Bei der Lektüre mancher Zeitungsartikel fragt man sich unwillkürlich, was für kranke Individuen es in unserer Gesellschaft geben muss. Zum Beispiel dann, wenn selbsternannte “Spaßvögel” in Online-Selbsthilfeforen für Epileptiker Flash-Animationen einschleusen, die binnen Sekunden zu schweren Anfälle führen können.

Sie glauben nicht, dass jemand zu so etwas fähig wäre oder es auch noch lustig findet? Ich muss zugeben dass selbst ich als Sozialpessimist so etwas nicht vermutet hätte, aber seit kurzem gibt es sie tatsächlich – die feigen “Online-Anschläge” auf Selbsthilfe-Foren für epilepsiekranke Menschen.

So berichtete das bekannte US-Onlinemagazin Wired vor wenigen Tagen über mehrere Angriffe auf die Webseite der US-amerikanischen Epilepsy Foundation. Am 22. März wurden im dortigen Selbsthilfe-Forum mit Hilfe eines kleinen JavaScript-Programms hunderte von Postings mit wild blinkenden gif-Animationen eingeschleust. Nachdem die Betreiber diese Postings sehr schnell entfernen konnten, gingen die unbekannten Angreifer einen Schritt weiter und erzwangen mit Hilfe von JavaScript sogenannte “Redirects” – Umleitungen des Browsers von einer auf eine andere Webseite. Über diese Redirects gelangten etliche epilepsiekranke Besucher zu speziell angelegten Vollbild-Animationen mit grellen, wild umherspringenden Farbmustern, die bedauerlicherweise zu einigen Anfällen führten.

Einen zweiten Angriff dieser Art gab es auf das Message-Board der vielbesuchten Webseite “Coping with Epilepsy“, wobei es den Tätern auch in diesem Fall gelang, etliche Anfälle auszulösen. Inzwischen wurde das Thema von einer Vielzahl von Online-Magazinen und Epilepsie-Webseiten aufgegriffen (beispielsweise hier, hier, hier und hier) und auch deutschsprachige Zeitungen wie der österreichische “Standard” und die “Hannoversche Allgemeine” berichten mittlerweile über die Vorkommnisse.

Natürlich stellt sich in einem solchen Fall automatisch die Frage nach dem Warum? Was für Menschen bereitet es Freude, kranke Mitmenschen zu quälen und das Aufsuchen von Selbsthilfe-Foren zu einem Risiko zu machen? Gelangweilten und dummen “Script-Kiddies”, die sich drei JavaScript-Befehle angeeignet haben und sich jetzt für die ganz großen Hacker halten? (Kleiner Hinweis: Ihr seit es nicht) Online-Hooligans mit Freude am Zerstören? Zumindest die Vermutung liegt nahe, dass es sich wohl eher um junge Menschen handelt, die solche Aktionen auch noch als ganz großen Spaß betrachten.

Was ist mit solchen Jugendlichen nur los? Was geht beispielsweise in den Köpfen junger Menschen vor, die zum Spaß Steine und Holzklötze von Autobahnbrücken schleudern? Oder Sitzbänke auf Bahnschienen legen? Oder im Schutze der Nacht Gullydeckel auf vielbefahrenen Straßen aushebeln (wie unlängst hier in der Gegend geschehen, was einen schweren Unfall zur Folge hatte)? Wer kann bloss darüber lachen, wenn irgendwo ein Auto im Graben liegt oder ein kranker Mensch vorm Bildschirm zusammenklappt? Alles unheimlich lustig? Was um alles in der Welt läuft da nur schief?

Für alle, die selbst von Epilepsie betroffen sind, oder aus anderen Gründen (schwere Migräne etc.) keine blinkenden Lichter und grellen Animationen ertragen können, kann mein Rat an dieser Stelle leider nur lauten, JavaScript und Flash-Animationen standardmäßig im Browser zu deaktivieren. Denn darauf, dass solch asoziales Verhalten von selbst aufhört, kann man wohl bedauerlicherweise nicht hoffen – und bis der erste Trittbrettfahrer eine ähnliche Aktion auf einer deutschsprachigen Epilepsie-Webseite startet ist es vermutlich leider auch nur eine Frage der Zeit.

