Ich bin nicht nur ein großer Freund der Wikipedia, sondern beteilige mich dann und wann gerne auch am Ausbau von Artikeln. Gelegentlich verzichte ich jedoch auch darauf, weil ich ein ganz spezifisches Problem befürchte, zu dem mich eure Meinung interessieren würde.
Die Wikipedia – darüber sind wir uns wohl alle einig – ist sicher nicht immer perfekt und natürlich keine adäquate Primärquelle für wissenschaftliche Publikationen. Dennoch ist sie ein großartiges Einstiegsportal für Recherchen aller Art, auf das auch ich immer wieder gerne zurückgreife. Über einen Wikipedia-Artikel kann man sich leicht einen guten – und meist auch richtigen – Überblick über jedes Thema verschaffen, darüber hinaus finden sich in den Quellen und weiterführenden Links in aller Regel wertvolle Hinweise auf nutzbare Primärquellen. Und wenn ein Service so nützlich ist, gebe ich natürlich gerne etwas zurück, weshalb ich seit einigen Jahren einen Wikipedia-Account habe und mich dann und wann auch an Artikeln beteilige. Allerdings längst nicht an allen, an denen ich mich beteiligen könnte – und insbesondere nicht an denen, zu denen ich wirklich etwas beizutragen hätte.
Den Grund dafür werde ich am besten an einem Beispiel erläutern: Vor einigen Wochen habe ich für unser ZIM-NEMO-Netzwerkprojekt TECLA (TEChnische PfLegeAssistenzssysteme), in dessen Rahmen wir uns unter anderem mit der Evaluation von Telemonitoring-Systemen und anderen Technologien befassen, mit denen die Arbeit überlasteter ländlicher Pflegedienste künftig unterstützt werden könnte, eine ziemlich umfangreiche Literaturstudie zum Einsatz sogenannter digitaler Stifte im medizinischen Bereich erstellt. Einen solchen digitalen Stift wollen wir in den kommenden Jahren unter anderem mit einer Kamera mit Abstands- und Winkelmesser sowie Beleuchtungssensorik ausstatten, mit deren Hilfe sich eine qualitativ hochwertige und vergleichsfähige Fotodokumentation chronischer Wunden anfertigen lässt.
Für die Literaturstudie habe ich primär in PubMed und GoogleScholar recherchiert, habe aber natürlich auch mal einen Blick in den Wikipedia-Artikel zum Thema digitaler Stift geworfen. Und der ist wirklich ziemlich dünn und deutlich ausbaufähig – immerhin gibt es bereits Dutzende publizierter Paper und Studien, die sich mit dem technischen Potential solcher Stifte (in dem Fall in der medizinischen Dokumentation) befassen, so etwa
Helm, M.; Hauke, J.; Schlechtriemen, T. & Lampi, L.: Zurück in die Zukunft – die papiergestützte digitale Notarzt-Einsatzdokumentation mit Pen. Ein Beitrag zum Qualitätsmanagement im Luftrettungsdienst; in: Der Anästhesist, 46 (7), S. 503 – 509.
oder
Estellat, Candice; Tubach, Florance; Costa, Yolande; Hoffmann, Isabelle; Mantz, Jean & Ravaud, Philippe: Data capture by digital pen in clinical trials: an qualitative and quantitative study; in: Contemporary Clinical Trials 2008; 29 (3), S. 314 – 323.
Mein Problem: Ergänze ich den Wikipedia-Artikel um die entsprechenden Literaturverweise und zusammenfassende Informationen – was ich prinzipiell gerne tun würde – besteht meines Erachtens nach das nicht gerade geringe Risiko, dass jeder unserer Projektpartner, jeder interessierte Kollege und vor allem jeder Sachbearbeiter beim Mittelgeber, der sich die Studie durchsieht und dem Thema selbst ein wenig hinterhergooglet, unweigerlich bei dem Wikipedia-Artikel landet, die Übereinstimmung der Literaturangaben sowie grundsätzlicher Inhalte bemerkt und messerscharf folgert, dass sich der Reinboth mit der „Studie” augenscheinlich nicht mehr Arbeit gemacht hat, als mal schnell sämtliche Wikipedia-Quellverweise und -Links abzuklappern und daraus eine Zusammenfassung zu schreiben.
Klar, der Umkehrschluss („Ist ja toll, dass der sich die Zusatzarbeit gemacht hat, auch noch den Wikipedia-Artikel upzudaten”) liegt ja auch nicht gerade nahe – auf die Idee würde ich vermutlich auch nicht kommen, würde mir einer meiner Studenten eine Arbeit abliefern, die größere inhaltliche Parallelen mit entsprechenden Wikipedia-Artikeln aufweist – und einen Blick in die Alias-Liste der Artikelhistorie wirft nun wirklich nicht jeder…
Ein Kollege, mit dem ich mich mal über dieses Problem unterhalten habe, schlug mir doch tatsächlich vor, einfach einen Link zum jeweiligen Projekt im Artikel unterzubringen bzw. das Quellverzeichnis des Wikipedia-Artikels auch um Veröffentlichungen des Teams zu ergänzen. Ganz offenbar kein aktiver Wikipedianer, denn natürlich wird – aus sehr guten und nachvollziehbaren Gründen – jeder Versuch, Links zu eigenen Projekten, Webseiten, Artikel und Veröffentlichungen in der Wikipedia unterzubringen von Teilen der Community als Selbstdarstellung oder sogar als Form von Spam betrachtet und entsprechend abgestraft – bestenfalls durch einen mahnenden Kommentar auf der Benutzerseite, schlechtestenfalls durch die Löschung der jeweiligen Angaben.
Wie also lässt sich dieses Dilemma lösen? Wie kann man Artikel zu Spezialthemen in der Wikipedia sinnvoll ergänzen ohne das Risiko einzugehen, dass die eigenen Arbeiten sich am Ende inhaltlich so sehr mit dem bearbeiteten Wiki-Artikel überschneiden, dass es für jeden Dritten so aussieht, als nutze man die Wikipedia als Hauptquelle für Literaturverweise oder gar für Inhalte? Gibt es begeisterte Wikipedianer oder Wikipedia-erfahrene Wissenschaftler, die sich mit dieser Problematik schon einmal gedanklich auseinandergesetzt haben?
Ich bin an jeder Meinung interessiert…
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