Das ist die Transkription einer Folge meines Sternengeschichten-Podcasts. Die Folge gibt es auch als MP3-Download und YouTube-Video. Und den ganzen Podcast findet ihr auch bei Spotify.
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Sternengeschichten Folge 442: Numerische Astronomie
In dieser Folge der Sternengeschichten geht es um eines der wichtigsten Instrumente der modernen Astronomie. Ein Instrument, über das ich erstaunlicherweise in den bisherigen 440 Folgen noch nie ausführlich geredet habe und dieses Versäumnis muss dringend behoben werden. Denn ohne dieses Instrument geht in der modernen Forschung gar nichts. Und ich spreche nicht von einem speziellen Teleskop oder einem Satellit. Sondern von dem, was vermutlich die meisten von uns zuhause oder am Arbeitsplatz stehen haben: Einen Computer.
Den benutzt man in der Astronomie natürlich genau so, wie wir ihn alle benutzen. Die Forscherinnen und Forscher schreiben damit ihre Fachartikel; sie rufen ihre Emails ab und recherchieren damit in Literaturdatenbanken. Vermutlich schaut man damit auch zwischendurch mal das eine oder andere YouTube-Video, das nichts mit Forschung zu tun hat, liest die Zeitung oder spielt vielleicht sogar zwischendurch mal ein Computerspiel. Man kann ja nicht immer nur arbeiten… Aber WENN man arbeitet, dann ist der Computer in der Astronomie weit mehr als ein organisatorisches Hilfsmittel. In der “numerischen Astronomie” steht der Computer gleichberechtigt neben dem Teleskop als Quelle für relevante Daten.
Klassisch lässt sich die Astronomie in zwei große Bereiche einteilen. Da ist einmal das, an das man sofort denkt, wenn man “Astronomie” hört: Die Beobachtung! In der beobachtenden Astronomie schaut man – wenig überraschend – zum Himmel und analysiert die Himmelskörper die man sieht. Früher fand diese Beobachtung mit den Augen statt; später hat man immer mehr technische Hilfsmittel wie Teleskope oder Satelliten genutzt. Ebenso lange wie die beobachtende Astronomie gibt es aber auch die theoretische Astronomie. Hier probiert man auf mathematischem Weg die Himmelskörper zu verstehen. Als etwa Johannes Kepler zu Beginn des 17. Jahrhunderts berechnet hat, wie man die Bewegung der Planeten beschreiben kann und seine berühmten Keplerschen Gesetze aufgestellt hat, war das theoretische Astronomie. Als Urbain LeVerrier im 19. Jahrhundert aus Unregelmäßigkeiten in der Bewegung des Planeten Uranus auf die Existenz eines weiteren, damals noch unbekannten Planeten geschlossen hat, war das theoretische Astronomie. Entdecken musste diesen Planeten dann natürlich jemand, der durch ein Teleskop schaut (was in dem Fall auch passiert ist und zum Fund von Neptun geführt hat). Beobachtung und Theorie sind unterschiedliche Gebiete, die dennoch fest zusammenhängen. Das eine kommt nicht ohne das andere aus. Lange Zeit über bestand die Arbeit der theoretische Astronomie zum Beispiel aus der Berechnung von Sternpositionen und der Erstellung entsprechender Himmelskarten. Und aus dem Berechnen und Verfassen langer Tabellen, die die Position der Planeten für konkrete Zeitpunkte der Zukunft vorhersagen. Ohne solche Kataloge, Karten und Tabellen kommt man bei der Beobachtung natürlich nicht aus. Früher haben die meisten Astronom:innen auch beobachtet UND gerechnet. Heute hat sich die Wissenschaft sehr viel mehr spezialisiert.
Ein bisschen rechnen muss man natürlich immer können, wenn man Astronomie betreiben will. Aber mittlerweile hat sich zwischen Theorie und Beobachtung ein komplett neues Gebiet etabliert: Die numerische Astronomie. Die wird immer ein wenig vernachlässigt, wenn man über die Forschung spricht. Das finde ich ungerecht. Denn erstens ist sie enorm wichtig und zweites war die numerische Astronomie auch mein eigenes Arbeitsgebiet. Es wird also Zeit, mal ein wenig ausführlicher darüber zu reden!