Kommentare (7)

  1. #1 Roland
    2. April 2008

    “Was geht beispielsweise in den Köpfen junger Menschen vor…” Oh, die Frage kann ich beantworten. NICHTS. Die sind tatsächlich so hohl wie es scheint.

  2. #2 Peter
    2. April 2008

    Aktive INhalte wie JavaScript, Flash u.Ä. sollte man *sowieso* abschalten – das gilt auch für Leute die selbst nicht von Epilepsie betroffen sind! Ausser den hier beschriebenen Risikien gibt es noch eine unmenge anderer Möglichkeiten z.B. mit JavaScript schaden anzurichten.

    Um nicht ganz auf Flash & Co verzichten zu müssen kann ich z.B. für den Frefox-Browser das “NoScript”-Plugin (am besten gleich in Kombination mit dem “AdBlockPro”-Plugin, was lästige Werbung ausblendet) dringend empfehlen! NoScript verbietet erstmal grundsätzlich überall aktive Inhalte – man kann aber schnell und einfach einzelnen Webseiten erlauben bestimmte erwünschte Funktionen zu aktivieren.

  3. #3 Monika
    2. April 2008

    hmm…das ist echt heftig…Menschen ohne Mitgefühl…Man könnte dieses mangelnde Mitgefühl noch durch die “Härte” und das “Wegschauen” unserer Gesellschaft und ihrer behördlichen Vertreter ergänzen. Denn andersherum habe ich oft erlebt, wie Schule und Behörden (Jugendämter, Polizei) trotz Wissen um das erlebte Elend bestimmter Kinder einfach wegschauen und nichts tun. Hinweise gibt es aus der sozialwissenschaftl. Forschung, dass so groß gewordene Kinder ein enorm “dickes” Fell bekommen und später selbst an mangelndem Mitgefühl “leiden”. Dann gibt es noch Hinweise aus der Hirnforschung, dass Frontalhirnschäden ( angeboren oder erworben) zur Unfähigkeit führen, sich in andere einzufühlen….mit variierenden Konequenzen…
    @ Peter
    hab gleich meine Einstellungen im Browser überprüft und JavaScripts herausgenommen 😉 Wo bekommt man die von Dir beschriebenen Features her um das Problem so elegant zu lösen, wie Du das gemacht hast?

  4. #4 Christian Reinboth
    2. April 2008

    @Monika: Im Grunde hat Peter ja recht, viele aktive Inhalte sollte man am besten gar nicht ausführen. Ohne seiner Antwort vorgreifen zu wollen (aber da ich Deinen Kommentar gerade gesehen habe): Viele gute Erweiterungen für den Mozilla Firefox (unter anderem zum Ausblenden von Werbung, zum Abwürgen von Pop-Ups etc.) die für etwas Ruhe beim Surfen sorgen findet man unter: https://www.erweiterungen.de

    Im übrigen bezweifle ich, dass sich diese Aktionen gegen Epilepsiekranke – wenn man denn genauer hinschauen könnte – auf eine elende Kindheit etc. zurückführen ließen. Gerade Internet-Hooligans (gemeint sind eben nicht “echte Hacker”, sondern Script-Kiddies, Viren-zum-Spaß-Programmierer etc.) stammen in der Regel eben nicht aus armen oder verwahrlosten Verhältnissen. Eine sehr gute (auch soziologische) Einführung zum Thema Online-Vandalismus durch Jugendliche findet sich bei heise (“The Kids are out to play)”: https://www.heise.de/tp/r4/artikel/7/7888/1.html

  5. #5 Monika
    3. April 2008

    @ Erweiterungen – danke ;-), werde gleich ans Werk gehen

    @ Kindheit
    Dein Zweifel ist berechtigt. Zu diesem Thema gibt es ja noch wenig bzw. gar kein wissenschaftlich eruiertes “Material”. So kann man hier nur Hypothesen äußern:

    – Empathie und Mitgefühl sind Bestandteil unserer sozialen Kultur und sie werden (normalerweise) durch eine angemessene Sozialisation erlernt.
    – Ichbezogenenheit und Sensationssuche werden normalerweise gehemmt durch eine moralisch-ethische Haltung. Auch diese wird “anerzogen” und “vorgelebt”.
    – Anonymisierung, d.h. die “Kultur des Wegschauens” – unterlassene Hilfeleistungen…wird ja gleichfalls als “Normalität” – auch bei den “nicht-aggressiven” Erwachsenen!! betrachtet…
    – hier könnte man sicherlich noch etliche andere Aspekte anschließen….

