Die Idee, durch die Umverteilung von Besitz eine gerechtere Gesellschaft zu kreieren, ist nicht neu. Die Idee, dieses Ziel durch die Umverteilung von Bildung zu erreichen dagegen schon. Und sie kommt unter einem unschuldig klingenden Namen daher: Gesamtschule.
In kaum einem anderen westlichen Land sind die Chancen auf eine gute Bildung und damit auch gute Chancen im späteren Berufsleben so eng an Bildung und Einkommen der Eltern gebunden wie in Deutschland. Dieser Zustand erscheint uns inhärent ungerecht zu sein, denn ein Kind aus einem Arbeiterhaushalt startet bei gleichen Veranlagungen quasi “automatisch” mit schlechteren Chancen ins Bildungsleben, als ein Kind aus einem Akademikerhaushalt. Die Tatsache, dass unser Schulsystem für Kinder aus allen Bildungsschichten gleichermaßen offen steht, hat an der starken Korrelation zwischen elterlichem Bildungsstand und Bildungschancen der Kinder scheinbar wenig geändert, weshalb man in der Politik im Namen der Wiederherstellung gesamtgesellschaftlicher Gerechtigkeit von Zeit zu Zeit lobenswerterweise nach neuen Lösungsansätzen sucht.
Dabei wird immer wieder darauf verwiesen, wie unbarmherzig das dreigliedrige Schulsystem vermeintlich daherkommt, da es Kinder nach der vierten oder spätestens der sechsten Klasse in Leistungsgruppen aufteilt und “aussortiert”. Zwar ist es auch später noch möglich, von der Haupt- in die Realschule oder von der Realschule aufs Gymnasium zu wechseln – aber natürlich ist so ein Wechsel mit sehr viel Mühen und Anstrengung verbunden und damit schwer zu schaffen. Was liegt also näher, als dieses Dreiklassensystem endlich abzuschaffen und die Gesamtschule einzuführen?
Auch wenn ich schon seit Jahren unterrichte, bin ich kein Experte für Pädagogik (meine Studenten würden das auf Nachfrage sicher gerne bestätigen). Aus diesem Grund kann und will ich mir über die theoretischen Vor- und Nachteile der Gesamtschule kein abschließendes Urteil erlauben, sondern kann nur aus eigener Erfahrung sprechen bzw. meine persönliche Meinung kundtun. Als Wissenschaftler weiß ich, dass hierin eine gewisse Gefahr liegt – denn nicht ohne Grund wird “eigene Erfahrung” auch als “Statistik der kleinen Zahlen” bezeichnet, also als eingeschränkte und zutiefst subjektive Betrachtungsweise. Dennoch halte ich es für vernünftig, auch solche subjektiven Betrachtungen zuzulassen, da diese in jedem Fall dazu geeignet sind, die Debatte über eine wichtige Frage stets wieder neu zu entfachen: Wie definieren wir als Gesellschaft eigentlich Bildungsgerechtigkeit – und wie erreichen wie diese?
Das kleine Gymnasium, auf dem ich neun Jahre meines Lebens zugebracht habe, teilte sich mittags einen Bus mit der örtlichen Hauptschule. Schon an der Bushaltestelle ging es hoch her: Da flogen die Kippen, es wurde mit Schraubenziehern und ähnlichem Gerät um sich gefuchtelt, die Busfahrpläne wurden aus den Schaukästen gerissen und obszöne Sprüche an jeden freien Fleck im Wartehäuschen geschrieben, welches übrigens in den neun Jahren mehrfach der Brandstiftung zum Opfer fiel. Im Bus ging es dann munter weiter: Die Beleidigungen flogen nur so hin und her, es wurde gespuckt, gegrölt, getreten und so mancher Schraubenzieher dazu mißbraucht, die Sitzreihen zu “verschönern”. Gelegentlich endete das Verhalten in einem Wut- und Schreianfall des Busfahrers und bisweilen sogar im Rauswurf von Schülern an der nächsten Haltestelle. Das Gros der Gewalt war sozusagen “internalisiert”, doch gelegentlich entlud sich das Gewaltpotenzial auch auf uns Gymnasiasten, die wir ohnehin ein beliebtes Ziel von Häme und Spott waren. Kurzum: Ich war stets froh, wenn ich aus dem Bus endlich wieder aussteigen durfte.
Mein ganz persönliches Fazit aus diesen neun Jahren, dass mir aufgrund der ideologischen Aufgeladenheit der Thematik bestimmt den einen oder anderen negativen Kommentar einbringt: Wenn ich mir einfach mal vorstelle, dass man die beiden Schulen damals zusammengelegt und in einer Gesamtschule vereint hätte – die Zeiten, in denen ich morgens unbefangen den Weg in die Schule angetreten hätte, wären wohl vorbei gewesen. Natürlich ist mir klar, dass es in einer Gesamtschule nach Leistung gestaffelte Klassenverbände gibt, dennoch verbringen die Schüler einen Großteil der Zeit zusammen – und genau das soll ja letztendlich auch erreicht werden.