Als Naturwissenschaft will die Astronomie natürlich die Natur erforschen. Es geht darum herauszufinden, was da draußen im Universum tatsächlich und real passiert. Die Forschung der Astronomie muss sich also immer an echten Beobachtungsdaten orientieren. Man kann sich nicht einfach irgendwas ausdenken. Oder, etwas anderes gesagt: Man kann sich schon etwas ausdenken. Das muss man aber auf die richtige Weise tun, so dass es als vernünftige wissenschaftliche Hypothese durchgeht. So eine Hypothese, so eine Vermutung muss prinzipiell durch Beobachtungen überprüfbar sein. Manche Dinge lassen sich in der Astronomie nur sehr schwer überprüfen und manche lassen sich so gut wie nicht beobachten. Genau hier kommt die numerische Astronomie ins Spiel.
Nehmen wir eine ganz klassische Frage: Man hat – durch Beobachtung – einen Asteroid entdeckt. Und will jetzt wissen, wo der in Zukunft hinfliegt. Man will vor allem wissen, ob er irgendwann mit der Erde kollidiert. Aus den Beobachtungsdaten kann man nun natürlich seine Umlaufbahn um die Sonne berechnen. Aber das reicht nicht. Denn wie ich in vielen Folgen schon erzählt habe, sind die Umlaufbahnen der Himmelskörper nicht fix. Sie ändern sich dauernd, weil alle Himmelskörper im Sonnensystem einander mit ihrer Gravitationskraft beeinflussen. Das kann man natürlich auch alles entsprechend berechnen. Zumindest im Prinzip… In der Praxis wird das sehr schnell sehr kompliziert. Denn ändern sich die Positionen der Himmelskörper, dann ändert sich auch die Stärke der Anziehungskraft, die sie ausüben. Und dadurch ändern sich die Positionen – wodurch sich die Anziehungskraft wieder ändert. Und so weiter, bis in die Unendlichkeit. Man kann zwar mathematisch die Gesetze beschreiben, denen die Bewegung der Himmelskörper folgt. Das ist das, was Menschen wie Johannes Kepler, Isaac Newton oder Albert Einstein getan haben. Man kann diese Gleichungen aber nicht mehr exakt lösen, wie ich in Folge 175 schon genauer erklärt habe. Da sich alle Himmelskörper gegenseitig beeinflussen und die Stärke des Einflusses bestimmt, wie stark der Einfluss ist, kriegt man eine Art unendliche Rückkopplung die schlicht und einfach mathematisch nicht mehr exakt darstellbar ist. Jetzt hat man zwei Möglichkeiten. Oder eigentlich drei: Natürlich kann man sich einfach auf den Beobachtungsstandpunkt zurückziehen und sagen: Ich SCHAUE einfach, ob der Asteroid mit der Erde kollidiert oder nicht. Das ist aber unpraktisch, denn sowas will man gerne vorher wissen. Und es ist ein weiteres Mal unpraktisch, weil es unter Umständen Jahrzehnte, Jahrhunderte oder Jahrtausende dauert, bis es so weit ist. Und wenn ich nicht an der Bewegung eines Asteroiden interessiert bin, sondern an der Bewegung von zum Beispiel Galaxien, dann dauert es Jahrmilliarden. Das kann man alles zwar im Prinzip beobachten. In der Praxis aber nicht. Von den verbleibenden zwei Möglichkeiten ist die erste der klassische theoretische Ansatz: Man probiert, die mathematischen Gleichungen so weit zu vereinfachen, dass man trotzdem irgendwelche brauchbaren Lösungen kriegt. Im Fall der Bewegung der Himmelskörper nennt sich das dann “Störungsrechnung” und ich habe in Folge 96 ein bisschen was dazu erzählt. Am Ende kriegt man dann eine Ahnung, wie sich der Asteroid bewegt. Aber man hat unterwegs so viele Vereinfachungen machen müssen, dass man nicht mehr wirklich gut vorhersagen kann, was in der Zukunft passieren wird. Vor allem muss man wirklich viel rechnen, wenn man das herausfinden wollen würde.
