sie erklärt nicht nur die Bewegung der Himmelskörper sondern ist auch nötig um zu erklären, wie sich das Universum nach dem Urknall entwickelt hat oder wie Galaxien entstehen. Man kann mit ihr sehr erfolgreich erklären, wie sich im jungen Universum Galaxien gebildet haben; ohne dunkle Materie wäre die Entstehung der Strukturen im Universum nicht erklärbar. Die Vorhersagen zu diesen Themen die von der Hypothese der dunklen Materie gemacht werden, stimmen mit entsprechenden Beobachtungsdaten überein, was zuversichtlich stimmt. Hinweise auf die Existenz noch unentdeckter Materie gibt es auch unabhängig von ganz anderer Seite; aus der Teilchenphysik. Auch hier fordern viele Hypothesen neue Arten von Teilchen von denen einige die Eigenschaften haben, die auch die dunkle Materie haben sollte. Andererseits konnten die Vorhersagen hier trotz vieler Experimente noch nicht bestätigt werden.
Die modifizierte Newtonsche Dynamik macht keine so umfassende Aussagen wie die dunkle Materie und kann viele Dinge nicht oder zumindest noch nicht erklären, wie zum Beispiel die Strukturbildung im frühen Universum. Und immer wieder kommt es vor, dass ein und die selbe Beobachtung von beiden Seiten als Beleg herangezogen wird. Zum Beispiel wenn es um Zwerggalaxien geht: So wie alle anderen Galaxien sollten auch Zwerggalaxien in große Wolken aus dunkler Materie gehüllt sein. Bzw. ist es eigentlich andersherum: Die großen Wolken aus dunkler Materie waren zuerst da und haben mit ihrer Gravitationskraft normale Materie in ihre Mitte gezogen, aus der dann die für uns sichtbaren Sterne der Galaxie entstanden sind. Es sollte aber auch Zwerggalaxien geben, die keine dunkle Materie enthalten; nämlich die, die aus der Wechselwirkung zweier großer Galaxien entstehen. Wenn zwei große Galaxien einander nahe kommen, können große Masse an Gas aus ihnen heraus gerissen werden, die sich später zu kleinen Zwerggalaxien formen, die aber dann keine dunkle Materie enthalten und auch zu wenig Masse haben, um relevante Mengen an dunkler Materie anzuziehen.
Genau so eine Zwerggalaxie in der man keine Spuren der Gravitationskraft dunkler Materie finden konnte, wurde 2018 entdeckt. Und als Beleg dafür präsentiert, dass die modifizierte Newtonsche Dynamik falsch ist. Denn MOND müsste ja überall gelten; in JEDER Galaxie müssten sich Abweichungen von der klassischen Gravitation zeigen. Wäre die Hypothese der dunklen Materie richtig, dann sollte man die Abweichungen nur dort sehen, wo viel dunkle Materie ist und ansonsten nicht. Und da man in der fraglichen Zwerggalaxien eben keine Abweichungen sehen konnte, kann MOND nicht stimmen.
Nein, war die Antwort der Vertreter der MOND-Hypothese. Denn die modifizierte Gravitation funktioniert ja gerade eben nicht so wie die normale. Bei der üblichen Beschreibung der Gravitation kann man – sehr vereinfacht gesagt – “Hintergrundbeschleunigungen” ignorieren. Wenn ich in einem Zug von meinem Sitzplatz zum Speisewagen gehe, braucht ich mich bei der Beschreibung meiner Bewegung nicht um die gleichmäßige Bewegung des Zuges kümmern. Genau so muss man sich bei der Beschreibung der Bewegung der Erde um die Sonne um die gleichzeitig stattfindende Bewegung der Sonne selbst kümmern. Das geht bei MOND aber nicht. Hier muss man immer alle wirkenden Kräfte, egal ob gleichmäßig oder nicht, berücksichtigen um festzustellen, ob die totale Beschleunigung über oder unter der Grenze liegt, ab der die Modifikation wirksam wirkt. Das nennt sich der “Externe Feld-Effekt” und im Fall der fraglichen Galaxie hat die Gravitationskraft einer größeren Galaxien in der Nachbarschaft die Zwerggalaxie gerade noch so stark beeinflusst und beschleunigt, dass man MOND nicht anwenden muss.
Verstärkt wird das Problem noch, dass wir eigentlich auch noch extrem genau wissen müssten, wie weit diese Galaxien entfernt sind, wie viele Sterne dort sind, und so weiter. All diese Daten kennen wir aber nur innerhalb gewisser Fehlergrenzen. Das gilt auch für die vielen anderen Fälle, bei denen die Vertreter von MOND und dunkler Materie über die korrekte Interpretation streiten. Wenn wir die Bewegung von Himmelskörper irgendwann einmal viel genauer messen können als heute, dann können wir vermutlich auch besser entscheiden, ob wir wirklich ein neues Gravitationsgesetz brauchen oder doch irgendwo fehlende Materie zu suchen ist.
Mich persönlich würde es ja absolut nicht überraschen, wenn die Realität noch einmal viel komplizierter ist als wir es uns jetzt vorstellen. Dass Albert Einsteins Beschreibung der Gravitation nicht das Ende der Dinge ist, wissen wir ja. Wir brauchen so oder so eine neue Theorie zur Gravitation die auch die Phänomene der Quantenwelt miteinschließt: Eine Theorie der Quantengravitation; die ominöse “Theorie von Allem”. Und warum soll es nicht noch unentdeckte Materie geben? Warum soll es nicht noch sehr viele, sehr verschiedene Arten von unentdeckter Materie geben, die vielleicht auch noch auf noch unentdeckte Art auf sehr komplexe Weise miteinander wechselwirkt? Es würde mich nicht überraschen, wenn wir tatsächlich in einem Universum leben, in dem die Bewegung der für uns sichtbaren Sterne von noch unbekannter Materie beeinflusst wird, deren Verhalten von noch unbekannten Kräften bestimmt wird. Ich wäre allerdings sehr überrascht – wenn auch sehr erfreut – sollten wir das in naher Zukunft irgendwann einmal zweifelsfrei feststellen können. Vermutlich müssen wir darauf aber noch sehr lange warten.
Für mehr Information zum Thema siehe auch diesen Artikel. Und diese Serie.
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