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Sternengeschichten Folge 477: Parkplätze im All: Lissajous- und Halo-Umlaufbahnen
In der letzten Folge der Sternengeschichten habe ich von den Lagrange-Punkten erzählt. Sehr ausführlich und das will ich deswegen nicht wiederholen. Angefangen hat alles mit der Frage, wo man Raumfahrzeuge, Satelliten oder Weltraumteleskope am besten “parken” kann, wenn sie nicht in einer Umlaufbahn um einen Planeten sind oder sein können. Dann kann man sie entweder direkt um die Sonne kreisen lassen. Oder – und das ist in vielen Fällen nötig – in die Nähe eines Lagrange-Punktes bringen. Warum das nötig ist, werden wir später in der Folge noch besprechen. Bleiben wir zuerst noch kurz bei den Lagrange-Punkten. Das sind Punkte im All, an denen sich alle auf ein Objekt wirkenden Kräfte genau aufheben. Das zumindest ist die übliche Ein-Satz-Erklärung; die ausführliche Version gab es ja schon in der letzten Folge.
Ich fasse aber trotzdem noch einmal das Resultat zusammen: Wenn wir zwei Himmelskörper betrachten, also zum Beispiel die Erde und die Sonne, dann gibt es in Bezug auf die in diesem Fall wirkenden Kräfte fünf Lagrange-Punkte, die mit L1 bis L5 bezeichnet werden. L1 bis L3 finden wir entlang einer Linie, die durch Erde und Sonne gezogen wird. L1 befindet sich dann auf dieser Linie zwischen Erde und Sonne, bei L2 liegt die Erde zwischen Sonne und L2 und bei L3 die Sonne zwischen L3 und der Erde. Oder, nochmal anders, wenn wir die Linie entlang gehen, dann lautet die Reihenfolge: L3, Sonne, L1, Erde und L2.
L4 und L5 sind nicht auf dieser Linie zu finden; sie liegen entlang der Erdbahn und zwar exakt 60 Grad vor der Erde und 60 Grad dahinter, so dass L4 bzw L5, Sonne und Erde ein gleichseitiges Dreieck bilden.
Und jetzt nehmen wir ein Raumfahrzeug, fliegen das in einen der Punkte, stellen dort den Motor aus und alles ist gut? Nicht ganz. Es ist ein bisschen komplizierter – aber auch nicht so kompliziert, dass man es nicht verstehen könnte. Schauen wir zuerst aber einmal, warum man ein Raumfahrzeug überhaupt in einem Lagrange-Punkt “parken” wollen würde.
Wenn man kann, dann wird man einen Satellit oder ein Teleskop immer in einer Umlaufbahn um die Erde belassen. Es dort hin zu kriegen kostet vergleichsweise wenig Treibstoff. Und es ist zumindest prinzipiell in der Nähe und erreichbar für weitere Raumfahrzeuge, die zum Beispiel Reparaturen durchführen können. So war es ja beim Hubble-Weltraumteleskop der Fall; wenn das nicht in einer Erdumlaufbahn gewesen wäre, dann hätte es nicht gewartet werden können und hätte nicht so lange so gut funktioniert (bzw. gar nicht funktioniert, weil es ja schon beim Start nicht völlig funktionstüchtig war). Aber es geht halt nicht immer alles in der Nähe der Erde. Das ist offensichtlich, wenn man zum Beispiel den Mars erforschen will oder den Jupiter. Dann muss man dorthin – aber viele Raumsonden haben auch ganz andere Ziele. Sie wollen die Sonne beobachten oder fernste Galaxien. Sie wollen das Weltraumwetter studieren oder so viele Sterne wie nur möglich kartografieren. Wieso kann man das nicht aus einer Erdumlaufbahn heraus machen?
