“Philosophie ist tot”, hat Stephen Hawking gesagt. Die großen Fragen der Menschheit zu beantworten ist heute die Aufgabe der Naturwissenschaft; die Philosophie hat hier keine Erklärungsmacht mehr. Mit dieser Meinung ist Hawking nicht allein. Jede Menge Naturwissenschaftler sind der Meinung, dass die Philosophie der Naturwissenschaft nichts mehr zu sagen hat und ihr auch nichts sagen soll (und auch ich hab ähnliche Aussagen früher immer wieder mal geäußert). Aber ist das wirklich so? Oder nur Ignoranz von Seiten der Naturwissenschaft?
Zu dieser sehr umfassenden und kontroversen Frage habe einen sehr interessanten Lesetipp für euch. Und zwar den Artikel “Physics Needs Philosophy. Philosophy Needs Physics” von Carlo Rovelli. Der italienische Physiker ist Mitbegründer der Schleifenquantengravitation, einer Hypothese die die Quantenmechanik mit der Allgemeinen Relativitätstheorie vereinen soll. Und er hat mit seinem Buch “Sieben kurze Lektionen über Physik”* einen Sachbuch-Bestseller verfasst.
Der verlinkte Artikel entstammt einem Vortrag bei einer Konferenz über die Grundlagen der Physik und ich kann die Lektüre nur empfehlen. Ich selbst hab meine Abneigung gegenüber der Philosophie ja mittlerweile abgelegt. Beziehungsweise war es ja eigentlich nie eine Abneigung. Ich hab die Philosophie immer für eine interessante Disziplin gehalten, mit und aus der man viel lernen kann. Aber ich habe mich – so wie Hawking, Neil deGrasse Tyson und die anderen Wissenschaftler die Rovelli in seiner Arbeit zitiert – immer dagegen verwehrt, die Philosophie als relevant für die Naturwissenschaft zu betrachten. Und gerne Richard Feynman zitiert, der ja gesagt hat, dass die Philosophie für die Wissenschaft so nützlich ist wie die Ornithologie für die Vögel.
Ein bisschen bin ich dieser Meinung immer noch. Aber ein Großteil meiner Abneigung gegen den philosophischen Einfluss auf die Physik hatte seine Ursache tasächlich in der Ignoranz. Erst als ich mich intensiv mit der Geschichte der Wissenschaft und dann auch mit der Philosophie selbst beschäftigt habe, habe ich bemerkt, dass sie durchaus nicht einfach ignoriert werden kann. Auch nicht in der Naturwissenschaft.
Rovelli fasst die Lage in seinem kurzen Artikel meiner Meinung nach sehr gut zusammen. Zuerst stellt er fest, dass die Wissenschaft in der Vergangenheit immer von der Philosophie beeinflusst worden ist und das Leute wie Galileo Galilei, Werner Heisenberg oder Albert Einstein bei ihren großen Erkenntnissen durch philosophische Prinzipien motiviert sind. Und das selbst Kritiker wie Hawking oder Tyson nicht anderes als Philosophie betreiben, wenn sie behaupten, die Philosophie würde keine Rolle für die Wissenschaft spielen. Denn diese Behauptung entspringt dem Wunsch zu definieren, wie Wissenschaft am besten funktionieren sollte und wohin sie sich entwickeln sollte.
Wir haben heute ein ziemlich verbreitetes Bild der wissenschaftlichen Methode: Wissenschaftler sammeln Daten über die Welt und schaffen theoretische Erklärungen dieser Daten. Hypothesen müssen durch Daten und Vorhersagen verifiziert werden oder verworfen, wenn man sie falsifiziert. Aber erstens, so Rovelli, ist dieses aktuelle Bild nicht in Stein gemeisselt und immer schon so gewesen. Früher lief Wissenschaft anders und mit anderen Zielsetzungen. Dass sich die wissenschaftliche Methode verändert ist unter anderem ein Resultat einer philosophischen Auseinandersetzung. Und zweitens wäre so eine Auseinandersetzung auch heute noch angebracht. Heute zum Beispiel stützt sich die Wissenschaft stark auf die Arbeit der Philosophen Karl Popper und Thomas Kuhn, die Rovelli zwar als sehr wichtig ansieht, aber auch als unvollständig. Und er kritisiert die seiner Meinung nach oft sehr unkritische Übernahme der Ansichten von Popper/Kuhn. Darauf führt er auch viele der Probleme in der modernen Teilchenphysik zurück. Dort existiert ja ohne Frage ein ziemliches Ungleichgewicht zwischen Theorie und Beobachtung. Theoretische Physiker entwickeln Hypothesen um Hypothesen, die alle zumindest prinzipiell korrekt sein könnten. Und (noch) nicht falsifiziert sind. Aber das allein muss gar nichts bedeuten, so Rovelli. Und es bringt auch nichts, dem Kuhnschen Paradigmenwechsel allzu blind anzuhängen und darauf zu warten, dass sich unser Bild der Welt von einem Moment zum nächsten radikal ändert. Rovelli bringt auch Beispiele dafür, wie das bei den “Paradigmenwechseln” der Vergangenheit (Quantenmechanik, kopernikanische Revolution, Relativitätstheorie” eben genau nicht so war, sondern eine Kontinuität zwischen alten und neuen Ansichten bestand, die heute meist ignoriert wird.
Die Dominanz von Popper und Kuhn würde, so Rovelli, dazu führen, dass die Wissenschaftler die aus den etablierten Theorien gewonnenen Einsichten oft zu gering schätze und zu sehr auf irgendwelche noch zu bestätigende Hypothesen vertrauen, die sich nach einem noch stattzufindenden Paradigmenwechsel als korrekt erweisen würde. Den Wissenschaftler fehle heute oft das (philosophische) Gefühl um zu erkennen, wie die Philosophie die Arbeitsweise der Wissenschaft beeinflusst. Die Wissenschaftler, die der Philosophie einen Einfluss auf die Wissenschaft absprechen seien diejenigen, die denken würden, alle Fragen zur besten und zieführendsten Methodologie wären schon beantwortet. Was aber natürlich nicht so ist, denn so wie alles andere in der Wissenschaft ist auch die Frage nach der bestmöglichen Arbeitsweise einem ständigen Wandel unterworfen.
Die Gedanken der Philosophie haben also durchaus einen relevanten Einfluss auf die Wissenschaft. Genau so wie die Ergebnisse der Wissenschaft die Philosophie beeinflussen (und Rovelli kritisiert auch diejenigen unter den Philosophen, die behaupten, die Wissenschaft hätte nichts zur Philosophie beizutragen). Ich kann die Lektüre von Rovellis Artikel nur noch einmal empfehlen. Man muss ihm nicht bei jedem Satz zustimmen. Aber man kann (und soll) auf jeden Fall darüber nachdenken. Denn auch das ist etwas, was man von der Philosophie lernen kann: Man sollte sich viel öfter die Mühe machen, ein Thema in Ruhe, nach allen Richtungen und wirklich tief zu durchdenken.
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