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Sternengeschichten Folge 463: Waltraut Seitter: Die erste Astronomin Deutschlands und die Expansion des Universums
Waltraut Seitter war die erste Astronomin Deutschlands. Und bevor sich jemand beschwert: Das ist natürlich falsch. Es hat immer schon Frauen gegeben, die sich mit Astronomie beschäftigt haben, schon lange bevor es so etwas wie Deutschland gab und ich habe in den vergangenen Folgen der Sternengeschichten auch immer wieder von ihrem Leben und ihrer Forschung erzählt. Es gab auch in Deutschland Astronominnen, lange bevor Waltraut Seitter am 13. Januar 1930 in Zwickau geboren wurde. Aber in einer ganz konkreten Hinsicht war Waltraut Seitter tatsächlich die erste Astronomin Deutschlands und ganz unabhängig davon lohnt es sich, auf ihr Leben in der Astronomie zu schauen.
Waltraut Carola Seitter wurde in Zwickau geboren, zur Schule ging sie aber in Köln. Dort hat sie unter anderem als Straßenbahnschaffnerin gearbeitet und als technische Zeichnerin; vermutlich inspiriert von der Arbeit ihres Vaters, der Ingenieur bei den Horch-Werken war, einem Autohersteller, der später dann als “Audi” bekannt geworden ist. Nach ihrem Abitur im Jahr 1949 begann sie ebenfalls in Köln ein Studium der Physik, Mathematik, Chemie und Astronomie. Ein paar Jahre später führte sie ihr Studium in Massachusetts fort, dass sie dort auch 1955 beendete und am Smith College in Northampton als Dozentin für Astronomie arbeitete. Dann ging es wieder zurück nach Deutschland, nämlich ans Observatorium Hoher List der Universität Bonn. Dort beendete sie auch ihre Doktorarbeit und zwar im Jahr 1962. Es folgten ein paar Jahre als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Bonn und eine Gastprofessur an der Vanderbilt University in Nashville, Tennessee. Danach wurde sie Professorin am Smith College, wo sie schon während ihrer Studienzeit gelernt und gearbeitet hatte. 1975 kehrte sie ein weiteres Mal zurück nach Deutschland, diesmal um eine Stelle als Professorin des Astronomischen Instituts der Universität Münster anzunehmen, wo sie auch Direktorin wurde.
So weit klingt das alles nach einer normalen, erfolgreichen Karriere in der Astronomie. Was ja auch stimmt – mit einer Ausnahme. Ganz und gar nicht normal an Waltraut Seitters Lebenslauf war die Tatsache, dass es bis 1975 keine Frau in Deutschland gab, die einen Lehrstuhl für Astronomie besetzte. Seitter war die erste Professorin für Astronomie Deutschlands. Es ist ein wenig peinlich, dass es bis in die Mitte der 1970er Jahre gedauert hat, bevor man einer Frau so eine Stellung zugestanden hat. Aber immerhin HAT Seitter ihre Professur bekommen und das alles andere als unverdient.
Zu Beginn ihrer wissenschaftlichen Karriere beschäftigte sich Seitter vor allem mit den spektroskopischen Eigenschaften der Sterne, also der Analyse ihres Lichts, aus dem sich zum Beispiel herausfinden lässt, aus was so ein Stern besteht, wie weit er entfernt ist oder wie schnell er sich bewegt. Ziemlich bald verlagerte sich ihr Forschungsschwerpunkt aber auf Novae, Supernovae und andere Arten eruptiver Sterne. Das sind alle Arten von astronomischen Phänomenen, bei denen ein Stern seine Helligkeit in kurzer Zeit sehr dramatisch ändert. Der bekannteste Fall ist sicherlich die Supernova: Hier explodiert ein großer Stern am Ende seines Lebens und leuchtet für kurze Zeit dabei so hell wie all die Milliarden Sterne einer Galaxie zusammen. Eine Nova ist, wie der Name andeutet, so ähnlich, nur nicht so super. Dafür braucht man zwei Sterne, einen kleinen Stern, der sein Leben schon beendet hat und zu einem weißen Zwerg geworden ist. Dem also das passiert ist, was unserer Sonne in ein paar Milliarden Jahren passieren wird. Wenn die Sonne den Brennstoff in ihrem Inneren verbraucht hat und die Kernfusion dort langsam zum Erliegen kommt, wird sie zuerst ihre äußeren Atmosphärenschichten ins All hinaus pusten. Zurück bleibt der innere Rest, eine Kugel aus extrem verdichteten Gas, so groß wie die Erde. Das ist ein weißer Zwerg und dort findet keine Kernfusion mehr statt. Es sei denn, es handelt sich um ein Doppelsternsystem. Dann gibt es in seiner Nähe noch einen zweiten Stern und wenn die beiden sich wirklich nahe sind, kann Material von diesem Stern auf den weißen Zwerg fallen. Das kann ausreichen, damit dort plötzlich wieder Kernfusion einsetzt. Der weiße Zwerg leuchtet ebenso plötzlich hell auf und wird zur Nova. Je nachdem wie das genau abläuft, kann dieses Aufleuchten unregelmäßig oder regelmäßig stattfinden.
