Im Januar hatte ich im Rahmen der Rezension zu “The Plot Against America” vollmundig angekündigt, dieses Jahr mehr Buchrezensionen verfassen zu wollen – ein Vorhaben, das leider (wieder mal) an Zeitnot gescheitert ist. Heute hole ich aber mit “Sturz der Titanen” zumindest die Rezension des Romans nach, der mich in diesem Jahr bislang mit weitem Abstand am meisten begeistert hat.
Der britische Autor Ken Follett ist hierzulande vor allem durch seine beiden im Mittelalter angesiedelten Historienromane “Die Säulen der Erde” und “Die Tore der Welt” bekannt, wobei insbesondere das erste der beiden Werke im vergangenen Jahr aufgrund einer eher mäßig guten aber vielbeworbenen TV-Verfilmung erneute Beachtung erfuhr. Ebenfalls im vergangenen Jahr erschien auch Folletts jüngstes Historienwerk „Sturz der Titanen”, das 1911 im fiktionalen walisischen Bergarbeiterstädtchen Aberowen beginnt und 1923 im britischen Unterhaus endet. Dazwischen entführt es den Leser auf über 1.000 Seiten auf eine enorm detailreiche Reise durch zwölf dramatische Jahre europäischer Geschichte, in denen nicht nur das Ende alter Herrschaftsstrukturen wie etwa des deutschen oder des österreichisch-ungarischen Kaisertums besiegelt, sondern auch zwei künftige Weltmächte – Russland und die Vereinigten Staaten – geboren sowie der Grundstein für den Aufstieg des europäischen Faschismus gelegt wurde.
Folletts Erzähltechnik erinnert dabei ein wenig an Wolfgang Koeppens Nachkriegswerk “Tauben im Gras”, in dem eine ganze Reihe von zunächst völlig unabhängig agierenden Protagonisten vorgestellt wird, deren Lebenswege sich dann im Verlauf des Romans immer wieder auf mehr oder weniger zufällige Art und Weise überschneiden – vergleichbar mit den zufälligen Mustern, die Taubenschwärme auf einer Wiese bilden (daher auch der Titel des Romans). Ähnlich ergeht es Folletts Hauptfiguren, denn auf den ersten Blick haben etwa der britische Earl Edward Fitzherbert und seine suffragettische Schwester Maud, der deutsche Diplomat Walther von Ulrich, der amerikanische Student Gus Dewar, die russischen Brüder Grigori und Lew Peschkow oder die walisischen Bergarbeiterkinder Billy und Ethel Williams wenig bis nichts miteinander zu tun. Im Laufe der Romanhandlung werden ihre Lebenswege jedoch vor dem Hintergrund des Ersten Weltkriegs und anderer historischer Entwicklungen untrennbar und auf tragische Art und Weise miteinander verbunden.
(Quelle: Museum Neu-Augustusburg in Weißenfels)
Dabei folgt Follett mal diesem und mal jenem Charakter, wobei sich die Haupthandlung des Buchs in den Jahren zwischen 1914 und 1918 abspielt, und – wie Follett im Nachwort selbst schreibt – den historischen Ereignissen so exakt wie möglich folgt. Und so ist man mit dem Amerikaner Gus Dewar dabei, als im Weißen Haus über die möglichen Konsequenzen der Versenkung der Lusitania diskutiert wird, erlebt mit Billy Williams die Schrecken der ersten Schlacht an der Marne, verfolgt mit dem entsetzen Walther von Ulrich die Verfassung der Zimmermann-Depesche und erlebt mit Grigori Peschkow, wie die russische Soldateska in Petrograd auf demonstrierende Zivilisten feuert, um der Revolution gegen das zaristische Regime ein Ende zu bereiten. Dabei begegnet man einer Menge historischer Figuren, wie etwa dem US-Marineminister Joseph Daniels, dem deutschen Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg, dem noch jungen britischen Abgeordneten Winston Churchill und dem Revolutionär Wladimir Lenin, wobei Follett auch hier auf höchste Authentizität achtet und historisch verbürgte Gespräche teils wortgetreu wiedergibt.
Follett gelingt es im Rahmen des Romans nicht nur, ein äußerst detailreiches Bild von Ursachen und Verlauf des Ersten Weltkriegs zu zeichnen – bereits eine Leistung für sich – sondern dem Leser darüber hinaus auch noch viele andere wesentliche Entwicklungen des ersten Viertels des letzten Jahrhunderts wie etwa den Aufstieg des Suffragettentums oder die Oktoberrevolution näher zu bringen – besondes bemerkenswert fand ich insbesondere seine lebendige Darstellung des Alltagslebens walisischer Bergarbeiter, die sich durch die wiederholte Rückkehr zum Schicksal der Familie Williams wie ein roter Faden durch das ganze Werk zieht. Diese Detailgenauigkeit und historische Authentizität macht den „Sturz der Titanen” in meinen Augen zu einem absolut herausragenden historischen Roman, der seinem Leser „en passant” eine Fülle historischen Wissens vermittelt.
Die besondere Tragik des Romans liegt dabei weniger in den Schilderungen von Tod und Zerstörung auf den europäischen und russischen Schlachtfeldern, sondern vielmehr in der erschütternden Hilflosigkeit der Hauptcharaktere, von denen keiner über ausreichenden Einfluss verfügt, um den Gang der Geschichte auch nur im Ansatz zu beeinflussen, und die daher macht- und hilflos immer schneller aufeinander zugetrieben werden – und sich am Ende trotz vieler Gemeinsamkeiten unweigerlich als Feinde gegenüberstehen müssen – ein Motiv, das mich während des Lesens immer wieder an das berühmte Gedicht Thomas Hardys zum US-amerikanischen Bürgerkrieg denken ließ:
by some old ancient inn,
we should have sat us down to wet
right many a nipperkin!
But ranged as infantry,
and staring face to face,
I shot at him as he at me,
and killed him in his place.
Yes, quaint and curious war is!
You shoot a fellow down
You’d treat, if met where any bar is,
or help to half-a-crown.
Wer sich mit dem Ersten Weltkrieg als der eigentlichen Ur-Katastrophe des vergangenen Jahrhunderts auseinandersetzen möchte, dem sei Folletts großartiges Historienwerk wärmstens empfohlen. Wer sich darüber hinaus mit diesem entscheidenden Ereignis der jüngeren Geschichte befassen will, der sei abschließend auch noch auf das hochspannende Digitalisierungs-Projekt der Europeana “Hundert Jahre Erster Weltkrieg” verwiesen, über das ich vor einigen Tagen schon mal berichtet hatte.
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