Wer die Kommentarschlachten der letzten Wochen hier auf den Scienceblogs mitverfolgt hat, dem wird nicht entgangen sein, wie ernst manche Kommentatoren wilde Theorien von gefälschten Mondmissionen bis hin zu heilenden Streukügelchen verteidigen. Ich frage mich bei solchen Diskussionen immer wieder, wie es möglich ist, dass trotz klarer Gegenargumente auch noch der 50. Verteidigungs-Post verfasst wird.
Eine soziologische Analyse der diversen Pseudo- und Eso-Gruppen kann ich an dieser Stelle kaum liefern – dafür sind andere definitiv besser qualifiziert. Der Post ist daher rein spekulativer Natur und wird wissenschaftlichen Ansprüchen ganz sicher nicht gerecht. So kurz vor den Feiertagen und dem einhergehenden Blogging-Urlaub sollte aber auch mal eine etwas weniger ernsthafte Spekulation gestattet sein – und mit etwas Glück liefert uns der Post ja die Grundlage für ein paar aufschlussreiche Diskussionen…
Auch auf die Gefahr hin, mich damit vielleicht unbeliebt zu machen, möchte ich mich also auf dünnes Eis begeben und die Behauptung aufstellen, dass die meisten der besonders überzeugten Verfechter von Pseudowissenschaften, Esoterik oder Verschwörungstheorien einem dieser geistigen Mechanismen (oder einer Kombination derselben) erlegen sind:
Downward Spiral: Zu den erstaunlichsten Beobachtungen, die ich in den letzten Jahren machen konnte gehört, dass es Menschen, sobald sie erst einmal von einer abstrusen Theorie überzeugt sind, offenbar sehr viel leichter fällt, auch an andere Dinge zu glauben. Woran dies liegen könnte, vermag ich nicht zu sagen. Wäre es möglich, dass durch den Abkehr sowohl von „klassischer” Religion als auch von der Naturwissenschaft eine „Lücke” entsteht, die irgendwie gefüllt werden muss? Liegt es daran, dass die Beschäftigung mit hahnebüchenen Ideen die eigenen Denkprozesse soweit beeinflusst, dass Vorstellungen, die man früher nicht im Ansatz akzeptiert hätte, auf einmal vernünftig klingen?
Müsste ich raten, würde ich auf eine inkrementelle Entwicklung tippen – so wie bei dem Frosch, der aus einem Topf mit kochendem Wasser sofort herausspringt, der aber ruhig im Wasser sitzenbleibt, wenn die Temperatur langsam erhöht wird.
Wer aus heiterem Himmel mit der Behauptung konfrontiert wird, Uri Geller könne mit Außerirdischen kommunizieren, die auf einem unsichtbaren Planeten hinter dem Mond leben, der wird den Gedanken vermutlich laut lachend verwerfen. Vielleicht hat man aber schon die „Einstiegsdroge” Akupunktur akzeptiert. Das funktioniert ja bekanntlich. Wenn aber Akupunktur funktioniert, dann doch vielleicht auch die gesamte TCM? Und wenn die schon funktioniert, warum dann nicht auch Geistheilung? Und wenn es schon Geistheiler gibt, dann vielleicht auch Gedankenleser? Wenn aber schon Menschen Gedanken lesen können, könnte dann nicht auch Uri Geller…?
Zumindest bei einigen Verschwörungstheoretikern ist mir diese gedankliche Entwicklung schon öfter aufgefallen. Man steigt mit echten Verschwörungen (Iran-Contra, Watergate) ein, geht dann über zu spekulativen aber nicht vollkommen ausgeschlossenen Ideen (FDR wusste von Pearl Harbor, Oswald war kein Einzeltäter). Alles noch im grünen Bereich.
Nach und nach steigern sich manche dann immer tiefer in immer unwahrscheinlichere und abstrusere Gedankenwelten hinein (die Freimaurer kontrollieren heimlich die Welt, 9/11 wurde vom Mossad organisiert), bis sie am Ende vollkommen abrutschen (die Mondlandung fand nur im Fernsehen statt, Hitlers Klon lebt auf einer Geheimbasis in Neuschwabenland). Von Iran-Contra bis dorthin ist es gedanklich ein weiter Sprung, der sich bei den meisten Menschen vermutlich nur inkrementell vollziehen kann.
Spannender als die Realität: Was ist eigentlich aufregender – das Sky-Light einer Disco am Himmel zu sehen, oder den Anflug eines außerirdischen Mutterraumschiffs zu beobachten? Die gedankliche Welt, in der einige Menschen zu leben scheinen, ist wahrhaft spannender als jeder Kinofilm. Da gibt es uralte Orden, die hinter den Kulissen der Weltgeschichte die Fäden ziehen, Außerirdische, die in geheimen US-Basen auf Eis liegen sowie Geistheiler und Gedankenleser, die wahre Wunder vollbringen.
Einer meiner Bekannten machte vor Jahren die Feststellung, dass, wer dem unglamurösen Alltag und den eigenen Pflichten vorübergehend entkommen möchte, sich in Fantasy- oder Science Fiction-Welten von Tolkien oder Roddenberry zurückzieht. Wen es dagegen dazu drängt, der Realität dauerhaft zu entsagen, der stürzt sich in Pseudowissenschaften, Esoterik und Verschwörungstheorien. Könnte an dieser Theorie vielleicht etwas dran sein?