Novae und Supernovae sind für sich genommen schon sehr spannende Phänomene und sie verraten uns viel darüber, wie Sterne funktionieren. Sie sind aber auch interessant, wenn man mehr über das ferne Universum wissen will. In anderen Galaxien kann man keine Einzelsterne mehr beobachten; dafür sind sie zu weit weg. Aber wenn es dort zum Beispiel eine Supernova gibt, ist die so hell, dass man sie auch noch aus großer Entfernung wahrnehmen kann. Und weil man weiß, wie eine Supernova abläuft, kann man auch vorhersagen, wie hell sie eigentlich leuchten sollte. Zumindest gilt das für bestimmte Arten von Supernova-Explosionen, die aus immer den gleichen Gründen auf immer die gleiche Art stattfinden und damit auch immer die gleiche Leuchtkraft haben. Der einzige aus der Ferne wahrnehmbare Unterschied ist die Helligkeit, die wir von der Erde aus sehen und dieser Unterschied hat seine Ursache im Abstand. Je weiter weg die Supernova und damit die Galaxie, desto schwächer können wir sie beobachten. Anders gesagt: Die Beobachtung von Supernovae kann man zur Distanzbestimmung verwenden. Nutzt man dann die Technik der Spektroskopie, analysiert also die Zusammensetzung des Lichts der Supernova, kann man daraus auch die Geschwindigkeit messen, mit der sich die Supernova und die Galaxie in Bezug auf uns bewegen.
Das ist tatsächlich fundamentaler, als es auf den ersten Blick aussieht. Wir wissen ja seit den 1920er Jahren, dass sich das Universum ausdehnt. Darüber habe ich ja schon in den Folge 249 und 250 der Sternengeschichten ausführlich gesprochen. Da sich wegen dieser Expansion, auf großen Maßstäben, alles von allem entfernt, können wir beobachten, wie sich ferne Galaxien umso schneller von uns fortbewegen, je weiter sie entfernt sind. So weit, so gut – aber man muss auch noch berücksichtigen, dass die Astronomie in der einmaligen Lage ist, in die Vergangenheit zu blicken. Licht braucht Zeit, um die gigantischen Entfernungen im Kosmos zu überbrücken. Licht ferner Galaxien kann Milliarden Jahre zu uns unterwegs sein und wenn wir es dann hier im Teleskop auffangen, sehen wir die Galaxie so, wie so vor Milliarden Jahren ausgesehen hat.
Zusammengenommen heißt das: Durch die Beobachtung von Supernova-Explosionen in fernen Galaxien können wir erstens bestimmen, wie weit diese Galaxien genau von uns entfernt sind. Wir können zweitens herausfinden, wie schnell sie sich von uns entfernen. Und weil das Licht unterschiedlich weit entfernter Galaxien unterschiedlich lange zu uns unterwegs ist, können wir schließlich drittens bestimmen, wie schnell sich Galaxien zu unterschiedlichen Zeitpunkten in der Vergangenheit voneinander entfernt haben.
Zumindest in der Theorie. In der Praxis ist das alles sehr knifflig zu beobachten. Aber man WILL es natürlich beobachten; es ist ja durchaus relevant zu wissen, wie sich das Universum in der Vergangenheit verhalten hat. Lange Zeit hat man sich das so vorgestellt: Mit dem Urknall vor 13,8 Milliarden Jahren hat das Universum angefangen, sich auszudehnen. Die Expansion des Raums treibt die Galaxien voneinander fort. Gleichzeitig wirkt aber zwischen den Galaxien auch die anziehende Gravitationskraft. Die Expansion schiebt die Galaxien auseinander, die Gravitationskraft wirkt dieser Expansion aber entgegen und bremst sie ein bisschen. Die Expansion des Kosmos sollte also seit dem Urknall immer langsamer geworden sein und je nachddem wie viel Materie insgesamt im Universum vorhanden ist und wie stark daher die Gravitationskraft ist, die sie ausüben kann, kann die Expansion vielleicht irgendwann komplett zum Stillstand kommen.