Gemeinsamer Sport-, Kunst- und Musikunterricht, gemeinsame Pausen, gemeinsames Mittagessen, gemeinsame An- und Abfahrt mit dem Schulbus… Das mag jetzt nicht sozial ausgewogen klingen, aber für Kinder, die Freude am Lernen haben und die zur Schule gehen wollen, muss diese einen Raum bieten, in dem sie ihren Bildungshunger möglichst ungestört entfalten können. Jeder weiß, dass gerade schulisch engagierte und leistungsstarke Kinder schon innerhalb ihrer “peer group” genügend Repressalien ausgesetzt sind – und es bedarf keiner besonderen Vorstellungskraft um sich klar zu machen, dass es auf einer Gesamtschule vermutlich nicht mehr viele “Streber” geben wird.
Die Einführung einer Gesamtschule käme einer gesellschaftlichen Umverteilung von Bildung gleich, wie es sie in dieser Form noch nie gegeben hat. Die einen müssen nicht mehr auf die Hauptschule und erhalten ein wenig bessere Bildungschancen, die anderen können nicht mehr aufs Gymnasium und ihre Bildungsaussichten verschlechtern sich. Die einen lernen etwas mehr als zuvor, die anderen etwas weniger. Ganz im Sinne einer ausgleichenden Gerechtigkeit, da nun diejenigen besser gestellt werden, die unfairerweise mit schlechteren Chancen in die Bildungswelt gestartet sind, während die Kinder aus “Vorteils”-Haushalten nun mit einem kleinen Nachteil leben müssen. Gerecht und ungerecht zugleich.
Denn worin besteht eigentlich Bildungsgerechtigkeit? Und wann haben wir diese erreicht? Wenn jedes Kind ein Abitur oder einen “Einheitsabschluss” in der Tasche hat und niemand mehr besser gestellt ist? Welchen Wert soll dieser Abschluss dann noch haben? Ist mit Gerechtigkeit wirklich eine Gleichheit im Ergebnis gemeint – oder doch eine Gleichheit in den Voraussetzungen? Anders formuliert: Ist das Bildungssystem dann gerecht, wenn jeder Abitur machen könnte, oder tatsächlich erst dann, wenn es auch jeder hat?
Ich behaupte: Die Gesamtschule würde nicht dabei helfen, die deutsche Bildungslandschaft gerechter oder ausgeglichener zu gestalten, sie würde ganz im Gegenteil erst recht zur Entstehung einer gefährlichen Zwei-Klassen-Bildungsgesellschaft führen. Zur Untermauerung dieser Behauptung möchte ich zwei Beispiele anführen.
Für ein Kind aus einem einkommenschwachen Arbeiterhaushalt mit Freude an der Schule und viel Interesse am Forschen und Entdecken bedeutet die Einführung der Gesamtschule effektiv “game over”. Dieses Kind, welches das “Zeug” zum Abitur gehabt hätte, das etwas hätte erreichen können, was aus der Familie vielleicht noch niemandem gelungen ist, würde ungeachtet der besseren Leistungen und Voraussetzungen auf genau die gleiche Gesamtschule gehen, wie alle anderen Kinder auch. Das Kind wäre während seiner gesamten Schullaufbahn nie von anderen Kindern getrennt, die kein Interesse an Schule und Bildung haben – und wenig Verständnis für “Streber”.
Ganz anders geht es dem Kind aus einem einkommenstarken Akademikerhaushalt. Da die Eltern es sich leisten können, würde dieses Kind selbstverständlich ein privates Gymnasium oder ein anderes Internat besuchen, sollte das staatliche Gymnasium als Schulform abgeschafft werden. Da ein Verbot von Privatschulen nicht mit der Verfassung vereinbar ist, dürfte es sie weiter geben – und im Falle der Abschaffung der öffentlichen Gymnasien käme mit Sicherheit ein großer Boom. Wer es sich leisten kann, sorgt bei seinen eigenen Kindern schon für gute Zukunftsaussichten.
Ein gutes Beispiel hierfür liefert uns Frau Ypsilanti, die hessische SPD-Spitzenfrau, die ja zur Zeit mit dem Ausspruch “Wortbruch kann viele Facetten haben” medial hochpräsent ist. Obwohl Ypsilanti eine Vorkämpferin für die Einführung von Gesamtschulen in Hessen ist, besucht ihr eigener Sohn ein kostenpflichtiges Privatgymnasium – da es nur so möglich sei, die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel zu vermeiden. So jedenfalls begründet die sonst eher als umweltfreundlich bekannte Politikerin ihre Schulentscheidung. Als dieser Umstand im Wahlkampf thematisiert wurde, konterte man mit dem Argument, dass es “unanständig” sei, ihr Kind für politische Zwecke mißbrauchen zu wollen.
