Da ich mir fürs neue Jahr vorgenommen hatte, den einen oder anderen Review für die ScienceBlogs zu verfassen, hier mein erster Versuch: Deutschland aus der Vogelperspektive
– eine kurze Geschichte der Bundesrepublik verfasst von Hans-Jochen und Bernhard Vogel.
Nun haben zwar schon viele Autoren die Erfolge wie auch die Irrungen und Wirrungen der jüngeren deutschen Geschichte analysiert, in “Deutschland aus der Vogelperspektive” bekommt man jedoch aufgrund des ungewöhnlichen Autorenduos gleich zwei politische Perspektiven geboten. Denn während Hans-Jochen Vogel als Bürgermeister von München, Bundesminister für Bau und später auch für Justiz sowie regierender Bürgermeister von Berlin seine politische Karriere bei der SPD machte, zog es Bruder Bernhard Vogel zur CDU, wo er lange Jahre als Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz und später Thüringen tätig war, womit er der einzige Politiker ist, der jemals in zwei deutschen Bundesländern regiert hat.
Beide Brüder haben die deutsche Nachkriegsgeschichte – von der Gründung der beiden deutschen Staaten bis hin zur Wiedervereinigung – sozusagen “hautnah” miterlebt und in nicht unerheblichem Umfang auch mitgestaltet. So war beispielsweise Hans-Jochen Vogel Bürgermeister von München, als dort 1972 elf Athleten der israelischen Olympia-Mannschaft von palästinensischen Terroristen ermordet wurden, und gehörte während der Zeit des RAF-Terrors dem Kabinett von Bundeskanzler Schmidt an. Bernhard Vogel dagegen trat in der schwierigen Aufbauphase unmittelbar nach der Wende das Amt des thüringischen Ministerpräsidenten an und ist bis heute als Ehrenvorsitzender der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung politisch aktiv (beispielsweise in Sachen Solidaritätszuschlag).
Als “Kronzeugen” der deutschen Nachkriegsgeschichte zeichnen die Brüder in ihrem Buch das Bild eines Landes, dessen politische Ebene maßgeblich von den beiden großen Volksparteien CDU und SPD dominiert wurde – ein Zustand, den man sich angesichts unseres heutigen Fünfparteiensystems sowie des schleichenden Niedergangs der SPD nur noch schwer vergegenwärtigen kann. Die Autoren spannen den Bogen der Geschichte von einer der letzten Goebbels-Reden, die Hans-Jochen Vogel 1945 an der Front hört, bis hin zur Fußball-WM von 2006, die beide Brüder schon im “politischen Ruhestand” erleben. Das politische und gesellschaftliche Geschehen dieser sechs Dekaden wird dabei auf den etwas mehr als 300 Seiten ebenso emotional wie auch anschaulich nachgezeichnet: Kriegsende, Staatenteilung, Berlin-Blockade, Mauerbau, Guilliaume-Affäre, Olympia-Massakar, Schleyer-Entführung, RAF-Terror, Warschauer Kniefall, Kosovo-Krieg, Mauerfall, Wiedervereinigung.
Dabei halten die Autoren auch mit Kritik nicht hinterm Berg, so beispielsweise an Günter Grass, der 1966 aufgrund dessen NSDAP-Mitgliedschaft gegen die Wahl von Kurt-Georg Kiesinger zum Bundeskanzler Sturm lief, seine eigenen Dienst in der Waffen-SS jedoch weitere vierzig Jahre verschwieg. Hart ins Gericht geht Hans-Jochen Vogel auch mit Oskar Lafontaine, dem er vorwirft, das Amt des SPD-Vorsitzenden aufgrund von persönlichen Befindlichkeiten weggeworfen und damit politisch entwertet zu haben. Auch die Kritik am politischen Gegner – und damit an der Partei des jeweiligen Co-Autors – kommt nicht zu kurz, was dem Buch eine unterhaltsame Würze verleiht.
Mir persönlich hat vor allem der Blick hinter die Kulissen gefallen, der sich teilweise abseits von dem bewegt, was man gemeinhin zur Nachkriegsgeschichte zu lesen bekommt. So wusste ich beispielsweise nicht, dass das SED-Politbüro die Freilassung deutscher Kriegsgefangener durch Russland noch bis zum letzten Tag blockiert hat, da man dem eigenen Volk längst “eingetrichtert” hatte, nur verurteilte Kriegsverbrecher befänden sich noch in russischer Gefangenschaft. Auch dass die CSU das Grundgesetz zunächst ablehnte – und das auch noch aus religiösen Gründen – war mir vollkommen neu, ebenso wie ich von den Schwabinger Krawallen bisher nichts gehört hatte. Und wer kann sich heute noch vorstellen, dass in den 60er Jahren ernsthaft über die Einführung des Mehrheitswahlrechts und damit de facto über ein CDU-SPD-Zweiparteiensystem nachgedacht wurde? Auch die traurige Tatsache, dass alle 1972 von der Bundesrepublik kontaktierten arabischen Staaten sich weigerten, in der Olympia-Geiselnahme zu vermitteln, war mir bislang unbekannt.
Allein schon wegen dieser kleinen Informationshäppchen lohnt sich die Lektüre – wer sich für die deutsche Nachkriegsgeschichte interessiert oder die Hintergründe der Tagespolitik besser verstehen möchte, kann bedenkenlos zugreifen.
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