Religionswissenschaftler, die sich mit dem Islam befassen müssen zukünftig ebenso auf ihre Worte achten, wie etwa Politologen, die sich zur israelischen Sicherheitspolitik äußern oder Soziologen, die migrantische Millieus erforschen. Äußern sie sich nämlich falsch, landen sie auf der “Anklageliste” eines neugegründeten Internetportals.
Während vielen Europäern eine Woche nach dem Attentat von Utøya noch immer die Bilder der am Ufer aufgereihten Leichen vor Augen haben, nutzt das Internetportal “Nürnberg 2.0” die Gunst der Stunde und listet schon mal all diejenigen Politiker, Wissenschaftler, Juristen, Journalisten, Autoren und Kirchenvertreter auf, die die “Schuld” an “der systematischen und rechtswidrigen Islamisierung Deutschlands” tragen und die dafür “zu einem geeigneten Zeitpunkt öffentlich nach dem Muster des Nürnberger Kriegsverbrecher-Tribunals von 1945” zur Verantwortung gezogen werden sollen. Die anonymen (was auch sonst…) Betreiber des Portals berufen sich dabei kurioserweise nicht nur auf die Nürnberger Prozesse, sondern auch auf den friedlichen Widerstand gegen das SED-Regime – erstaunlich insofern, als dass ein anonymes Denunziantenportal für imaginäre Gedankenverbrechen der Staatssicherheit sicher gut gefallen hätte, hätte sie historisch das Zeitalter des Web 2.0 erreicht.
Erstaunlich auch die niedrige Hürde, die übersprungen werden muss, um namentlich und mit Fotografie (die Adressen werden sicher noch nachgereicht) in die “Online-Verbrecherkartei” aufgenommen zu werden. So findet sich etwa ein “Steckbrief” für Prof. Dr. Klaus Jürgen Bade von der Uni Osnabrück, der es gewagt hatte in einem Interview mit dem SPIEGEL zu schlussfolgern, beobachtete Leistungsunterschiede zwischen Arbeitnehmern mit und ohne Migrationshintergrund hätten “wesentlich mit sozialen Milieus, mit Bildung bzw. Ausbildung und gar nichts mit der Glaubenszugehörigkeit zu tun.” In den Augen der Portalbetreiber reicht eine solche These offenbar schon aus, um auf der Anklagebank im “Nürnberg-Nachfolgeprozess” zu landen und damit auf eine geistige Ebene mit Massenmördern, Kriegsverbrechern und Rassisten wie Göring oder Kaltenbrunner gestellt zu werden.
Ebenfalls auf der “Verbrecherliste” zu finden: Der Scilogs-Wissenschaftsblogger und Religionswissenschaftler Dr. Michael Blume, die Islamwissenschaftlerin Prof. Dr. Gudrun Krämer von der FU Berlin, der Politikwissenschaftler Dr. Marwan Abou-Taam von der Uni Göttingen, der Soziologe Dr. Heinz Bude, der im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Soziologie sitzt, der Pädagogik-Professor Wilhelm Heitmeyer von der Uni Bielefeld oder auch Prof. Dr. Christian Troll von der Hochschule Sankt Georgen. Neben Wissenschaftlern werden auch Politiker, Journalisten und Juristen benannt, so etwa der CDU-Bundestagsabgeordnete Ruprecht Polenz, sowie sein SPD-Kollege Sigmar Gabriel oder die Journalisten Sebastian Jacobs von der Rheinischen Post oder Daniel Bax von der TAZ.
Die Reaktion der wissenschaftlichen sowie der Netzgemeinde auf eine derartige Liste kann meines Erachtens nach nur die uneingeschränkte Solidarität mit den Benannten sein – auch und gerade dann, wenn man ihre Ansichten nicht unbedingt teilt (wie es sich in meinem Fall etwa mit Daniel Bax oder auch Sigmar Gabriel verhält). Die Deklaration von Menschen zu gedanklichen und ideologischen Verbrechern sowie deren anonyme öffentliche Auflistung zum selbsterklärten Zweck der weiteren Verfolgung ist einer demokratischen Gesellschaft zutiefst unwürdig und entspricht alles andere als dem Geist der friedlichen Revolution des Jahres ´89, auf welchen sich die Betreiber völlig zu Unrecht berufen.
Deutlich zu widersprechen ist auch dem Angriff auf die demokratisch verbriefte Freiheit von Wissenschaft und Lehre, die in der anonymen Verhetzung von Wissenschaftlern liegt, deren Schlussfolgerungen einem aus rein ideologischen Gründen nicht gefallen. Die vermeintlichen “Akademiker” hinter “Nürnberg 2.0” (“Wir sind Ärzte, Juristen, Lehrer…” – zumindest laut Selbstdarstellung) müssten ja eigentlich wissen, dass es in der Wissenschaft andere Wege gibt, die Thesen Dritter zu widerlegen – nämlich mit Fakten und nicht etwa durch anonymes Denunziantentum und “Verbrecherlisten” die – zumindest diese Erkenntnis sollten wir aus den tragischen Ereignissen in Norwegen gewonnen haben – in den Händen aufgehetzter Spinner leicht auch zu Todeslisten werden können…
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