Im Jahre 1859 beobachtete der britische Astronom Richard Carrington ein bis dato noch unbekanntes Sonnenphänomen, das vom stärksten geomagnetischen Sturm der letzten 500 Jahre begleitet wurde. Welchen Schaden könnte ein solches Ereignis heutzutage anrichten?
Als Carrington am Morgen des 1. September 1859 eine Projektion der Sonne studierte, um Sonnenflecken zu verzeichnen, beobachtete er das Auftauchen zwei extrem heller Punkte. Beinahe augenblicklich realisierte Carrington, dass er Zeuge eines außergewöhnlichen Ereignisses wurde. Schnell verließ er den Raum, um einen Kollegen hinzuzuziehen. Als sie zurückkamen, konnten sie jedoch nur noch das Verlöschen den Phänomens beobachten.
Wie Bell & Phillips [1] beschreiben, versetzten am Abend des darauffolgenden Tages Polarlichter und andere atmosphärische Erscheinungen die Menschen weltweit in großes Erstaunen. In einigen europäischen Städten soll der Himmel die ganze Nacht über so hell gewesen sein, dass man auf der Straße Zeitung lesen konnte – sichtbare Zeichen des bis heute stärksten bekannten geomagnetischen Sturms.
Ein Sturm, der durchaus zerstörerische Kräfte freisetzte, wurden doch die an sich sehr reizvollen Erscheinungen am Nachthimmel vom teilweisen Zusammenbruch des damals jungen Telegrafensystems begleitet. Die durch den Sturm in die Leitungen induzierten Ströme sorgten für sprühende Funken, zerstörte Telegrafen und brennendes Papier. Tatsächlich waren sie so stark, dass sich auch von solchen Telegrafenstationen noch Nachrichten verschicken ließen, die man, um sie vor der Zerstörung zu bewahren, bereits von der Stromzufuhr getrennt hatte.
Die potenziellen Schäden an technischen Systemen hielten sich Mitte des 19. Jahrhunderts natürlich in bescheidenen Grenzen, und auch der Ausfall des Telegrafensystems war mehr eine Kuriosität als ein Grund zur allgemeinen Beunruhigung. Würde sich ein ähnliches Ereignis heutzutage wiederholen, fiele die Bilanz jedoch anders aus: Mobilfunknetze, Hochspannungsleitungen, Telefonleitungen, Satelliten, GPS-Navigation – all diese Systeme, von denen in unserer hochtechnisierten Gesellschaft so viel abhängt, könnten durch einen geomagnetischen Sturm gleicher Stärke in Mitleidenschaft gezogen werden. Allein der potenzielle Schaden an den Satelliten, die unseren Planeten umkreisen, wird von Bell & Phillips für einen vergleichbaren Sturm auf 30 bis 70 Milliarden US-Dollar geschätzt.
Seit 1859 gab es noch mehrere ähnliche Ereignisse mit wesentlich geringerer Intensität. Am 4. August 1972 unterbrach ein geomagnetischer Sturm zahlreiche Telefonleitungen im US-Bundesstaat Illinois – und am 13. März 1989 legte ein Sturm eine Generatorstation im kanadischen Québec lahm und ließ 6 Millionen Kanadier über 9 Stunden im Dunkeln sitzen. 2005 kam es sogar zu einer knapp 10-minütigen Beeinträchtigung der weltweit genutzten GPS-Navigation. Keines dieser Ereignisse erreichte jedoch die Intensität des Sturms von 1859. Das „Carrington-Event” bleibt der schwerste geomagnetische Sturm der vergangenen 150 Jahre. Untersuchungen an Eisbohrkernen deuten sogar darauf hin, dass es in den letzten 500 Jahren keinen schwereren geomagnetischen Sturm gegeben haben dürfte.
Was genau war das “Carrington-Event”?
Laut Schwenn und Schlegel [2] muss man bei der Beurteilung des Carrington-Events in zwei ganz verschiedene Ereignisse unterscheiden, die allerdings häufig gemeinsam auftreten: Ein Solar Flare Event (SFE) und eine Coronal Mass Ejection (CME).
