In einem antiquarischen Schulbuch aus DDR-Zeiten (“Der Sozialismus – Deine Welt”, 1975 beim Verlag Neues Leben erschienen) bin ich über eine Passage zur Rolle der Wissenschaft in der Gesellschaft gestolpert, die ich zu später Stunde noch verbloggen musste.
Der Physiker und Kernforscher Max Steenbeck (1904 – 1981) schreibt:
Heute gibt es bei uns keine Forschung mehr ohne die Forderung an die Wissenschaftler, sich auch über das “Wozu” ihrer Arbeit klar zu sein. Nicht alles, was machbar oder für den Forscher interessant ist, ist deswegen schon sinnvoll oder nützlich, und
was für einen Teil der Menschen nützlich ist, kann für andere den Ruin bedeuten. Forschung ist zu einem notwendigen Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens geworden.Kein Wissenschaftler kann heute noch neben der Gesellschaft stehen, in der er und für die er arbeitet – oder sich gar als über ihr stehend betrachten; er steht immer mitten in ihr, und darum steht er auch nicht allein, auch nicht seiner Verantwortung gegenüber. Seine Arbeit ist gesellschaftliche Arbeit wie jede andere Arbeit auch und dient damit gesellschaftlichen Zielen. Diese auszuwählen fordert Parteinahme – bei
aller Objektivität und Wahrhaftigkeit in der sachlichen Durchführung.
Abgesehen davon, dass diese Passage eine Menge über den Platz der Wissenschaft in der sozialistischen Gesellschaftsordnung aussagt, drängte sich mir beim Lesen unwillkürlich
ein unangenehmer Gedanke auf: Zwar wird von der Wissenschaft heute glücklicherweise keine gesellschaftliche Parteinahme mehr erwartet, würde man jedoch “die Gesellschaft”
als Bezugspunkt durch “die Wirtschaft” ersetzen, käme man vermutlich recht nahe an die Vorstellungen vieler heutiger Entscheider heran.
Man sieht: Die Vorstellung, dass Wissenschaft, die allein der Befriedigung der menschlichen Neugier dient, irgendwie fehlgeleitet ist, gibt es nicht nur in unserem Gesellschaftssystem. Sei das Ziel nun die Unterstützung der sozialistischen Revolution oder die Schaffung von Arbeitsplätzen – die Freude an der Erkenntnis allein reicht jedenfalls nicht aus. Dabei verdanken wir viele bahnbrechende Entdeckungen – wie beispielsweise das Penicillin – nicht der zielgerichteten Forschung, sondern Zufällen und Experimenten aus Neugier. Und dass
die Grundlagenforschung trotz fehlender quantifizierbarer Zielvorgaben eben nicht sinnlos ist, hat Florian ja schon mal thematisiert…
The more things change, the more they stay the same…
Kommentare (22)