Während sich in Deutschland vernünftige Diskussionen über finanziellen Nutzen und allgemeine Sicherheit des LHC-Experiments mit auf Sensation getrimmten Weltuntergangs-Schlagzeilen in etwa die Waage hielten, scheint die Angst im Fernen Indien deutlich größer gewesen zu sein.
Durch die US-Medien geistert heute jedenfalls die Meldung über den Freitod einer 16jährigen Inderin, die sich scheinbar aus lauter Angst vor dem LHC-Start mit Pestiziden vergiftet hat.:
A teenage girl in central India killed herself on Wednesday after being traumatized by media reports that a “Big Bang” experiment in Europe could bring about the end of the world, her father said. The 16-year old girl from the state of Madhya Pradesh drank pesticide and was rushed to the hospital but later died, police said.
Während es sich bei dem Selbstmord (hoffentlich) nur um einen Einzelfall handelt, scheint die Angst vor dem Teilchenbeschleuniger in Indien allgemein deutlich größer zu sein als hier in Europa:
For the past two days, many Indian news channels held discussions airing doomsday predictions over a huge particle-smashing machine buried under the Swiss-French border. […] In deeply religious and superstitious India, fears about the experiment and the minor risks associated with it spread rapidly through the media. In east India, thousands of people rushed to temples to pray and fast while others savored their favorite foods in anticipation of the world’s end.
In den Selbstmord getrieben durch LHC-Katastrophenmeldungen in den Medien? Darüber könnte man vermutlich endlos spekulieren, sollte sich die Geschichte jedoch bewahrheiten, wäre das schon ein besonders trauriges Beispiel dafür, wohin übertriebener Alarmismus und “Doomsday-Journalismus” führen können. Wobei, wie ich mit Erstaunen feststellen musste, ausgerechnet die Gruppe der junge Frauen aus Indien in der Welt-Selbstmord-Statistik der WHO an erster Stelle steht, was – das halte ich zumindest für keine unvernünftige Spekulation – natürlich zu dem tragischen Vorfall beigetragen haben könnte:
The highest suicide rate in the world has been reported among young women in South India by a new study. The research is of major importance, according to the World Health Organization, as it brings to light Asia’s suicide problem. The average suicide rate for young women aged between 15 to 19 living around Vellore in Tamil Nadu was 148 per 100,000. This compares to just 2.1 suicides per 100,000 in the same group in the UK.
In den deutschsprachigen Medien wurde über den Fall meines Wissens nach noch nicht berichtet, der einzige erwähnenswerte Kommentar stammt ausgerechnet von Andreas von Rétyi, der mit seinen Publikationen über Themen von Area 51 bis zu den Illuminati eher nicht zu denjenigen gehört, von denen man – bei aller Fairness und Objektivität der Person gegenüber – einen ausgewogenen Kommentar zum Thema erwartet hätte. In diesem Fall kann ich jedoch nur den Hut ziehen, denn besser kann man es kaum ausdrücken:
[…] Zwanghaft und ebenso blind in allem eine Gefahr zu wittern, würde den Sturz ins andere Extrem bedeuten. Unser Leben birgt doch wahrlich genügend Gefahren. Um da überhaupt noch einigermaßen leben zu können, sollte man sich wohl nicht auch noch mit höchstwahrscheinlich völlig überflüssigen Sorgen belasten. Und Panikmache nur um der Panikmache und Sensation willen, wäre schlichtweg unverantwortlich. Das zeigt allein schon das traurige Beispiel von Chayya, jener jungen Inderin, die sich aus Angst vor CERN heute das Leben nahm.
Was mich zu meiner Befürchtung bringt, dass die LHC-Selbstmord-Geschichte während der nächsten 24 Stunden auch von deutschen Medien aufgegriffen werden und zu einer “guten Schlagzeile” umgeschrieben werden könnte. Vielleicht bin ich bloss pessimistisch, und die Headline bleibt uns erspart. Falls nicht, möchte ich alle mitlesenden Journalisten (da dieser Post aufgrund des ScienceBlogs-Page Rank vermutlich in ein paar Stunden zu den ersten Google-Treffern zu “LHC” + “Selbstmord” gehören dürfte) mit auf den Weg geben, dass die eigentliche Schlagzeile nicht “Selbstmord wegen LHC” sondern “Selbstmord wegen übertriebener LHC-Berichterstattung” lauten sollte.
Denn ebenso wie die Schuld an den Heaven’s Gate-Selbstmorden im Jahre 1997 nicht etwa auf den Kometen Hale-Bopp abgewälzt werden kann, sondern allein bei Marshall Applewhite und Bonnie Nettles liegt, wäre es schlichtweg falsch zu behaupten, die junge Frau wäre durch die Angst vor den Teilchenbeschleuniger-Experimenten in den Tod getrieben worden. Dies mag zwar prinzipiell richtig sein, die in Indien offenbar besonders desaströse LHC-Berichterstattung als Auslöser der irrational starken Angstgefühle sollte jedoch in keinem objektiv recherchierten Bericht fehlen oder an den Rand gedrängt werden.
Bemerkenswert an der ganzen LHC-Berichterstattung ist meines Erachtens nach übrigens nicht die häufig vorgebrachte Aussage, dass Experiment berge unkalkulierbare Risiken. Vielmehr ist es die falsche Annahme, das die Katastrophe, wenn sie denn eintreten würde, uns bereits am 10. September ereilt hätte. Dies wurde bereits vor dem Experiment so kommuniziert (und das offenbar nicht nur in den deutschen Medien), viele Journalisten sind nach dem erfolgreichen Erstlauf nun scheinbar der Meinung, die Gefahr sei gebannt: “Weltuntergang hat nicht stattgefunden”, “Erleichterung macht sich breit” war heute aus vielen Ecken des Blätterwaldes zu vernehmen. Daher sei an dieser Stelle nochmal ganz deutlich gesagt, dass wenn durch das LHC in der Tat eine Katastrophe ausgelöst werden könnte (was, wie man den Berichten meiner physikalisch besser orientierten Bloggerkollegen in den letzten Wochen hundertfach entnehmen konnte, sehr, sehr, sehr, sehr, sehr, sehr, sehr unwahrscheinlich ist), dann hätte diese keinesfalls am 10. September stattfinden können – denn da fand nicht einmal eine Kollision statt.
Aber vielleicht sollte man das besser gar nicht zu laut und zu oft sagen, denn sonst gibt es am Tag der ersten Kollision vielleicht wieder neue Panikmache – und neue Selbstmorde.
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