    Fehlentwicklungen in der “modernen” Kindheit:
    Eine davon ist, dass “moderne” Erziehung zu wenig Grenzen setzt(e). Kinder dürfen etwas kaputt machen, dann kauft man halt etwas Neues. Es werden “Prinzen” und “Prinzessinnen” großgezogen: Merkmal große Ichbezogenheit und wenig Empathie und Mitgefühl für seine Mitmenschen. Gerade in der frühen Kindheit, dreht sich alles um das Kind und seine Bedürfnisse. Eltern stellen ihre eigenen Bedürfnisse ständig hinten an, anstatt von Ihren Kindern gleichfalls Rücksichtnahme zu fordern.

    Hinzu kommt, dass immer weniger “Benimmregeln” aufgestellt werden. Wie benimmt man sich Erwachsenen gegenüber, wie verhält man sich rücksichtsvoll und höflich? Viele Kinder lernen immer weniger die eigenen Wünsche und Bedürfnisse zurückzustellen und gleichzeitig die Wünsche und Bedürfnisse seiner Mitmenschen in das eigene Handeln einzubeziehen……So groß gewordene Jugendliche und junge Erwachsene, oft bar jeglicher Hobbies, alle Konsumwünsche gesättigt, voller Langeweile suchen in Ihrer Umwelt “Kicks” (sensation seecking) und mangels Mitgefühl und nicht gelernter ethischer Grundhaltungen werden Gegenstände von Autobahnbrücken geworfen oder wie oben Angriffe getätigt. Leider liegt der Kick darin, dass etwas passiert. Würden die Epileptikervereinigungen mitteilen, dass diese Aktionen keine Reaktionen auslösten, wären sie sofort langweilig….

    Sie sind unempfindlich gegenüber dem Leid Anderer, jedoch wenn es sie selbst betrifft, dann reagiert man sogar überempfindlich. In verschiedenen Abstufungen kann man sogar in der Bloggerszene – dann auf verbaler Ebene – so gestrickte Aggressionen vorfinden. Sie richten sich gegen andere, sie haben Lust Dritte zu kritisieren und herunter zu putzen, wehe aber man muss selbst mal Kritik einstecken, dann wird sehr aggressiv reagiert. Diese Haltung “austeilen und andere kritisieren” ist erlaubt, jedoch kritische Anmerkungen anderer werden mit Vehemenz zurückgewiesen, wird mit unterschiedlicher Stärke (leider nicht nur verbal) ausgelebt. Und: die eigene Meinung geht über alles, wird zum leuchtenden Stern unter den kommentierenden “Dummies”….schlicht: man “erschlägt” andere Meinungen regelrecht mit einem Wortschwall an Besserwisserei. Man unterstellt ideologische Einflüsse und merkt nicht, dass die eigene “unumstössliche” Ansicht gleichfalls ideologischen Charakter hat. Auch hier kann man als Leser verfolgen, dass Diskussionen mit solchem Hintergrund lebhaft geführt und Besucher davon “magisch” angezogen werden. Da ist einfach was los……

    Irgendwie ähnelt es dem Deutschland-sucht-den-Superstar-Prinzip. Ich fürchte, dass die ZDF-Sendung mit der Suche nach dem Musical-Star nach ähnlichem Prinzip – aber überaus freundlichen und liebevollen Rückmeldungen der Jury – schon deshalb nicht so viel Anhänger findet, weil alles viel zu “glatt” ist….

    Die “verbale” Aggressionsebene hinterlässt zumindest keine Verletzungen oder mehr. Sie verändert “nur” die sozialen Strukturen, sie behindert Betroffene im Zusammenleben……. Anders jene “sensation seekers”, welche emotional völlig abgestumpft für den Nächsten richtig gefährlich werden.

