Eine E-Mail-Konversation zwischen Sebastian Edathy (SPD), dem Vorsitzenden des Innenausschusses des Bundestags, und dem bekannten Publizisten Henryk M. Broder offenbart Erschreckendes: Offenbar greifen unsere Abgeordneten auf die Wikipedia zurück, wenn sie sich über die Aktivitäten des Verfassungsschutz informieren möchten.
Auf Broders Weblog in der “Achse des Guten” hat der Journalist vor einigen Tagen einen interessanten E-Mail-Wechsel mit Herrn Edathy veröffentlicht. Broder und Edathy diskutieren darin die spannende Frage, ob eine Beobachtung durch den Verfassungsschutz eher beim Blog “Politically Incorrect” (PI) oder beim Online-Portal “Muslim-Markt” angebracht wäre. Der Wortwechsel ist lesenswert und lässt tief blicken – die ganz entscheidende Information findet sich jedoch erst in der letzten E-Mail Edathys. Dieser lässt Broder wissen, dass der Muslim-Markt “seines Wissens” nach bereits vom Verfassungsschutz ausgewertet werde, während er sich bei PI “nicht sicher” sei. Wo aber hat sich der Vorsitzende des Bundestags-Innenausschusses darüber informiert, welche Webseite vom Verfassungsschutz beobachtet wird und welche nicht?
In der Wikipedia natürlich, dem (zugegebenermaßen in der Regel recht guten) Online-Nachschlagewerk, in dem jeder (fast) jeden Eintrag modifizieren kann und in dem sich manche Artikel stündlich ändern. Für mich stellte sich sogleich die Frage: Wenn schon Herr Edathy in der Wikipedia Recherchen über die Tätigkeiten des Verfassungsschutzes anstellt, für wie viele andere Abgeordnete ist das Online-Lexikon dann noch eine wesentliche Informationsquelle – und vor allem zu welchen Sachverhalten? Stammzellendebatte? Einwanderungsstatistiken? Klimawandel? Fahrradhelme?
Eine kurze Online-Recherche führte mich zu einem SPIEGEL-Artikel vom Januar 2008 über den Bundeswehreinsatz in Afghanistan, in dem Rainer Stinner (FPD) – Mitglied im Verteidigungsausschuss des Deutschen Bundestages – zu Protokoll gibt, dass er sich über die Afghanistan-Mission am liebsten in der Wikipedia informiert: “Ich fühle mich besser unterrichtet über laufende militärische Operationen in Afghanistan, wenn ich etwa bei Wikipedia nachsehe, als in den offiziellen Mitteilungen der Bundesregierung.” Mein Anfangsverdacht war damit bestätigt und ich recherchierte weiter.
Auf abgeordnetenwatch.de stoß ich auf eine wahre Goldgrube: Angelika Beer (Grüne) empfiehlt den Wikipedia-Artikel zu HAARP als Gegenposition zu einem Bericht des EU-Parlaments, Heidemarie Rose-Rühle (Grüne) besorgt sich aus der Wikipedia die Ergebnisse der Eurobarometer-Befragung, Rolf Stöckel (SPD) hat sich in der Wikipedia über “Chemtrails” informiert, Volker Beck (Grüne) hat die Definition von “politischer Religion” bei Wikipedia nachgeschlagen und sich darüber informiert, was genau ein “Evangelikaler” ist, Gab35.html#frage27135″>als arm gelten kann.
Ehegattensplitting funktioniert, Simone Szurmant (FDP) hat sich in der Wikipedia über das Aspberger Syndrom kundig gemacht und Daniela Raab (CDU) zitiert auf die Frage, wer im Rahmen der Gefahrenabwehr als “Gefährder” eingestuft wird – aus der Wikipedia. Den Vogel schießt aus meiner Sicht der NPDler Andreas Molau ab, der die Wikipedia wie ein Buch bzw. einen Experten zitiert (“Wikipedia geht von etwa 20 Millionen [sic] Opfer des Stalinismus aus”). Ebenfalls rührend: Katja Kipping (die LINKE) bemüht die Wikipedia bei der Frage, ab wann ein Mensch eigentlich als arm gelten kann.
Immerhin: Dr. Dieter Wiefelspütz (SPD) findet die Wikipedia unterirdisch schlecht und Dr. Hans-Peter Uhl (CSU) hält das Nachschlagewerk offenbar für tendenziös. Abgesehen davon wird die Wikipedia in deutschen Politikerkreisen offenbar sehr geschätzt und intensiv genutzt. Und warum auch nicht – schließlich, so lässt das Büro von Volker Beck wissen, bekommt man dank Wikipedia einen einfach geschriebenen Einblick in komplexe Sachverhalte. Und mal ehrlich – eine einfache Zusammenfassung als Grundlage reicht doch eigentlich auch bei komplizierten Entscheidungen völlig aus. Aus der Informationstheorie weiß man immerhin schon lange, dass die Entscheidung immer schwieriger wird, je mehr Informationen zur Verfügung stehen….
Mit einem Wort: WOW. Keinem Studenten würde ich eine Arbeit durchgehen lassen, in der ständig aus der Wikipedia zitiert wird – bei Land- und Bundestagsabgeordneten muss ich wohl damit leben. Eine Frage drängt sich dabei aber natürlich auf: Wenn der Vorsitzende des Innenausschusses die Wikipedia bemüht, um sich über laufende Verfassungsschutz-Beobachtungen zu informieren und wenn Mitglieder des Verteidigungsausschusses den Afghanistan-Einsatz via Wikipedia verfolgen – welchen Einfluss haben dann eigentlich die Wikipedia-Autoren (ungewollterweise) auf politische Entscheidungsprozesse in diesem Land? Da jeder in der Wikipedia selbst Änderungen vornehmen kann, stellt sich doch automatisch die Frage, ob man mit dem richtigen Wikipedia-Edit nicht eventuell sogar mehr bewegen kann als mit dem Gang zur Wahlurne. Denn wenn ich weiß, dass unsere Abgeordneten nicht nur die Wikipedia als Recherchetool verwenden, sondern die Informationen darin offenbar auch noch als besonders vertrauenswürdig einstufen….
Oder, um den Blogpost mit einem Augenzwinkern zu beschließen: Regieren uns am Ende gar bereits die Wikipedianer – und das, ohne es zu wissen?
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