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Sternengeschichten Folge 293: Al-Biruni und die Größe der Erdkugel
Wie groß ist die Erde? Das ist eine ziemlich fundamentale Frage und daher auch wenig überraschend eine Frage, die die Menschen schon immer interessiert hat. Als man sich die Erde noch als flach vorgestellt hat, war es allerdings schwer, sie zu beantworten. Beziehungsweise sie richtig zu beantworten. Die einzige Möglichkeit, die Ausdehnung der flachen Erde zu bestimmen hätte darin bestanden, einmal von einem Ende zum anderen Ende zu wandern und die Distanz zu messen. Aber solche Fernreisen hat man damals vor Jahrtausenden noch nicht gemacht.
Außerdem war den Menschen schon ziemlich früh klar, dass die Erde eben nicht flach ist. Spätestens seit den Überlegungen der Gelehrten im antiken Griechenland vor mehr als 2000 Jahren war klar, dass unser Planet die Form einer Kugel haben muss. Ich habe darüber schon in Folge 146 der Sternengeschichten ausführlich gesprochen. Dort habe ich auch von Eratosthenes erzählt, der in einem berühmten Experiment vor circa 2200 Jahren einen konkreten Wert für die Größe der Erdkugel bestimmt hat. Das gelang ihm, in dem er den Schatten beobachtete, den ein Stab in Alexandria an einem bestimmten Tag genau zur Mittagszeit warf. Denn Eratosthenes wusste, dass zur gleichen Zeit ein gleicher Stab in der südlich gelegenen Stadt Syene keinen Schatten warf; dort die Sonne im Zenit also exakt über dem Kopf eines Beobachters stand. Wenn die Sonnenstrahlen in Syene also senkrecht auf die Erdoberfläche treffen, in Alexandria aber unter einem gewissen Winkel und so einen Schatten erzeugen, dann muss die Erdoberfläche gekrümmt sein. Und aus der Länge des Schattens konnte Eratosthenes das Ausmaß dieser Krümmung bestimmen und damit den Umfang der Erdkugel.
Die Messung von Eratosthenes war ziemlich genau und sein Resultat wich nur um 4 Prozent vom korrekten Wert ab. Das war eine beeindruckende Leistung. Quasi ohne irgendwelche Hilfsmittel, nur mit ein paar simplen Beobachtungen und ein wenig Mathematik hatte Eratosthenes eine fundamentale Eigenschaften über unsere Welt herausgefunden. Der griechische Gelehrte ist dafür zurecht berühmt. Aber mindestens ebenso bekannt sollte eigentlich auch der Name eines anderen Forschers sein, der Eratosthenes in Genialität in Nichts nachgestanden ist: Abū Rayḥān Muḥammad ibn Aḥmad Al-Bīrūnī oder kurz al-Biruni.
Al-Biruni wurde am 4. September 973 im heutigen Usbekistan geboren. Über sein frühes Leben ist nicht viel bekannt. Er wuchs gemeinsam mit den Prinzen der Iraqiden-Herrscherfamilie auf, den Leuten, die damals in Choresmien regierten, also dem Reich, in dem al-Biruni geboren wurde. Woher der Kontakt zwischen al-Biruni und der Herrscherfamilie kam, ist allerdings unbekannt. Klar ist jedenfalls: Er war sehr begabt was die Wissenschaft anging. Schon mit 17 Jahren war er in der Lage, die geografische Breite von Kath, der Hauptstadt von Choresmien zu bestimmen. Er baute sich selbst einen fünf Meter durchmessenden Globus der Erde und trug dort die Position all der Städte ein, die er kannte, herausfinden konnte oder die sonst irgendwo aufzutreiben waren.
Durch die Beobachtung einer Mondfinsternis gelang es ihm auch den Längengrad von Kath zu bestimmen. Warum das so schwierig ist und wieso das nur durch eine Bestimmung der lokalen Uhrzeit funktioniert, habe ich in Folge 147 der Sternengeschichten ausführlich erklärt. Am 24. Mai 997 beobachte al-Biruni auf jeden Fall eine vorhergesagte Mondfinsternis. Er bestimmte den genauen Zeitpunkt, an dem sie eintrat und hatte zuvor mit Astronomen in Bagdad vereinbart, dass die dort das gleiche tun. Da Bagdad aber viel weiter westlich liegt als Kath fand die Finsternis dort zu einer anderen lokalen Uhrzeit statt als bei al-Birunis Beobachtungsposten. Aus diesem Unterschied konnte er berechnen, wie weit genau östlich Kath sich von Bagdad befindet.
Das aber allein reicht noch nicht, um die tatsächliche Größe der Erde der zu bestimmen. Dafür dachte sich al-Biruni eine andere und genauere Methode aus als die damals von Eratosthenes verwendete. In seiner damaligen Lage wäre eine Wiederholung des Experiments von Eratosthenes zu aufwendig gewesen; er hatte nicht die Möglichkeit, an unterschiedlichen Orten die Länge von Schatten exakt genug zu messen – unter anderem, weil es in der Region damals nicht gerade friedlich zu ging und Expeditionen nur unter militärischem Schutz möglich waren.