Kann man in manchen Fällen ja auch. Aber in manchen nicht. Nehmen wir zum Beispiel das James-Webb-Weltraumteleskop. Das ist ein Infrarotteleskop und damit ganz anders als etwa das Hubble-Teleskop, das normales Licht beobachtet hat. Wenn man etwas beobachtet, dann darf es keine Störungen geben. In einer Sternwarte schaltet man das Licht in der Teleskopkuppel ja auch aus, bevor man beobachtet. Wenn man also ferne und schwache Himmelsobjekte sehen will, wäre es doof, wenn gleich daneben die helle Sonne im Blickfeld steht. Für sowas gibt es entsprechende Abschirmungen. Aber trotzdem fliegt etwa das Hubble-Weltraumteleskop alle paar Stunden durchs pralle Sonnenlicht und dann wieder durch eiskalte Dunkelheit. Das belastet das Material; außerdem ist ständig ein Teil des Himmels nicht zu sehen, weil die Erde im Weg steht oder die Sonne oder der Mond. Diese Nachteile muss man gegenüber den Vorteilen eines erdnahen Orbits abwägen; bei einem Infrarot-Teleskop kommt aber dazu, dass man hier nicht nur mit störendem Licht von der Sonne zu kämpfen hat. Auch die Erde gibt Infrarot- also Wärmestrahlung ab. Das sensible James-Webb-Teleskop wäre also in einer Erdumlaufbahn völlig falsch aufgehoben und könnte dort nicht vernünftig beobachten. Man muss es weit weg von der Erde bringen. Das kann theoretisch irgendwo in einer Umlaufbahn um die Sonne sein. Aber wenn man sich den Lagrange-Punkt L2 aussucht, hat das ein paar extra Vorteile.
Erinnern wir uns: Von L2 aus gesehen steht die Erde immer genau vor der Sonne. Das Teleskop kann also einerseits die Erde als Sonnenschild zweckentfremden, andererseits aber auch seinen eigenen Sonnenschild optimal einsetzen und immer Erde und Sonne gleichzeitig damit abdecken. Von der Erde aus betrachtet findet man L2 immer zur gleichen Zeit an der gleichen Stelle des Himmels was die Kommunikation und die Datenübertragung einfacher macht. Also parkt man das Webb-Teleskop direkt in L2? Nein – das wäre zu einfach. Erstens möchte man das gar nicht, denn wenn etwa die Erde immer die Sonne verdeckt, dann hat das auch negative Folgen für die Energieversorgung. Irgendwo müssen die Solarzellen ja Licht herkriegen. Und andererseits würde das auch gar nicht gehen. Die Lagrange-Punkte L1 bis L3 sind sogenannte instabile Gleichgewichtspunkte. L4 und L5 nicht, aber darum kümmern wir uns ein anderes Mal.
Ich habe das ja in der letzten Folge sehr genau erklärt: In diesen drei Lagrangepunkten wirken die Anziehungskräfte von Sonne und Erde genau so zusammen, dass sich ein Objekt in dieser Position genau so schnell um die Sonne herum bewegt wie die Erde, obwohl es der Sonne näher – oder ferner – ist als die Erde. Das gilt aber wirklich nur exakt für diese drei Positionen von L1 bis L3. Würde sich ein Objekt auch nur ein kleines Stückchen aus diesem Punkt entfernen, ein bisschen zur Sonne hin oder von der Sonne weg, dann wäre das Gleichgewicht gestört; eine der beiden Anziehungskräfte würde die Überhand gewinnen und das Raumfahrzeug würde sich zwangsläufig immer weiter entfernen. Es ist so wie mit einem Ball, den man am Gipfel eines Hügels platziert. Wenn er exakt an der höchsten Stelle liegt, dann bleibt er auch dort. Aber wenn er nur ein Stückchen nach unten rollt, dann wird er zwangsläufig auch den ganzen Hügel runterrollen. In der Realität könnte man ein Raumfahrzeug auch nicht exakt in einem Lagrangepunkt platzieren. Die existieren so nur in einem abstrakten mathematischen Modell. Ein Raumfahrzeug, selbst ein kleines, ist immer größer als ein Punkt; es gibt nicht nur Erde und Sonne, sondern auch andere Himmelskörper die mit ihrer Gravitationskraft Störungen ausüben, und so weiter. Das Gleichgewicht ist in der Praxis also immer gestört.
Alles was ich gerade gesagt habe gilt aber nur, wenn man sich in Richtung der Verbindungslinie zwischen Erde und Sonne bewegt. Also in der Ebene bleibt, in der sich die Umlaufbahn der Erde befindet. Wenn ich mich senkrecht dazu entferne, also ein bisschen “über” oder “unter” dem Lagrange-Punkt bin, dann zieht mich die Gravitationskraft wieder zurück.
