Weil ein Medizinstudent mit seinen Prüfungsleistungen “zu schnell” fertig wurde, muss er nun eine Studienpause von anderthalb Jahren einlegen, bevor er sein Praxisjahr antreten kann – eine EU-Richtlinie behindert sein Weiterkommen.
Über diese Posse aus dem deutschen Bildungswesen berichtet heute der Spiegel. Die ersten Absätze des Artikels lesen sich zunächst einmal höchst erfreulich, denn offenbar ist Marco Speicher ein akademisches Ausnahmetalent: Vier Jahre benötigte er, um das Studium zum Wirtschaftsingenieur mit einer glatten 1,0 abzuschließen. Anschließend schrieb sich der Friedrichsthaler zum Medizinstudium ein – und da man das Zweitstudium natürlich komplett selbst finanzieren muss, beeilte er sich ein wenig.
Offenbar zu sehr, denn nun wird er auf die Wartebank geschickt. Obwohl er alle Prüfungen hinter sich gebracht hat und auch seine Doktorarbeit bereits eingereicht ist, soll er sich noch anderthalb Jahre gedulden, bevor er das Praxisjahr antreten kann, mit dem die Ausbildung zum Mediziner in Deutschland abgeschlossen wird. Schuld ist eine Richtlinie der EU: “Die ärztliche Grundausbildung umfasst mindestens sechs Jahre oder 5500 Stunden theoretischen und praktischen Unterrichts an einer Universität oder unter Aufsicht einer Universität.” Die 5500 Stunden hat Marco absolviert – allerdings in weniger als sechs Jahren. Und da das “oder” juristisch als “und” zu werten ist – so zumindest will es die Europäische Kommission – stehen dem Nachwuchstalent nun achtzehn Monate Zwangspause bevor.
Die – so hat er dem Spiegel verraten – will er außerhalb der EU verbringen. In der Schweiz nämlich, wo es ihm die Rechtslage jetzt schon gestattet, Praxiserfahrungen zu sammeln. Da kann man nur hoffen, dass er nach Ablauf der Auszeit wieder zurückkommt.
Ganz grundsätzlich ist es natürlich erfreulich, dass wir so talentierte Studenten vorzuweisen haben. Ich, der ich selbst 27 Jahre alt bin, freue mich schon darüber, ein Studium erfolgreich abgeschlossen zu haben – mit dem Zweitstudium habe ich gerade mal angefangen. Da ist es schon beeindruckend, wenn jemand im gleichen Alter nicht nur zwei Studiengänge erfolgreich hinter sich gebracht hat, sondern sogar schon die Doktorarbeit fertig geschrieben in der Schublade liegt.
Umso trauriger, dass es nun mit der akademischen oder medizinischen Karriere nicht weitergehen kann, weil bürokratische Inflexibilität dies verhindert. Prinzipiell wird ja – gerade im Zuge des Bologna-Prozesses – immer mehr Flexibilität und Leistungsbereitschaft von den jungen Studentinnen und Studenten erwartet und auch verlangt. Wenn dann aber mal jemand den Willen zur Leistung und Flexibilität unter Beweis stellt, tun sich plötzlich bürokratische Hürden auf.
In diesem Fall sogar besonders ärgerliche. Denn dass “und” eben nicht das gleiche ist wie “oder”, das lernt man als Informatik-Student bereits im ersten Semester. “Formale Beschreibungsverfahren” nannte sich das Fach damals bei mir. Da hätte man sich in Brüssel vor der Richtlinien-Verabschiedung wirklich einmal schlau machen können – dann hätte am Ende auch das dringestanden, was man tatsächlich aussagen wollte.
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