Ich habe meist nicht den zeitlichen Luxus, all das lesen zu können, was ich gerne lesen würde, dennoch nehme ich mir jede Woche die Zeit, wenigstens die interessantesten Blogposts auf ScienceBlogs und Scilogs zu lesen. Immer wieder geht es dabei auch um organisierte Religion, die von vielen Bloggern als negatives gesellschaftliches Phänomen wahrgenommen wird. Dazu ein paar Anmerkungen, die mir gerade auf dem Herzen liegen.
Aktuell werden auf den ScienceBlogs ja die konfusen Ergüsse des „Bundes katholischer Ärzte” zu Homosexualität und Homöopathie heiß diskutiert – einer Organisation, die – zumindest soweit ich dies nachvollziehen konnte – über genau ein aktives Mitglied und vielleicht zwei Dutzend passive Mitglieder verfügt und mit der katholischen Kirche – dem Namen zum Trotz – absolut nichts zu tun hat. Davor hatten wir unter anderem den irren Holocaust-Leugner aus der Pius-Brüderschaft, den Armageddon-Prediger Harold Camping, die Typen, die Jörg Haider heiligsprechen lassen wollen, die Kreationismus-Pusher – und so weiter und so fort… Nein, an Möglichkeiten, sich über die Auswüchse organisierter Religion zu erregen, besteht auf unserer Blogplattform nun wirklich kein Mangel. Das Zerrbild eines homophoben, frauenfeindlichen, intoleranten, undemokratischen, wissenschaftsfeindlichen und primär auf Fragen der Sexualmoral fixierten Machtapparats, das für den nichtkirchlichen Leser dabei unweigerlich entsteht, hat jedoch ein Manko: Es stimmt mit der Realität in den Kirchgemeinden unseres Landes in keiner Weise überein. Ein Eindruck, den ich heute – aus rein subjektiver Perspektive – zumindest ein wenig gerade rücken möchte.
Soweit ich unsere Blog-Community richtig überblicke, dürfte ich derzeit wohl der einzige ScienceBlogger sein, der in irgendeiner Weise kirchlich aktiv ist. Seit meiner Konfirmation sind inzwischen ein wenig mehr als 15 Jahre vergangen, in denen ich abwechselnd Mitglied in den Evangelischen Landeskirchen von Hessen, Niedersachsen sowie Sachsen-Anhalt gewesen bin und zahlreichen Gottesdiensten und anderen kirchlichen Veranstaltungen beigewohnt habe. Ich habe mir Predigten und Vorträge zu Hochzeiten, Kirchenfesten, Trauerfeiern, Konfirmationen, Seminaren, Fürbitten und Taufen angehört, gehalten von Alten wie Jungen, von Männern wie Frauen, von Bischöfen, Pfarrern, Priestern, Diakonen, Theologen und Laien in evangelischen, katholischen und freikirchlichen Gemeinden. Und in 15 Jahren habe ich dabei nicht einmal – nicht ein einziges Mal – erlebt, dass in irgendeiner Form auch nur im Ansatz negativ über Frauen, Homosexuelle, Andersgläubige oder auch Nichtgläubige gesprochen worden wäre…
Ganz im Gegenteil: In meiner Tauf-, Konfirmations- und Hochzeitskirche im wunderschön erhaltenen Zisterzienser-Kloster Walkenried (das übrigens auch ein sehenswertes Museum beherbergt) können bereits seit Jahren gleichgeschlechtliche Ehen in den Gottesdiensten gesegnet werden – und die in den allermeisten evangelischen Gemeinden auch von Männern hochverehrte Ex-Bischöfin Margot Käßmann ist wohl der lebende Beweis dafür, dass Frauen in der EKD nicht nur das höchste Würdenamt besetzen, sondern geradezu im Sturm erobern können. Nicht ein einziges Mal habe ich dagegen in 15 Jahren aktiver Kirchenmitgliedschaft erlebt, dass Frauen diskriminiert, Homosexuelle verhetzt oder aber gegen Atheisten und Andersgläubige gewettert wurde.