Das war früher nicht möglich. Man wusste zwar, was man rechnen muss. Aber es war schlicht und einfach zu viel Arbeit, die Rechnungen auch konkret durchzuführen. Wenn man alles händisch mit Bleistift auf Papier ausrechnen muss, gibt es Grenzen. Man kann die Position der Himmelskörper vielleicht für ein paar Jahre halbwegs genau vorhersagen. Aber es ist praktisch unmöglich zu wissen, was in ein paar Jahrhunderten passieren wird oder gar in ein paar Millionen Jahren. Bleibt Möglichkeit drei: Die numerische Astronomie. Würde ich jetzt sagen, dass die darin besteht, einfach mit dem Computer zu rechnen, als mit der Hand, der wäre das zu sehr vereinfacht. Aber im Prinzip geht es genau darum. Eben weil wir seit ein paar Jahrzehnten die Möglichkeit haben, Rechnungen am Computer durchzuführen, können wir wesentlich mehr machen als vorher. Wir können die Bewegung der Himmelskörper immer noch nicht exakt bestimmen; das verbietet die zugrunde liegende Mathematik. Aber wir können sie quasi beliebig exakt annähern. Dazu bauen wir uns im Computer ein Modell des Sonnensystems. Wir kennen aus Beobachtungen die aktuellen Positionen der Himmelskörper. Wir kennen aus der Theorie die Gesetze, die die Bewegung bestimmen. Und aus der Mathematik wissen wir auch, wie wir solche Gleichungen wenn schon nicht exakt, dann zumindest näherungsweise lösen können. Der Fehler unserer Lösung wird umso größer, je weiter wir in die Zukunft schauen wollen. Also schauen wir einfach nur sehr kurz in die Zukunft und berechnen, wie die Position der Planeten morgen sein wird. Das hilft uns vorerst nicht viel weiter. Aber ein Computer kann diese Rechnung sehr schnell anstellen. Und dann nehmen wir den morgigen Zustand einfach als neuen Startpunkt für eine weitere Rechnung und schauen, wie es übermorgen aussieht. Und so weiter. Am Ende können wir mit diesen numerischen Modellen ein paar Jahrtausende oder Jahrmillionen weit in die Zukunft schauen.
Auch hier gibt es natürlich Grenzen. Die Beobachtungsdaten sind nicht beliebig genau und diese Fehler setzen sich bei den Berechnungen fort. Man kann den aktuellen Zustand des Sonnensystems auch anderweitig nicht beliebig genau festhalten. Man müsste zum Beispiel berücksichtigen, dass jeder Himmelskörper eine unregelmäßige Form hat und seine Masse nicht exakt gleichmäßig verteilt ist. Man müsste nicht nur den gravitativen Einfluss der großen Planeten berücksichtigen, sondern auch den der vielen kleinen Milliarden Asteroiden. Das ist alles prinzipiell möglich; aber irgendwann stößt man an die Grenzen der aktuellen Computertechnik. Trotzdem lassen sich mit numerischen Modellen sehr gute Aussagen über die Zukunft machen, denn die kleinen Fehler fallen nur dann ins Gewicht, wenn man entweder extrem genaue Ergebnisse haben will oder aber sehr weit in die Zukunft blicken möchte.
Numerik ist aber weit mehr, als nur ein paar Zahlen in einen Computer zu tippen. Es gibt in der numerischen Astronomie so gut wie keine vorgefertigte Software. Jede Forschungsfrage ist so speziell, dass man sich so gut wie immer seine eigenen Programme schreiben muss. Man muss die richtige Näherungsmethode für die vorliegenden Gleichungen finden; die richtige Strategie, wie man diese Gleichungen am Computer löst und braucht ein gutes astronomisches Verständnis um das Modell so aufsetzen zu können, dass man am Ende die Antworten auf genau die Frage kriegt, die man gestellt hat. Ein Beispiel: Wenn ich wissen will, wie sich die Asteroiden in der Nähe der Erde bewegen, wie muss ich dann den Zeitschritt der Simulation wählen? Also den “Sprung” in die Zukunft, den ich bei jedem Berechnungsschritt mache? Beim meiner Erklärung vorhin habe ich einen Tag gewählt, das aber war rein willkürlich. Das muss man immer auf das Problem abstimmen und im Fall der erdnahen Asteroiden muss ich mir zum Beispiel überlegen, was mit Merkur und mit Neptun ist. Neptun braucht 165 Jahre für eine Runde um die Sonne. Merkur dagegen nur 88 Tage. Ein erdnaher Asteroid braucht ungefähr ein Jahr. Wenn