(Quelle: https://sohowww.nascom.nasa.gov)
Bei dem von Carrington beobachteten hellen Licht handelt es sich zunächst um ein so genanntes Solar Flare Event – einen Lichtblitz, der auf ein vergleichsweise kleines Gebiet der Sonnenoberfläche beschränkt ist, und der nur wenige Minuten anhält. Solche Flares können sich in ihrer Intensität und damit auch in ihren Folgeerscheinungen deutlich unterscheiden. Zeitgleich mit dem hellen Licht können auch andere Strahlungsspitzen – insbesondere eine starke Röntgenstrahlung – gemessen werden. Flares stellen eine nicht unerhebliche Gefahr für Astronauten dar, sie sind jedoch nicht die Auslöser der geomagnetischen Stürme, deren eindrucksvollstes Beispiel der Sturm von 1859 bleibt.
Diese lassen sich nur durch die Coronal Mass Ejections – die koronalen Massenauswürfe – erklären. Hierbei handelt es sich um riesige Gaswolken mit einer Masse von bis zu 10 Billionen Kilogramm, die nur vom Weltraum aus beobachtet werden können und der Wissenschaft daher auch erst seit 1971 bekannt sind – ganze 112 Jahre nach dem geomagnetischen Sturm von 1859.
Bei dem von Carrington beobachteten Phänomen handelt es sich also um ein Solar Flare Event und damit nicht um die Ursache des Sturms. Da CMEs und SFEs jedoch häufig gemeinsam auftreten, ging man lange Zeit davon aus, dass die SFEs die Auslöser der geomagnetischen Phänomene sind – post hoc ergo propter hoc. Erstaunlicherweise hat sich schon Carrington gegen die kausale Verknüpfung zwischen seiner Beobachtung und dem geomagnetischen Sturm mit dem schönen Satz von der Schwalbe gewehrt, die allein noch keinen Sommer macht. Tatsächlich können beide Ereignisse auch einzeln auftreten und sowohl ihre Bindung als auch der genaue Grund ihrer Entstehung sind heute noch immer weitestgehend ungeklärt.
Wie eine Auswertung der Magnetometerdaten vom Coloba-Observatorium im indischen Bombay durch Tsurutani et al [3] im Jahr 2003 bestätigt hat, handelt es sich beim so genannten Carrington-Event um den bislang stärksten geomagnetischen Sturm der Aufzeichnungsgeschichte. Würde sich ein solches Ereignis heute wiederholen, wäre mit erheblichen Schäden zu rechnen. Bereits der weniger starke Sturm von 1989 richtete Schäden in Höhe von 400 bis 600 Millionen US-Dollar an und hätte beinahe das Stromnetz an der US-Ostküste lahm gelegt. Die Folgen eines geomagnetischen Sturms der Intensität von 1859 werden von Tsurutani und seinen Mit-Autoren als „katastrophal” eingeschätzt.
Was könnte heute passieren?
Immerhin leben wir ja nicht mehr im Jahr 1859, wo die Lebensmittel noch mit der Pferdekarre zum Markt transportiert wurden. Unsere Gesellschaft verlässt sich auf eine Vielzahl von komplexen technischen Systemen, die durch ein mit dem Carrington-Event vergleichbares Ereignis erheblich in Mitleidenschaft gezogen werden könnten. Am GPS zum Beispiel, dass bereits durch eine weniger starke CME gestört werden kann (im Dezember 2005 kam es beispielsweise als Folge eines Sonnensturms zu einem etwa 10-minütigen GPS-Ausfall), hängt heutzutage ein Großteil der internationalen Luft- und Schifffahrt.
Dramatischer wären noch die Folgen eines großflächigen, vielleicht sogar kontinentalen Stromausfalls. Spannungsspitzen werden in Überlandleitungen induziert und können zu Notabschaltungen führen, wie 1989 in Kanada geschehen. Zwar endet auch ein schwerer geomagnetischer Sturm nach maximal zwei bis drei Tagen, sind danach jedoch genügend Transformatoren und Leitungen ernsthaft beschädigt, könnte es Wochen oder sogar Monate dauern, bis die gesamte Stromversorgung wieder hergestellt werden kann.
Was könnte das bedeuten? Die meisten Krankenhäuser verfügen über Notgeneratoren, die einen Betrieb über einige Tage ermöglichen – aber danach? Was passiert mit der Lebensmittelversorgung, wenn Kühlhäuser nicht mehr mit Strom versorgt werden können und Tankstellen das Benzin ausgeht? Was wird aus der Trinkwasserversorgung, wenn Pumpen für Wochen oder Monate stillstehen? Oder – wie Michael Brooks im NewScientist fragt – was wird aus Diabetes-Kranken, wenn nicht mehr genügend Insulin in den Apotheken erhältlich ist? Was ist mit chronisch kranken Patienten, wenn die Medikamente ausgehen? Wie groß könnten die wirtschaftlichen Schäden eines solchen Ereignisses sein?
