Klassenziel Arbeitslosigkeit: Mit einigem Entsetzen musste ich gestern zur Kenntnis nehmen, dass es in Deutschland mittlerweile Schulen gibt, die Mathe- und Deutschstunden zugunsten von “Hartz IV”-Unterricht zusammengestrichen haben.
Wohlgemerkt, mit “Hartz IV”-Unterricht meine ich nicht etwa Unterricht der nichts taugt – sondern Unterrichtsstunden in denen Schülerinnen und Schülern direkt beigebracht wird, wie der Hartz IV-Antrag korrekt ausgefüllt werden muss, wie man Fördermaßnahmen beantragt und wie man eine Wohnung findet, die den Hartz IV-Kriterien genügt.
So berichtet das WDR über die Fröbelschule Wattenscheid-Bochum:
Ein Zimmer, kleine Küche, kleines Bad – so groß darf die Wohnung werden, wenn man nach der Schule von Hartz IV lebt. Das lernen Mustafa und Bekir im Unterricht. […] Weil es in Wattenscheid selbst keine Hilfsarbeiterjobs mehr gibt, bereitet Schulleiter Christoph Graffweg seine Schützlinge von der Förderschule jetzt konsequent auf die Arbeitslosigkeit vor.
Erschreckend und meines Erachtens nach fundamental falsch, auch wenn ich die Beweggründe des Schulleiters in gewisser Weise nachvollziehen kann. Der will seine Schüler offenbar bestmöglich auf das vorbereiten, was sie nach dem Hauptschulabschluss mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit erwartet:
In den letzten drei Jahren haben nur zwei Schüler eine richtige Lehrstelle bekommen. Christoph Graffwegs Konsequenz: Statt Geometrie und Grammatik gibt’s Vorbereitungskurse auf Hartz IV am Beispiel vom arbeitslosen Klaus. Andreas kennt das Problem, ihr Vater ist auch arbeitslos. Jetzt soll sie selbst auf diese Perspektive vorbereitet werden.
Ich bin ja schon seit Jahren der Meinung, dass ein wenig “Haushalts- und Finanzunterricht” in allen Schultypen von großem Nutzen wäre. Jeder mündige Bürger sollte auf diese Weise in die Lage versetzt werden, den möglicherweise lebensverändernden Tilgungszeitraum für einen Kredit selbst zu berechnen – ich erschrecke regelmäßig, wenn mir mal wieder klar wird, dass manche Menschen die elementarsten finanzmathematischen Kenntnisse fehlen.
Mit der in Wattenscheid eingerichteten “konsequenten Vorbereitung auf die Arbeitslosigkeit” wird jedoch eine Grenze überschritten. So wichtig wie die Vorbereitung aufs alltägliche Leben auch sein mag, die Hauptaufgabe einer Schule besteht noch immer darin, Bildung zu vermitteln – den wahrscheinlich besten Schutz gegen Dauerarbeitslosigkeit überhaupt.
In dem Moment, in dem man Hartz IV zum Klassenziel macht, nimmt man nicht nur den Kindern auch noch den letzten Rest an Perspektive, man beraubt sie außerdem wertvoller Bildungschancen. Wenn Kindern schon in der Schule “Du hast nichts, Du bist nichts und das wird sich auch niemals ändern” vermittelt wird, welche Motivation sollten sie dann noch haben, sich überhaupt mit irgend etwas anderem als mit der korrekten Beantragung von Transferzahlungen zu befassen?
Klassenziel Hartz IV. Erodiert unser Bildungssystem? Man könnte es meinen, denn während man in Wattenscheid bereits seit 2007 Hartz IV-Unterricht gibt, begann erst diese Woche in der Kerschensteinerschule in Frankfurt ein noch viel gewagteres (und viel schlimmeres) Experiment. Dort hat man Deutsch, Englisch und Geschichte aus dem Lehrplan gestrichen – und will den Kindern zukünftig nur noch das vermitteln “was ihnen Spass macht”:
Die größte Überraschung wartet […] auf die Fünftklässler, die neu auf die Kerschensteinerschule in Hausen kommen. Auf ihren Stundenplänen tauchen Deutsch, Englisch und Geschichte nicht auf. Nur noch Mathematik und Sport sind als klassische Schulfächer geblieben. […] «Kompetenzschule» heißt das Abenteuer, auf das sich Schüler, Lehrer und Eltern an der Grund- und Hauptschule im neuen Schuljahr erstmals einlassen.
