Obwohl ich die Nachrichtenlage seit zwei Tagen fast ununterbrochen verfolge, will ich an dieser Stelle mangels fachlichem Hintergrund gar nicht erst damit anfangen, über Schwere und Folgen des Fukushima-Störfalls zu spekulieren und das Blogging viel lieber denjenigen überlassen, die über die entsprechende Sachkenntnis verfügen. Trotzdem ein kurzer Kommentar zu zwei Argumenten, die mir seit zwei Tagen immer wieder begegnen.
1. “Angesichts der Tatsache, dass im Japan noch immer Menschen in Gefahr schweben und Angehörige unter Schock stehen, ist es geschmack- und schamlos, jetzt über die Sicherheit deutscher Atomkraftwerke diskutieren zu wollen.”
Dieses Argument halte ich – bei allem Respekt gegenüber denjenigen, die es in den letzten Tagen vorgebracht haben – für vollkommen untauglich. Dass angesichts eines Störfalls im Ausland – der zweifelsohne eingetreten ist, auch wenn die Dimensionen derzeit noch nicht feststehen – auch über die Sicherheit inländischer Kernkraftwerke diskutiert wird, halte ich für einen ganz normalen Vorgang; zumal mir nicht bewusst ist, dass ein ähnliches Argument im politischen Diskurs der vergangenen Jahre jemals eine Rolle gespielt hätte.
Denn selbstverständlich wurde nach den furchtbaren Terroranschlägen auf Madrider Bahnhöfe im März 2004 ganz unmittelbar über die Schlussfolgerungen diskutiert, die aus dem modus operandi der Attentäter für die innere Sicherheit der Bundesrepublik zu ziehen waren. Noch am Tag des schrecklichen Amoklaufs von Winnenden begann 2009 die politische Debatte über die Regulierung privaten Waffenbesitzes. Und selbstverständlich gab die akute Masernepidemie in Österreich im Jahr 2008 auch auf den ScienceBlogs den Anstoß zu einer Debatte über das wichtige Thema Impfmüdigkeit. Nicht einmal einer der mitdiskuierenden Impfgegner kam damals auf die Idee, eine Vertagung des Themas bis zur Genesung (oder zum Tod) des letzten Erkrankten zu fordern.
Natürlich ist es schrecklich, dass in Japan zur Stunde noch immer Menschen in Gefahr schweben – nicht nur aufgrund des Störfalls in Fukushima, sondern vor allem als Folge des Erdbebens und des gewaltigen Tsunamis. Und selbstverständlich sollte man nun erst einmal auf einen möglichst positiven Ausgang der Havariesituation hoffen, anstatt innenpolitische Streitigkeiten zu befeuern oder gar über die Auswirkungen des Störfalls auf die kommenden Landtagswahlen zu philosophieren. Doch wann, wenn nicht im Angesicht eines bedrohlichen Vorfalls, wäre denn der richtige Zeitpunkt, um öffentlich über die Sicherheit der deutschen und europäischen Atomkraftwerke zu diskutieren?
“Ich verstehe […] jeden, der sich Sorgen macht, ob eines unserer hiesigen Kernkraftwerke unter bestimmten Umständen ebenso in Gefahr geraten könnte. […] Wenn schon in einem Land wie Japan mit sehr hohen Sicherheitsanforderungen und hohen Sicherheitsstandards nukleare Folgen eines Erdbebens und einer Flutwelle augenscheinlich nicht verhindert werden können, dann kann die ganze Welt, dann kann auch Europa und dann kann auch ein Land wie Deutschland mit ebenfalls hohen Sicherheitsanforderungen und Sicherheitsstandards nicht einfach zur Tagesordnung übergehen.”
– Kanzlerin Angela Merkel in einer Pressekonferenz am 12.03.2011
2. “Es ist völlig verfehlt, aus dem Störfall in Fukushima Schlussfolgerungen über die Sicherheit deutscher Atomanlagen ziehen zu wollen, da weder ein Erdbeben von so extremer Stärke noch ein Tsunami hierzulande jemals eintreten könnten.”
Auch dieses Argument geht – obwohl im Prinzip sachlich richtig – am eigentlichen Problem vorbei. Sicher ist es unumstritten, dass an den AKW-Standorten in Deutschland weder ein Beben der Stärke 9 noch ein Tsunami zu erwarten sind. Viel wichtiger als die Frage, ob ein identisches Ereignis auch hierzulande auftreten könnte, ist jedoch die Frage, mit welchen Ereignissen schlimmstenfalls zu rechnen wäre – und wie gut die deutschen Atomkraftwerke darauf vorbereitet sind. So wurde bei der Planung des Atomkraftwerks Biblis B meines Wissens nach etwa von einer maximalen Erdbebenstärke von VII auf der Medwedew-Sponheuer-Kárník-Skala ausgegangen, was etwa einer Stärke von 5 auf der Richter-Skala entspricht. Fukushima war nach Medieninformationen auf ein Erdbeben der Maximalstärke von 8,3 ausgelegt – rückblickend betrachtet offenbar eine Fehlkalkulation.
Die entscheidende Frage ist vor diesem Hintergrund also nicht, ob ein Erdbeben der Stärke 9,0 auch hierzulande eintreten könnte; sondern vielmehr, wie groß die Wahrscheinlichkeit dafür ist, dass es in der Gegend um Biblis zu einem Erdbeben mit einer Stärke oberhalb von 5,0 kommt – ganz abgesehen davon, dass jetzt natürlich auch die Vorausplanung für andere Zwischenfälle – wie etwa Flugzeugabstürze, Hochwasserereignisse oder Terroranschläge – erneut auf den Prüfstand gehört – und dass das schon vor der Havarie überholte Argument, zu ernsten Störfälle könne es überhaupt nur in alten “Schrottreaktoren” sowjetischer Bauart kommen, im politischen Diskurs endgültig ausgedient hat…
Bis zur unausweichlich zu führenden innenpolitischen Debatte gilt es aber nun erst einmal, für Japan auf das Beste zu hoffen. Wer sich unideologisch und unaufgeregt über den Vorfall informieren möchte, findet im Physikblog einige gut verständliche Erläuterungen – viele weitere wirklich informative Links gibt es darüber hinaus – wenn man das AKW-Gegner-Bashing innerlich irgendwie ausblenden kann – bei Jörg von Diaxs’ Rake.
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