ich jetzt eine Million Jahre in die Zukunft schauen will, und einen Zeitschritt von einem Tag wähle, muss ich eine Million mal 365 die gravitative Wechselwirkung zwischen allen beteiligten Himmelskörpern ausrechnen. Das kann einen Computer schnell an seine Grenzen bringen (man hat ja in der Wissenschaft auch nicht immer beliebig viel Geld zur Verfügung um bessere Geräte zu kaufen). Also nehmen wir vielleicht besser ein halbes Jahr als Zeitschritt? Dann bräuchten wir nur eine halbe Million Rechenschritte – würden aber den Merkur in der Simulation verlieren: Wenn ich den Zustand des Sonnensystems nur alle knapp 183 Tage (also ein halbes Jahr) betrachte, der Merkur aber in 88 Tage einmal um die Sonne rum ist, dann kann ich seine Bewegung in der Simulation nicht mehr auflösen. Jetzt ist der Merkur ein recht kleiner Planet mit recht geringer Masse. Sein gravitativer Einfluss ist ebenso gering und man kann sich nun überlegen, ob das Ergebnis der Simulation signifikant ungenauer wird, wenn man ihn einfach weglässt. Das muss man natürlich testen und mit den eigenen Ansprüchen an die von der Simulation gewünschten Antworten abstimmen. In manchen Fällen wird man Merkur ignorieren können, in manchen dagegen nicht. Umgekehrt mit Neptun hat man ein ähnliches Problem: Wenn man zum Beispiel feststellt, dass man Merkur braucht, wird man den Zeitschritt auf zum Beispiel höchstens circa 10 Tage setzen können um gute Ergebnisse zu kriegen. Man bräuchte dann aber auch auf jeden Fall mindestens 6022 Rechenschritte, um damit einen kompletten Umlauf des Neptuns zu simulieren. Will man wirklich wissen, wie der Einfluss des Neptuns ist, reicht aber ein einziger Umlauf nicht; da wird man vielleicht ein paar zehntausend Umläufe oder noch mehr benötigen – und entsprechend viele Rechenschritte. Also muss man sich überlegen, ob man Neptun rauswerfen kann oder nicht.
Wenn man numerische Astronomie betreibt, muss man also definitiv auch die astronomischen Phänomene gut verstehen um die es geht; es reicht nicht, einfach nur ein paar Computerprogramme zu schreiben. Und die Numerik spielt nicht nur bei der Bewegung der Himmelskörper eine Rolle. Man braucht sie überall! Zum Beispiel wenn wir Sterne verstehen wollen. Auch da können wir nicht direkt reinschauen; auch hier müssen wir Computersimulationen und Beobachtungsdaten kombinieren. Und auch hier müssen wir wissen, WIE wir rechnen sollen. Reicht vielleicht ein zweidimensionales Modell des Sterns aus oder müssen wir die ganzen wirbelnden und strömenden Gasmassen dreidimensional am Computer simulieren? Was müssen wir alles simulieren um an Ende Vorhersagen über die Auswirkungen an der Oberfläche des Sterns machen zu können, die der Beobachtung zugänglich ist? Und so weiter – ohne Numerik geht es nicht. Also 2015 die Entdeckung der ersten Gravitationswellen bekannt gegeben wurde, hat man verkündet, man habe die Auswirkungen der Kollision zweier schwarzer Löcher gemessen. Was auch richtig war, aber nicht die ganze Geschichte. Die entsprechenden Gravitationswellen waren absurd schwach und das Meßgerät absurd groß (mehrere Kilometer lang). Es war auch extrem empfindlich und hat ALLES gemessen; jede kleinste Erschütterung in der Umgebung. Will man in all diesem Datenrauschen die Gravitationswellen zweier kollidierender schwarzer Löcher finden, muss man GENAU wissen, wonach man sucht. Und woher weiß man das? Weil zuvor sehr viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sehr viel Arbeitszeit damit verbracht haben, neue Methoden zu entwickeln, wie man die Kollision von schwarzen Löchern am Computer berechnen und die dabei entstehenden Gravitationswellen vorhersagen kann!
In der Astronomie geht es immer noch um Sterne, Planeten und Galaxien. Aber wir stehen schon längst nicht mehr nur Nacht für Nacht am Teleskop und schauen in den Himmel. Das ist weiterhin wichtig. Aber ohne das Universum im Computer wüssten wir heute längst nicht so viel über das Universum da draußen.
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