Über die Frage, ob es richtig sein kann, die Zukunft von Kindern zugunsten pädagogischer Experimente aufs Spiel zu setzen, habe ich mich ja bereits an anderer Stelle geäußert. Auch wenn ich die Argumente derjenigen durchaus nachvollziehen kann, die sich für solche neuen pädagogischen Konzepte begeistern können, bin ich nach wie vor der Meinung, dass das Experimentieren mit den Zukunftschancen von Kindern und Jugendlichen nur sehr, sehr eingeschränkt erlaubt sein sollte. Denn was wird aus den Schülern, wenn das tolle neue Konzept “ich lerne, was und wie es mir Spass macht” überraschenderweise fehlschlagen sollte? Eine weitere Klasse von “Hartz IV-Absolventen” vielleicht?
Wer sich die Ausführungen zum pädagogischen Konzept der Schule näher durchliest, stellt schnell fest, dass alles noch viel schlimmer ist, als es sich zunächst anhört:
Zwei Elemente machen das neue Schulkonzept aus: «Wir gehen davon aus, dass die Kinder das am besten lernen, was sie wirklich interessiert.» Dem dient das Lernen in Projekten. Die Schüler wählen sich den Weg, auf dem sie zu Wissen kommen, selbst. Und nutzen die Fähigkeiten, die sie haben. Dass viele von ihnen mehrere Sprachen beherrschen und das Leben in zwei Kulturen kennen, brachte ihnen in der Schule bisher kaum Vorteile.
Während ich mich zu der bahnbrechenden Erkenntnis, dass Kinder und Jugendliche sich lieber mit Dingen beschäftigen, die sie interessieren, anstatt mit solchen, die sie nicht interessieren, gar nicht weiter äußern möchte, komme ich nicht umhin, zum Stichwort “Leben in zwei Kulturen” noch etwas loszuwerden. Der Ausdruck scheint mir eine leicht euphemistisch angehauchte Umschreibung dafür zu sein, dass ein größerer Teil der Schülerinnen und Schüler der Kerschensteinerschule über einen Migrationshintergrund verfügt. Gerade für solche Kinder ist der Umgang mit der deutschen Sprache für den späteren Lebenserfolg entscheidend. Sprache ist der Schlüssel zur Integration:
[Es] müssen rund die Hälfte aller Kinder mit Deutsch im Zweitspracherwerb als sprachgestört eingestuft werden (vgl. 23 % der deutschen Kinder). Diese Defizite haben enormen Einfluss auf die intellektuelle und soziale Entwicklung. Um hier Verzögerungen vorzubeugen und auszugleichen, braucht es eine systematische intensive Sprachförderung bereits im frühen Kindesalter, die schulbegleitend fortgeführt wird.
Quelle: Kinderkommission des Deutschen Bundestages
Wenn man auf jeglichen Sprachunterricht zugunsten experimenteller Unterrichtsformen verzichtet, verbaut man den Kindern unter Umständen die beste und vielleicht sogar einzige Chance, sich die später dringend benötigten Sprachkompetenzen anzueignen. Wenn man darüber hinaus auch Geschichte, Geographie, Englisch, Biologie, Sozialkunde und Informatik nur noch in spielerischen Projekten ohne jegliche Zwänge – und ohne Noten, die man im Zuge der Reform gleich mit abgeschafft hat – vermittelt, besteht die reale Gefahr, dass ganze Klassen auf direktem Wege in die Schlange vor der Arbeitsagentur geschickt werden.
Also doch Klassenziel Hartz IV? Ich befürchte fast, dass man an der Kerschensteinerschule den Hartz IV-Unterricht aus der Fröbelschule in Wattenscheid gut gebrauchen könnte – ohne Benotung, versteht sich….
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