Angesichts der Tatsache, dass der geomagnetische Sturm von 1859 offenbar in den letzten 500 Jahren nicht an Intensität übertroffen wurde, besteht wenig Grund zu unmittelbarer Besorgnis. Es wäre dennoch unsinnig darauf zu hoffen, dass ein derartiges Extremereignis nicht noch einmal auftreten kann, oder dass keine noch intensiveren Stürme möglich wären.
Wie wahrscheinlich ist so ein Ereignis?
Wie groß aber ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein solches Ereignis während der nächsten Jahre eintritt? Tsurtani et al zufolge existieren zu wenig Daten, um dies zu kalkulieren, auch wenn ein Zusammenhang mit den 11jährigen Solarzyklen als möglich gilt. Mit der Frage nach der Wahrscheinlichkeit von SFEs und CMEs haben sich in den letzten Jahren unter anderem Townsend et al [4] beschäftigt – und das nicht (nur) aus rein akademischer Neugier, denn für Astronauten auf Langzeit-Missionen können die Strahlungsspitzen von SFEs eine tödliche Gefahr darstellen. So hätte der Flare vom Oktober 1989, der in Québec den Strom ausfallen ließ, bereits ausgereicht, um einen nur durch einen Raumanzug geschützten Astronauten auf dem Mond zu töten. Eine Langzeit-Mission zum Mars wird man laut Schlegel und Schwenn vermutlich erst dann starten können, wenn man die SMEs besser vorhersagen und die Crew im Ernstfall rechtzeitig in abgeschirmte Bereiche evakuieren kann.
Ein wichtiges und spannendes Thema also für weitere Forschungen. Wie ich Schlegel und Schwenn entnommen habe, scheinen kürzlich entdeckte Strukturen in der Korona – so genannte “Sigmoide” – auf bevorstehende Phänomene wie SFEs und CMEs hinzudeuten. Vielleicht besteht also bald eine Möglichkeit, einen größeren geomagnetischen Sturm zumindest einige Tage vor dem Eintreten vorherzusagen. Rechtzeitige Schutzmaßnahmen wie die Abschaltung und Abschirmung zentraler Transformator-Stationen oder das “In-Sicherheit-Bringen” von Astronauten könnten durch eine Vorhersage ermöglicht werden.
Ein erst vor einigen Monaten neu erschienener Bericht der US-amerikanischen National Academy of Sciences mit dem Titel „Severe Space Weather Events–Understanding Societal and Economic Impacts” hat mittlerweile neuen Schwung in die Debatte gebracht und zahlreiche Medienberichte und Blogartikel zum Carrington-Event und den möglichen Folgen einer Wiederholung beflügelt. Und wer kann schon sagen, ob aus der Thematik am Ende nicht noch ein Hollywood-Film wird – immerhin wird die nächste Phase starker Solaraktivität laut NASA ausgerechnet für das Jahr 2012 erwartet. Und wenn das kein guter Stoff ist…
Zitierte Quellen
[1] T. Bell & T. Phillips: A Super Solar Flare: https://science.nasa.gov/headlines/y2008/06may_carringtonflare.htm
[2] R. Schwenn & K. Schlegl: Sonnenwind und Weltraumwetter, Spektrum der Wissenschaft, Dossier 3/2001: Die Trabanten der Sonne, Seite 15 – 23, Spektrum-Verlag, 2001.
[3] B.T. Tsurutani, W.D. Gonzalez, G.S. Lakhina & S. Alex: The extreme magnetic storm of 1-2 September 1859, Journal of Geophysical Research, Vol. 108, NO. A7, 2003.
[4] L.W. Townsend, D.L. Stephens, J.L. Hoff, E.N. Zapp, H.M. Moussa, T.M. Miller, C.E. Campbell & T.F. Nichols: The Carrington event: Possible doses to crews in space from a comparable event, Advances in Space Research, Vol. 38, Seite 226 – 231, Elsevier, 2006.
Weitere Quellen
E.W. Cliver & L. Svalgaard: The 1859 solar-terrestrial disturbance and the current limits of extreme space weather activity, Solar Physics 224, Seite 407 – 422, Springer, 2003.
90 Seconds from Catastrophe: https://www.newscientist.com/article/mg20127001.300-space-storm-alert-90-seconds-from-catastrophe.html?full=true
Solar Storm Warning: https://science.nasa.gov/headlines/y2006/10mar_stormwarning.htm
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