Ich weiß es natürlich nicht, kann mir aber gut vorstellen, welche Versuchung davon ausgeht, in einer alternativen Realität zu leben, die so angefüllt mit Geheimnissen, Verschwörungen und Mystik ist, dass kein Hollywood-Streifen mehr mithalten kann.
Das Bedauerliche daran ist nur, dass die Welt, in der wir tatsächlich leben, viel spannender und aufregender sein kann, als jede künstliche Scheinwelt. Wer das nicht glauben kann, möge sich von einem Meeresbiologen die Wunder der Tiefsee erklären lassen – Scheinwelten sind nichts dagegen. Leichter zu durchdringen sind sie aber allemal – und genau das macht ihren besonderen Reiz aus. Denn die Wunder der Scheinwelten erschließen sich auch ohne gedankliche Anstrengung und ohne zeitaufwändiges Studium.
Attraktives Geheimwissen: Die Vorstellung, über geheime Kenntnisse zu verfügen und zu der kleinen Gruppe „Sehender” zu gehören, die hinter die Kulissen blicken können, dürfte vermutlich auf viele Menschen anziehend wirken. Wer genügend „Durchblick” hat, um alle diese lächerlichen Märchen – von der Mondlandung bis hin zur Relativitätstheorie – zu durchschauen, der steht natürlich über den Dingen, ist wissender, klar denkender als der Durchschnittsmensch mit seinem Durchschnittsverständnis.
Hand aufs Herz – wer wollte nicht zu einer solch exklusiven Gruppe gehören? Schließlich kann man sich als Träger geheimer Wahrheiten nicht nur wichtig fühlen, man kann auch noch ein gutes Werk verrichten, wenn man den Unwissenden hier und da kleine Einblicke gewährt, und sie darauf hinweist, dass die Welt eben nicht so ist, wie sie zu sein scheint. Da fühlt man sich doch gleich ein wenig wie Morpheus im ersten Teil der „Matrix”-Trilogie. Und hey – wenn man schon in einer Welt lebt, die nicht nur entfernt an einen Kinofilm erinnert – dann sollte man schon sehen, dass man für sich selbst eine der besseren Rollen reserviert.
Schmerzhafte Abkehr: Mal ehrlich – wer jahrelang Streukügelchen in seinem Ort verkauft, die Dienste des lokalen Kartenlegers angepriesen oder versucht hat, jedem Freund und Bekannten „die reine Wahrheit” über die Mondlandung klarzumachen, der dürfte sich auf jeden Fall schwer damit tun, vom einmal betretenen Pfad abzuweichen und einzugestehen, dass man so naiv gewesen ist, jahrelang auf irgendwelchen Quatsch reinzufallen. Besonders hart trifft es diejenigen, die auch noch unzählige €€€ in Eso-Kursen und -Büchern versenkt oder die vielleicht sogar einen Verdienst aus ihrer Leidenschaft gemacht haben.
Der menschliche Geist scheint mir in solchen Fällen zu der erstaunlichen Leistung fähig zu sein, eine Art ideologischen Tunnelblick zu generieren, der einen nur noch das sehen lässt, was man sich zu sehen gestattet. Unbequeme Wahrheiten und Gegenargumente werden einfach ausgeblendet oder in das bestehende Weltbild eingefügt („die Wissenschaftler wollen nur ihre Verschwörung aufrecht erhalten”). Im Gespräch mit Überzeugten ist man oft schnell an einem Punkt angelangt, an dem jedes weitere Argumentieren sinnlos erscheint. Man fragt sich, ob das Gegenüber einen nicht verstehen will oder nicht verstehen kann. Die Wahrheit, so vermute ich, wird in den meisten Fällen irgendwo dazwischen liegen…
Instant Gratification: Der Begriff der „instant gratification” hat in der Marktforschung mittlerweile eine gewisse Bedeutung erlangt. Viele Menschen sind in immer geringerem Maße noch dazu bereit, sich für einen nicht-materiellen und nicht-sexuellen Lustgewinn wirklich anzustrengen. Humor muss leicht verdaulich, Kunst schnell verständlich und Literatur einfach geschrieben sein.
Scheinwelten versprechen die ultimative „instant gratification”. Schon nach den ersten paar Info-Happen weiß man bereits mehr über die „Wahrheit” als 90% der Bevölkerung und es erschließen sich einem politische und wissenschaftliche Zusammenhänge von immenser Bedeutung. All dies ganz ohne die Mühen einer fundierten Ausbildung, ganz ohne die Notwendigkeit der rigorosen Prüfung von Quellen und Hypothesen. Eigentlich eine tolle Sache – man braucht bloß ein Buch über die Mondlandung / Geistheilungen / Freimaurer zu lesen und schon weiß man mehr, als die Uni-Schnösel Astronomen / Mediziner / Historiker, denen jahrelang an den Unis totaler Mist eingetrichtert wurde…
Scheinwelten sind spannend und attraktiv – keine Frage. Mit der Realität können sie jedoch bei weitem nicht mithalten. Die wahren Wunder unserer Welt erschließen sich jedoch nur dem, der bereit ist, viel Zeit und Mühe zu investieren. Langfristig dürfte sich das immer lohnen – kurzfristig jedoch scheint auf viele Menschen der Reiz der bunten Scheinwelten leider anziehender zu wirken…
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