Niemand gönnt dem Kind eine gute Schulbildung mehr als ich. Aber sollten wir nicht hinterfragen, warum eine Politikerin, die bei jeder Gelegenheit das Versagen des dreigliedrigen Schulsystems und die Überlegenheit von Gesamtschulen betont, ihr eigenes Kind nicht auf eine solche Schule schicken möchte? Meine Vermutung: Weil auch Politiker Menschen sind und für ihre Kinder natürlich nur das Beste wollen – und das kann man ja nun wirklich niemandem verübeln. Das Ganze ist übrigens ein guter Benchmark für alle politisch interessierten Eltern: Wenn Sie die Wahl haben zwischen einem Gymnasium und einer Gesamtschule und alle anderen Faktoren (Kosten, Entfernung, Leistung) außer Kraft gesetzt wären, so dass Sie in die Lage versetzt werden, nur nach dem Wohl ihres Kindes zu entscheiden – auf welche Schule würde / sollte Ihr Kind gehen?
Für mich zeichnet sich ein unschönes Bild für die “Gesamtschul-Zukunft” ab: Begabte Kinder einkommenschwacher Eltern werden auf der Gesamtschule landen, begabte Kinder einkommenstarker Eltern statt dessen in privaten Schulen, wo sie, da bin ich mir sicher, eine bessere Ausbildung erfahren würden als ihre Kameraden auf den Gesamtschulen, die sich im wahrsten Sinne des Wortes erst einmal mit dem neuen Gewaltpotenzial “herumschlagen” müssten. Die Einführung der Gesamtschule macht politisch aber nur dann Sinn, wenn alle anderen staatlichen Schulformen abgeschafft werden. Genau dieser Schritt würde eine Elitenbildung fördern und gesellschaftliche Gräben vertiefen. Die Chance auf den Besuch eines Gymnasiums mag zwar momentan hoch mit Bildungsstand und Einkommen der Eltern korrelieren, dennoch findet auf den Gymnasien eine begrüßenswerte und dringend benötigte gesellschaftliche Durchmischung statt. Mit der Einführung der Gesamtschule würde dieser positive Effekt schlagartig abgewürgt – denn ob ein Kind auf die Gesamtschule oder ein privates Gymnasium ginge, würde dann von nichts anderem mehr abhängen als vom Geldbeutel der Eltern.
Damit hätte man genau das Gegenteil von dem erreicht, was man eigentlich erreichen wollte. Nun werden viele fragen: Was ist mit Finnland, was mit Schweden? Dort gibt es doch ausschließlich Gesamtschulen – und die PISA-Ergebnisse dieser Länder liegen weit vor den unsrigen.
Nun – waren Sie schon einmal in Schweden oder in Finnland? Bildung und Lernen haben dort einen ganz anderen Stellenwert. Der Wert einer guten Allgemeinbildung wird in den meisten Haushalten von den Eltern an die Kinder vermittelt, und diese wiederum machen sich wegen guter Leistungen in der Schule nicht gegenseitig das Leben zur Hölle. Bildung ist dort nicht ein notwendiges Übel zur Erreichung eines gewissen Wohlstands, sondern hat einen Wert für sich. Hätten Schweden und Finnland ein dreigliedriges Schulsystem und wir das Gesamtschulsystem – in der PISA-Studie würden sie trotzdem noch vor uns liegen. Das Erfolgsgeheimnis liegt nicht im Schulsystem selbst, sondern in der gesellschaftlichen Akzeptanz und Förderung von Leistung.
Dazu gehört übrigens auch, dass wir es Kindern ermöglichen, sich über gute schulische Leistungen von anderen abzugrenzen. Wem das Wort nicht gefällt: Durch den Wechsel von der B-Mannschaft in die A-Mannschaft kann sich ein Kind mit guten sportlichen Leistungen von weniger sportlichen Kindern abgrenzen – und niemand sieht darin ein Problem. Das gilt nicht nur für den Sport sondern auch für die Kunst, die Musik und viele weitere Bereiche, die im Leben eines Kindes einen wichtigen Raum einnehmen können. Überall gestattet die Gesellschaft eine positive Abgrenzung, eine Abgrenzung durch Leistung – nur bei der Bildung erscheint vielen dies ungerecht zu sein. Gute Leistungen auf anderen Gebieten werden aber gerade durch positive Abgrenzung gefördert – nichts anderes geschieht beispielsweise in sportlichen Wettkämpfen – gute Leistungen in der Bildung glauben wir dagegen erreichen zu können, indem wir genau die gleichen Mechanismen positiver Abgrenzung immer mehr schwächen und außer Kraft setzen. Dieser Gedankengang kulminiert in der Gesamtschul-Idee, hinter der sich der gefühlte Gerechtigkeitsausgleich durch Bildungs-Umverteilung versteckt, der in diesem Land im Interesse unserer Zukunft hoffentlich niemals bildungspolitische Realität werden wird.
Denn – mal ehrlich – lassen sich solche Probleme wie im nachfolgenden Filmbeitrag durch das „Modell Gesamtschule” lösen – oder sollten wir unsere Energie nicht lieber darauf verwenden, gesellschaftliche Veränderungen anzustoßen, Bildung und Wissen wieder erstrebenswert zu machen und wegzukommen von einer Kultur der Verrohung und – leider auch – Verdummung?
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