    Bei all dem darf man jedoch nicht vergessen, dass es auch Kinder gibt, welche noch nach anderen “Regeln” großgezogen werden….so dass die obige Beschreibung nur für jenen Personenkreis gilt, welcher so auffällig wird. Auch sind dabei jene Jugendlichen nicht erwähnt, welche als “Trittbrettfahrer” schlicht dabei sind, weil sie einer Peer-Gruppe angehören, deren “Anführer” im o.g. Sinne denkt und handelt..

  6. #6 Christian Reinboth
    3. April 2008

    @Monika: Ich denke mit der Ich-Bezogenheit vieler junger Menschen triffst Du den Nagel auf den Kopf. Gerade heute ist in der Zeit zum Thema “Steinewerfer” ein Interview mit dem Jugendpsychologen Wolfgang Bergmann erschienen, in dem genau diese These besonders drastisch artikuliert wird:

    “Noch nie gab es Kinder, die so gefüttert wurden mit Glücksversprechen. Das Ich-Ideal muss sich an all den Superstars und Supermodels orientieren. Es geht darum zu agieren, als wäre man allmächtig, ein junger Gott. Die Realität ist dagegen unattraktiv. […] [Es geht] um die Selbstidolisierung. Rücksicht auf andere Menschen hat dabei keinen Platz mehr. Viele Kinder und Jugendliche sehen den Schmerz oder das Leid anderer nicht. Man nimmt den anderen nur noch verschwommen wahr.”

    Link zum kompletten Interview: https://www.zeit.de/online/2008/14/holzklotz-jugendliche-interview

    Das ist sicher wieder eine subjektive Feststellung, aber genau das Gefühl habe ich bei den Jugendlichen heute. Das Ich steht absolut im Mittelpunkt und jede Aktion zur Beflügelung des eigenen “Funs” wird ohne Rücksicht auf andere mitgemacht. Gerade vorgestern war ich bei einer höchst aufschlussreichen Bürgerversammlung dabei, in der mir das Ausmaß der jugendlichen Zerstörungswut auch hier vor Ort erst richtig klar geworden ist: Da werden die Wände fremder Wohnungen beschmiert mit Parolen und öbszönen Begriffen, Rückspiegel abgebrochen, Bänke umgeworfen, Verkehrsschilder unkenntlich gemacht – warum das alles? Eine wirklich traurige Situation, in der sich die Gesellschaft da zur Zeit befindet….

  7. #7 hajo
    10. Dezember 2008

    diese jahrhundert ist voll von perversitäten und kranken-mich wundert gar nichts mehr, bin aber auch immer wieder geschockt, wenn ich solche oder ähnliche meldungen lesen muss. das jammern darüber bringt uns aber auch nicht weiter (im gegenteil!).

    anstelle nach dem warum zu fragen, finde ich es wichtiger die frage “was muss getan werden” versuchen zu beantworten. und da behaupte ich, dass es die technischen möglichkeiten gäbe, dieses und ganz viele andere probleme aus der welt zu schaffen. active x javasript und konsorten kann man leider nicht völliog abschalten, da sonst viele webseiten nicht mehr funktionieren. die lösung mit den angesprochenen plugins ist eine notlösung für viele. für die hier betroffenen epileptiker vermutlich nicht, da sie ja ihrem eigenen forum vertrauen und somit vermutlich jscript für die seite genehmigen werden und dann stehen sie vor dem gleichen problem!

    die lösung kann nur sein, das internet insgesamt sicher zu machen durch die freiwillige nichtanwendung und ein internationales verbot von unsicheren zusatzprogrammen! es gibt ja schliesslich alternativen bzw. man könnte die programme sicherer machen, wenn man denn wirklich wollte.

    ja ja, ich höre schon die einwände: nicht machbar,illusionär ….

    aber bedenkt: ein verbot von streubomben hat etliche jahrzehnte gebraucht, und es hat 220 jahre gedauert bis zu einem schwarzen us-präsident.

    deshlab: habt mut und denkt 100 jahre weiter-ich habe keine lust auf den zusammenbruch des internet!

    ps
    und hier sind kommentare nur mit aktiviertem jscript gestattet!?!?!? —
    da sollten sie,herr reinboth aber auch mal bei sich selbst beginnen!

    im übrigen sollte der webseitenbetreiber auch die information für die kommentarwilligen liefern, ob die pflichtmässige emailangabe veröffentlicht wird oder nicht. ich habe keine lust auf spam!