Aber al-Biruni fand einen anderen Weg. Dazu musste er zuerst einmal die Höhe eines Berges genau bestimmen. Nachdem das erledigt war, musste man bestimmen, unter welchem Winkel man vom Gipfel des Berges aus den Horizont sieht. Wenn man nun eine Linie vom Berggipfel hinab zieht, bis sie die Erdoberfläche trifft, kann man diesen Punkt, den Berggipfel und den Erdmittelpunkt verwenden, um ein großes, rechtwinkeliges Dreieck zu zeichnen, von dem eine Seite genau dem Radius der Erde entspricht. Mit ein paar weiteren Winkelmessungen, ein wenig Geometrie und Mathematik (unter anderem dem berühmten Satz von Pythagoras) kann man die Länge dieser Seite berechnen. Das tat al-Biruni und sein Ergebnis entspricht einem Radius von 6339,6 Kilometer. Der Fehler zum echten Wert ist dabei kleiner als 1 Prozent. Außerdem war diese Methode viel praktischer als die von Eratosthenes. Dessen Experiment mit dem Schattenstab funktioniert nur dann korrekt, wenn beide Messungen am gleichen Längengrad durchgeführt werden; also der eine Ort exakt nördlich bzw. südlich vom anderen Ort liegt. Bei Alexandria und Syene war das zwar nicht genau der Fall, aber die Abweichung war gering genug um das Ergebnis nicht zu sehr zu beeinflussen. Außerdem muss man eben an zwei weit voneinander entfernten Orten Messungen durchführen. Al-Biruni musste nur einen Berg besteigen, von dem man einen guten Blick auf den Horizont hatte – der Rest war reine Geometrie und Mathematik.
Al-Biruni war aber mehr als nur ein Pionier der Landvermessung. Er war ein wahrer Universalgelehrter und schrieb allein 146 Bücher nur über Mathematik und Astronomie. Unter anderem machte er sich Gedanken über die Frage, ob die Erde still steht oder nicht. Von der Erde aus gesehen bewegen sich die Sterne am Himmel einmal in 24 Stunden rund herum. Das kann entweder bedeuten, dass sich der gesamte Sternenhimmel um eine im Zentrum still stehende Erde dreht. Oder aber die Erde dreht sich und der Sternenhimmel steht still. Al-Biruni war entgegen der vorherrschenden Meinung durchaus bereit anzuerkennen, dass eine rotierende Erde mathematisch auf jeden Fall Sinn macht. Er dachte aber auch, dass wir die Rotation der Erde dann bemerken müssten, und wir nur deswegen ungestört auf der Erdoberfläche stehen können, weil sie sich eben nicht bewegt.
Trotzdem war al-Biruni in vielen Dingen seiner Zeit voraus. Er vertraute auf Beobachtungen und Experimente, wo andere lieber den Schriften der alten Gelehrten vertrauten. Einmal stritt er sich zum Beispiel mit dem berühmten Arzt Ibn Sina der auch als Avicenna bekannt ist. Al-Biruni wollte wissen, warum eine Flasche mit Wasser zerplatzt, wenn man sie einfriert. Denn normalerweise ziehen sich Körper ja zusammen, wenn sie kälter werden. Das ist auch so, erklärte ihm Ibn Sina – und weil das so ist, entsteht in der Flasche ein Unterdruck und sie zerplatzt. Al-Biruni jedoch beobachtete die Flaschen und stellte fest, dass sie sich vor dem Platzen nach außen wölben und nicht nach innen. Er zweifelte ebenfalls die Behauptung von Ibn Sina an, dass Diamanten giftig sein und führte dazu Beobachtungen von Hunden an, die Diamanten verschluckt hatten.
Al-Biruni las die alten Texte von Aristoteles und hatte keine Hemmungen all das zu kritisieren, was ihm daran komisch vorkam. Er konstruieret das erste Pyknometer, also ein Gerät zur Bestimmung der Dichte von Festkörpern. Aus seinen Überlegungen zur Größe der Erde, der Verteilung der bekannten Landmassen und Vermutungen über die Dichteunterschiede zwischen Kontinenten und Meeren spekulierte er über die Existenz noch nicht entdeckter Kontinente. Das was zur Entstehung von Europa und Asien geführt hatte, müsste laut al-Biruni auch irgendwo Landmassen erzeugt haben, die im riesigen Ozean zwischen Europa und Asien liegen. Es wäre zwar ein bisschen zu viel, wenn man das als wissenschaftliche Vorhersage der Existenz von Nord- und Südamerika betrachtet, aber es zeigt, dass al-Biruni keine Hemmungen hatte, auch unkonventionelle Schlüsse aus seinen Überlegungen zu ziehen.
Al-Biruni schrieb pharmakologische Werke über Medizin, historische Bücher über die Geschichte des Islam, führte anthropologische Studien in Indien durch, maß die Neigung der Erdachse genauer als je zuvor, beobachte Sonnenfinsternisse, konstruierte neue astronomische Messinstrumente, erforschte Pflan7en und Mineralien – kurz gesagt: Alles, was er erforschen konnte, bevor er am 9. Dezember 1048 im Alter von 75 Jahren starb.
Trotz all dieser Leistungen blieb der große Universalgelehrte in Europa fast unbekannt. Erst im 19. Jahrhundert brachten Forscher (unter anderem Alexander von Humboldt) das Wissen um al-Birunis Arbeit aus der arabischen Welt zurück ins Abendland. Und wer irgendwann einmal zufällig nach Wien zum dortigen Hauptquartier der Vereinten Nationen kommt, kann vor der UNO City den Pavillon persischer Gelehrter besuchen, wo al-Biruni als Statue verewigt ist; gemeinsam mit seinem Kollegen Ibn Sina, dem persischen Dichter und Astronom Omar Khayyam und dem Arzt Al-Razi, dem wir nichts weniger zu verdanken haben als die Herstellung von hochprozentigem Alkohol!
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