Am Ende bleibt es aber dabei: Wenn ich mich nicht exakt und ungestört in L1, L2 oder L3 befinde – und das ist in der Praxis unmöglich – dann werde ich aus dem Lagrange-Punkt wieder rausdriften. Was aber nicht heißt, dass es keinen Sinn machen würde, diese Lagrange-Punkte anzusteuern! Aus all den vorher genannten Gründen – Abschirmung, Kommunikation, etc – sind sie gut für diverse Weltraummissionen geeignet. Man muss sich halt ein bisschen anstrengen, wenn man dort bleiben will und jetzt sind wir endlich bei den Lissajous- und Halo-Umlaufbahnen aus dem Titel angelangt.
Fangen wir mit Lissajous an. Das ist der Nachname von Jules Antoine Lissajous; ein französischer Physiker aus dem 19. Jahrhundert. Er hat festgestellt, dass zwei sich überlagernde Schwingungen sehr schöne Figuren ergeben. Das kann man sich sehr einfach so vorstellen: Wir nehmen ein großes Pendel, binden einen Eimer Farbe daran, machen ein Loch in den Eimer und lassen das Pendel schwingen. Und zwar nicht einfach nur stur in einer Linie hin und her. Wir geben dem Pendel quasi einen Drall, so dass es nicht nur vor und zurück sondern auch gleichzeitig nach links und rechts schwingt. Dann wird die Farbspur am Boden auch kein simpler Strich sein, sondern eine komplexe Figur, deren Aussehen vom Verhältnis der beiden Schwingungsfrequenzen abhängt. Probiert das gerne mal aus – aber legt vorher was unter, sonst wird es eine große Sauerei. Man diese Lissajous-Figuren und mit der richtigen Mathematik kann man aus ihrem Aussehen rekonstruieren, welche Schwingungen involviert sind. Das ist aus vielen Gründen wichtig, wir wollen ja aber wissen, was eine Lissajous-Umlaufbahn ist.
Vereinfacht gesagt: Die Umlaufbahn eines Objekts, wenn es sich um einen Lagrange-Punkt bewegt und sich dabei NICHT in der gleichen Ebene befindet wie Erde und Sonne. Bevor ich das erkläre, muss ich aber noch mal kurz sagen was es eigentlich heißt, wenn man sich “um” einen Lagrange-Punkt bewegt. Das ist ein wenig missverständlich, denn in so einem Lagrange-Punkt ist ja nichts. Das ist einfach nur ein Punkt im Weltall; da ist nichts, was irgendeine Gravitationskraft ausüben könnte. Das mit dem Umkreisen des Lagrange-Punkts bezieht sich auf ein mitrotierendes Koordinatensystem. Das klingt kompliziert, ist es aber gar nicht. Stellen wir uns zuerst einfach mal vor, wir betrachten Sonne und Erde von irgendeinem Bezugspunkt weit außerhalb des Sonnensystems. Wir sehen die Sonne und wir sehen, wie die Erde fröhlich ihre Runden um die Sonne zieht. Was wir nicht sehen, uns aber im Geist dazu denken können, ist der Lagrange-Punkt L2 (wir könnten auch L1 oder L3 nehmen, aber bleiben wir mal bei L2). Der wird sich immer circa 1,5 Millionen Kilometer von der Erde entfernt befinden und zwar immer genau gegenüber der sonnenabgewandten Seite der Erde. L2 bewegt sich also auch um die Sonne herum, genau so schnell wie die Erde. Und jetzt stellen wir uns noch das Webb-Teleskop vor, das diesen L2-Punkt umkreist. Wenn wir von unserem fernen Beobachtungspunkt schauen, sehen wir aber etwas ganz anderes. Wir sehen das Webb-Teleskop, und das bewegt sich einfach um die Sonne herum. So wie die Erde; und wir sehen nicht, wie Webb um einen leeren Punkt im All kreist. Wir sehen das Teleskop ein wenig “wackeln”, es befindet sich mal ein bisschen oberhalb der Erdbahn, mal darunter, mal ist es ein bisschen schneller und mal langsamer. Aber es bewegt sich eindeutig um die Sonne herum. Wo ist da die “Umlaufbahn” um L2?