Schauen wir wieder zurück zu Waltraut Seitter. In den 1980er Jahren rief sie das “Münster Redshift Project” ins Leben. Über Jahre hinweg untersuchte ein ganzes Team von Astronominnen und Astronomen die großräumige Verteilung von Galaxien im Universum, bestimmte Abstände und Geschwindigkeiten. Aus der Arbeit an diesem Projekt entstanden Dutzende Forschungsartikel, es gab internationale Konferenzen dazu und 1998 veröffentlichte Waltraut Seitter gemeinsam mit ihrem Kollegen Peter Schuecker eine Arbeit mit dem Titel “Die Abbremsung der kosmischen Expansion”. Um zu verstehen, was daran so besonders ist, müssen wir kurz noch einen Blick auf den sogenannten “Deceleration parameter” werfen, den “Abbremsungsparameter”. Das ist eine in der Kosmologie verwendete Maßzahl, die vom “Skalenfaktor” abhängt. Ohne zu sehr in die mathematischen Details zu gehen, beschreibt man damit die relative Ausdehnung des Universums. Wenn man die Entfernung zwischen zwei Galaxien zu einem bestimmten Zeitpunkt misst und das mit der Entfernung zu einem fixen Referenzzeitpunkt vergleicht, ist das Verhältnis dieser beiden Entfernungen gerade der Skalenfaktor. Wenn sich die Ausdehnungsrate des Universums verändert, dann ändert sich auch der Skalenfaktor und diese Änderung wird durch den Abbremsungsparameter beschrieben.
Der Deceleration Parameter beschreibt also, mit welcher Rate die Expansion des Universums im Laufe der Zeit langsamer oder schneller wird. Obwohl der Name “Abbremsungsparameter” ja schon zeigt, dass man allgemein davon überzeugt war, dass es langsamer werden sollte. Nun. Seitter und Schuecker haben sich die Daten aus dem Münster Redshift Project sehr genau angesehen und probiert, daraus einen Wert für den – zu der Zeit – noch nicht konkret gemessenen Abbremsungsparameter zu berechnen. Man ging davon aus, dass der Wert irgendwo zwischen 0,5 und 0,1 liegen sollte; je nachdem wie viel Materie tatsächlich insgesamt im Universum vorhanden ist. Aber er sollte auf jeden Fall größer als Null sein, denn genau das wäre von einem Universum zu erwarten, dass im Laufe der Zeit immer langsamer expandiert.
Das war auch ungefähr das Ergebnis, zu dem Seitter kam. Am Ende ihres Artikels wird festgestellt: Folgt man den Annahmen über die Verteilung von Galaxien im Universum, die damalige Modelle liefern, dann kriegt man aus den Beobachtungsdaten einen Wert von 0,1. Nimmt man aber nur die reinen Beobachtungen, dann scheint der Wert kleiner als 0,1 zu sein, schreiben Seitter und Schuecker. Und je nachdem mit welchen Methoden sie ihre Daten auswerteten, gab es sogar manchmal Werte des Parameters, die kleiner als Null waren. Das schrieben Seitter und Schuecker aber formalen Aspekten ihrer mathematischen Methoden zu und betrachteten es nicht als realen Effekt. Trotzdem beenden sie ihren Artikel mit der Aussage, dass ihre Beobachtungsdaten nicht mit bestimmten Standardmodellen der Kosmologie übereinstimmen.
Nur ein paar Monate nachdem Seitter und Schuecker diese Arbeit veröffentlicht hatten, gab es eine der größten Entdeckungen, die in der Astronomie bis dahin stattgefunden hatten. Zwei internationale Forschungsteams hatten unabhängig voneinander ebenfalls Supernova-Explosionen in fernen Galaxien beobachtet. Mit Methoden, die sehr viel genauere Aussagen zuließen als die in der Arbeit von Seitter und Schuecker. Das Resultat war bei beiden Gruppen gleich und gleichermaßen unerwartet: Der Abbremsungsparameter war eindeutig negativ. Oder anders gesagt: Die Expansion des Universums wird gar nicht langsamer, sondern schneller! Es dehnt sich immer schneller aus und niemand weiß, warum das so ist. Es muss etwas im Kosmos geben, eine Kraft, eine Energie oder sonst irgendwas, die für diese beschleunigte Expansion sorgt. Wir haben diesem unbekannten Phänomen den Namen “dunkle Energie” gegeben, wissen aber immer noch nicht so genau, worum es sich dabei handelt.
Waltraut Seitter hat die dunkle Energie nicht entdeckt. Aber ihre Arbeit hat die Grundlage dafür gelegt und sie hat die ersten, zarten Hinweise auf dieses rätselhafte Phänomen der beschleunigten Expansion geliefert. Die erste Astronomin Deutschlands starb am 15. November 2007. Vier Jahre später wurden die Entdecker der dunklen Energie mit dem Physik-Nobelpreis ausgezeichnet. Vermutlich hätte sie sich darüber gefreut.
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