Meine persönliche Gemeindeerfahrung ist eine gänzlich andere: Als Student war ich etwa viele Jahre lang Mitglied der Christlichen Studentengemeinde meiner Alma Mater, in der man stets darum bemüht ist, mindestens einmal im Monat einen für alle Studierenden interessanten Diskussions- oder Vortragsabend auf die Beine zu stellen. Etliche dieser Veranstaltungen sind mir auch nach Jahren noch gut im Gedächtnis, so etwa der Besuch einer Krankenhausseelsorgerin, die einen Abend lang über ihre Erfahrungen und Erlebnisse bei der Begleitung von Sterbenden berichtete. Oder der Vortrag eines jungen Arztes, der im Auftrag der Christoffel-Blindenmission in verschiedenen Ländern der Dritten Welt gegen den Grauen Star kämpft, durch den noch immer viele Kinder erblinden – eine Arbeit, für die wir auch mehrfach Spenden sammeln konnten. Oder der Diavortrag des jungen Priesters, der mit uns seine Erlebnissen auf dem Jakobsweg teilte. Oder die stundenlangen Debatten über die historische Authentizität der (übrigens absolut sehenswerten) deutsch-amerikanischen-Verfilmung der Biographie Martin Luthers aus dem Jahr 2003. Oder, oder, oder…
Vermutlich sind es diese Erfahrungen, die mich immer wieder zum Widerspruch reizen, wenn organisierte Religion als solche auf den ScienceBlogs wieder einmal wegen verwirrter Ärzte, obskurer Brüderschaften oder fragwürdiger Mixa-Zitate am Pranger steht, die mit dem, was sich in evangelischen wie katholischen Gemeinden tatsächlich abspielt, absolut gar nichts zu tun haben. Man vergisst über all diese Aufreger oft allzu leicht, dass die Kirchen vor allem aus Menschen bestehen, die sich um die ihnen übertragenen Aufgaben bemühen – wie etwa im Fall der katholischen Gemeinde Wernigerodes den Betrieb des einzigen Kinderspielplatzes im ganzen Stadtviertel oder im Fall der Christlichen Studentengemeinde die Beschaffung kirchlicher Stipendiengelder für Studenten aus weniger begüterten Familien. Genau solche Tätigkeiten machen in vielen Gemeinden im Grunde den Kern des Gemeindelebens aus – nach Homophobie, Intoleranz, Misogynie, Wissenschaftsfeindlichkeit, Kreationismus oder anderen vermeintlichen „kirchlichen Kernthemen” wird man dagegen vergeblich suchen.
Wer sich selbst ein Bild fernab hitziger Online-Debatten machen möchte, sollte vielleicht einfach mal eine Kirche oder ein Kloster besuchen und versuchen, mit den Menschen dort ins Gespräch zu kommen – idealerweise ohne gleich mit der Sexualmoral oder anderen Themen ins Haus zu fallen, die erfahrungsgemäß in der Alltagsrealität in den Gemeinden gar nicht vorkommen. Wem das zu viel Kontakt ist, der kann sich ja einmal ganz anonym auf der derzeit wohl größten deutschsprachigen Kirchen-Plattform im Internet – evangelisch.de – umsehen – und wird feststellen, dass es da nicht nur eine tagesaktuelle (derzeit allerdings sehr EHEC-lastige) Wissenschafts-Sektion gibt, die inhaltlich oft deutlich besser bestückt ist, als die entsprechenden Kategorien bei SPIEGEL oder FOCUS Online, sondern dass sich auch zu jeder aktuellen Debatte (wie etwa der um die PID) sowohl Pro- als auch Contra-Positionen finden. Und auch der Umgangston, der dort etwa gegenüber den atheistischen Kommentatoren herrscht ist ein anderer, als er auf unserer Plattform im umgedrehten Falle gepflegt wird.* Alternativ kann man natürlich auch ein wenig bei bloggenden PfarrerInnen wie Alexander Ebel, Christiane Müller und Heiko Kuschel mitlesen und -kommentieren – und wird auch dort weder Misogynie noch Homophobie noch Atheistenhass entdecken…
Will sagen: Natürlich ist es nicht falsch, sich über den Bund Katholischer Ärzte, die Pius-Brüder oder sonstige Verrücktheiten zu ärgern – solange einem dabei stets bewusst ist, dass dies mit dem, was sich in den Kirchgemeinden verschiedenster Konfession in unserem Land tagtäglich abspielt, absolut gar nichts zu tun hat. Wer sich dagegen nur aufgrund der hier häufig geführten Diskussionen eine Vorstellung von organisierter Religion bildet, landet unweigerlich bei einem weit von der Realität entrückten Zerrbild. Und das muss – bei allem Respekt vor den Ansichten meiner Mit-Blogger – eben auch mal ausgesprochen werden…
* Und bevor mir jetzt jemand mit kreuz.net kommt: Sich auf der Basis von kreuz.net ein Urteil über organisierte Religion zu bilden ist in etwa so sinnvoll, wie sich auf der Basis von pi-news.net ein Bild vom Stand der deutschen Integrationsdiskussion zu machen…
** Falls es jemand interessieren sollte: die Fotos zeigen (a) den Dom zu Ribe, (b) der Blick auf den Glockenturm der und (c) weiße Rosen im Klostergarten der Sct. Catharinæ Kirke in Dänemark. Beide Kirchen sind schon aus kunsthistorischen Gründen einen Besuch wert.
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