Die sehen wir erst, wenn wir uns _mit der Erde mitbewegen_. Oder mit L2, was aber auf gleiche rauskommt. Wir schauen uns die Sache jetzt nicht mehr von ganz fern an. Sondern von der Erde aus. Wir selbst scheinen uns also nicht zu bewegen; die Bewegung der Erde um die Sonne herum ist also jetzt aus unserer Betrachtung verschwunden. Wir sehen L2 immer 1,5 Millionen Kilometer von uns entfernt; immer an der gleichen Stelle – denn der bewegt sich ja genau so schnell um die Sonne wie wir und scheint deshalb aus unserer Sicht stillzustehen. Und das Webb-Teleskop? Seine komische wackelnde Bewegung sieht jetzt ganz anders aus. Wir sehen, wie es einen leeren Punkt im All umkreist; wir sehen, wie es sich um L2 herumbewegt! Es hat nicht exakt die gleiche Geschwindigkeit wie L2 und die Erde sondern ist mal ein bisschen schneller und mal langsamer. Und ist nicht immer in der gleichen Ebene. Aus der fernen Sicht sah das wie Gewackel aus. Aus der mitbewegten Sicht ist es mal ein Stück vor L2, mal ein Stück dahinter, mal ein Stück drüber und mal ein Stück drunter. Oder anders gesagt: Es umkreist L2.
Das ist aber wie gesagt keine “echte” Umlaufbahn. Sie hat deswegen auch nicht die klassische Form einer Ellipse oder eines Kreises. Die Bahn um L2 entsteht aus der kombinierten Anziehungskraft von Sonne und Erde. Man muss die Anteile der Anziehungskraft berücksichtigen die entlang der Verbindungslinie Sonne-Erde wirken und die, die senkrecht dazu wirken. Zusammen ergibt das eine Überlagerung von Schwingungen wie bei den Lissajous-Figuren und genau so eine komplexe Form hat auch die Umlaufbahn “um” einen Lagrange-Punkt. Weswegen sie “Lissajous-Umlaufbahn” genannt wird. Damit aber so eine Bahn auch ausreichend lange aufrecht erhalten werden kann, muss man immer wieder mal aktiv kleine Kurskorrekturen setzen. Denn die Bahnen um die Lagrange-Punkte L1 bis L3 sind ja instabil. Eine Lissajous-Umlaufbahn ist nicht geschlossen, dass heißt – wieder aus der mitbewegten Sicht, wo es so aussieht als ob ein Objekt um den Lagragrange-Punkt kreist – das Raumfahrzeug landet nach einer Runde nicht dort, wo es davor war. Es gibt aber Spezialfälle, wo die Schwingungen genau so zusammenspielen, dass die Bahn am Ende fast wie eine Ellipse aussieht. Wie gesagt, es ist keine echte elliptische Umlaufbahn um den Punkt herum; aus der fernen Sicht sehen wir das Objekt immer noch wackelnd um die Sonne kreisen. Aber wenn man diese Wackeln genau richtig timed, dann kriegt man eine annähernd periodische Umlaufbahn um einen Lagrange-Punkt und so etwas nennt man dann “Halo-Orbit”.
Wir haben schon jede Menge Zeug in den Lagrange-Punkten geparkt. In L1 zum Beispiel die NASA-Sonde “Genesis”, die dort zwischen 2001 und 2004 Partikel des Sonnenwinds gesammelt hat. Oder SOHO, das “Solar and Heliospheric Observatory”, ein Teleskop zur Sonnenbeobachtung. In L2 haben wir jede Menge Infrarotteleskope gestellt, aus den schon genannten Gründen. Dort waren zum Beispiel das Herschel-Teleskop der ESA oder die Satelliten WMAP und Planck, die die kosmische Hintergrundstrahlung beobachten. Auch die Raumsonde GAIA hat von dort aus 1,6 Milliarden Sterne der Milchstraße vermessen. Für L3 haben wir bis jetzt noch keine Anwendung gefunden, in L4 und L5 haben wir aber dafür zum Beispiel die beiden STEREO-Sonden platziert, die gleichzeitig aber aus verschiedenen Richtungen die Sonne beobachtet haben um dreidimensionale Informationen zu sammeln.
Und das waren jetzt nur die Lagrange-Punkte im Sonne-Erde-System. Es gibt aber immer dann, wenn zwei Himmelskörper mit entsprechenden Massen einander umkreisen auch entsprechende Lagrange-Punkte. In den Lagrange-Punkten des Erde-Mond-Systems haben wir etwa ein paar Satelliten zur Erforschung des Mondes stationiert. Und wer weiß, wenn wir in Zukunft die anderen Planeten genauer erforschen, dann werden wir vielleicht auch deren Lagrange-Punkte nutzen. Freie Parkplätze kann man immer brauchen!
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