Die Unterbringung zweier vorzeitig entlassener Sexualstraftäter im kleinen Dörfchen “Insel” schlägt hier in Sachsen-Anhalt schon seit Monaten große Wellen in den Lokalmedien sowie in der Landespolitik. Da die Situation gerade am vergangenen Wochenende auf – inzwischen nicht mehr erträgliche – Art und Weise eskaliert ist, gestatte ich mir heute mal ein paar offene Fragen an die werte ScienceBlogs-Community und -Leserschaft.
Zunächst ein paar Worte zur Vorgeschichte: Von der Sicherungsverwahrung – im deutschen Strafrecht geregelt im §66 – haben sicherlich die meisten Leser schon einmal etwas gehört. Sie ermöglicht es einem Gericht festzulegen, dass Straftäter, die sich schwerer Vergehen schuldig gemacht haben, auch nach erfolgter Verbüßung ihrer eigentlichen Haftstrafe in einer geschlossenen Anstalt verbleiben müssen. Möglich ist die Anordnung einer solchen Sicherheitsverwahrung immer dann, wenn die besondere Gefährlichkeit der Inhaftierten als gutachterlich erwiesen gilt und man somit im Falle einer Freilassung von einer erheblichen Gefährdung für die Allgemeinheit ausgehen müsste.
Im Jahr 2009 entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, dass die nach §66b StGb bislang mögliche, nachträgliche Verhängung einer solchen Sicherungsverwahrung gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstößt, wenn dem Inhaftierten keine neuen Straftaten zur Last gelegt werden können. Dies führte dazu, dass viele zu nachträglicher Sicherungsverwahrung verurteilte Straftäter zwischen 2010 und 2011 freigelassen werden mussten, obwohl eine Gefährdung der Allgemeinheit zumindest in einigen Fällen noch sehr wahrscheinlich schien. An den medialen Aufschrei wird sich mancher sicher noch erinnern.
Weil zwei der von diesem Urteil betroffenen Straftäter – Hans-Peter W. und Günther G. – in der Sicherungsverwahrung Wellensittiche züchteten und auf diesem Wege einen religiösen und gutwilligen Tierarzt mit Grundbesitz in Sachsen-Anhalt kennenlernten, erhielten sie nach ihrer Freilassung das Angebot, in ein leerstehendes Haus in einem kleinen 400-Seelen-Ort in der Altmark zu ziehen: Insel. Der Einzug der beiden Straftäter – beides Serienvergewaltiger, die auch vor Minderjährigen nicht Halt machten und die nach dem Willen des Gerichts die Haft nie mehr hätten verlassen sollen – schlug in dem kleinen Ort verständlicherweise hohe Wellen – insbesondere nachdem einer der beiden Freigelassenen in einem Interview mit SPIEGEL TV zu Protokoll gab, dass er, sollte er je wieder eingesperrt werden sollen vorher “noch ein paar mitnehmen würde”. Auf die künftigen Nachbarn wirkte das wenig beruhigend.
“Man muss ihnen eine Chance geben, sonst können wir die Resozialisierung in der Republik beenden.” – Innenminister Holger Stahlknecht (Quelle)
In Insel formiert sich eine Bürgerbewegung gegen den Verbleib der beiden Männer im Ort – insbesondere gegen Günther G., der in den 90er Jahren unter anderem eine 15jährige vier Mal mit vorgehaltenem Messer vergewaltigt hat und dem mehrere Gutachter eine mehr als 50%ige Rückfallwahrscheinlichkeit attestierten. Der Bürgermeister des kleinen Ortes – Otto von Bismarck (CDU) – setzt sich an die Spitze dieser Bürgerbewegung, die vor dem Haus der beiden Freigelassenen Demonstrationen organisiert und an die Landesregierung appelliert, sich für einen Wegzug der beiden Männer einzusetzen. Diese reagiert zunächst hilflos, da es rechtlich gesehen natürlich keine Möglichkeit gibt, einmal entlassenen Straftätern einen bestimmten Wohnort vorzuschreiben. Außerdem: Wohin könnte man die beiden umsiedeln, ohne neue Probleme zu generieren? Ende 2011 verabschiedet der Landtag schließlich ein Papier mit der Feststellung, dass sich der “grundrechtlich geschützte Freiheitsanspruch der Betroffenen […] aufgrund der aktuell zugespitzten Situation derzeit nur schwer realisieren [lässt].” Der Landtag sieht sich damit außerstande, Grundrechte zu realisieren, weil die Wut der eigenen Bürger dies nicht zulässt. Ein Satz, den man erst einmal eine Weile auf sich wirken lassen muss, um zu verstehen, welch starker Tobak eigentlich dahintersteckt.
Das Innenministerium handelt mit den Männern einen Deal aus – sie sollen den Ort verlassen, der neue Wohnort soll möglichst geheim gehalten werden. Nachdem man das Ergebnis schon an die Öffentlichkeit getragen hat, platzt der Deal. Die Bürger fühlen sich im Stich gelassen, ärgerliche Bürgerversammlungen, weitere Demonstrationen und ergebnislose Verhandlungen folgen. Auch die NPD – die schon seit Jahren mit populistischen Kampagnen wie “Todesstrafe für Kinderschänder” für die eigenen Ziele Stimmung macht – entdeckt das Thema für sich, mehrfach schließen sich die Neonazis ganz offen den Demonstrationen an. Ortsbürgermeister von Bismarck tut nichts dagegen, ja ermutigt die NPDler geradezu zur Teilnahme (was – hoffentlich – irgendwann nochmal Gegenstand eines parteiinternen Verfahrens wird). Die laufen dann auch mit Spruchbändern wie “Problemlösung statt Problemverlagerung auf”, es kommt zu Auseinandersetzungen mit der Polizei.
“Jeder Versuch, sie auszuschließen oder sogar aus unserer Mitte zu vertreiben, ist nicht hinnehmbar. Die Forderung, den Wohnort zu verlassen, und alle Schritte, die darauf hinzielen, sind weder mit der Menschenwürde noch mit den übrigen Grundlagen des freiheitlichen Rechtsstaates zu vereinbaren.” – Ministerpräsident Reiner Haseloff (Quelle)
Vor einigen Wochen kam dann die von vielen erhoffte Meldung: Endlich gibt es einen verbindlichen Deal. Zumindest einer der beiden Straftäter wird Insel zeitnah verlassen, an einen unbekannten Ort umziehen. Obwohl nur eine Handvoll Personen den neuen Wohnort – Chemnitz – kennt, sickert die Information irgendwie an die BILD durch, die die Meldung natürlich bringt. Ein Mob von 50 NPDlern versammelt sich vor dem neuen Wohnort, die Polizei schafft den Mann geradezu fluchtartig zum Bahnhof, die Fahrt geht wieder zurück nach Insel. Als sich dort herumspricht, dass der Mann nun doch wieder im Ort lebt, setzt bei einigen Anwohnern der gesunde Menschenverstand aus: Ganze fünf Versuche das Wohnhaus zu stürmen, muss die Polizei nach eigenen Angaben am vergangenen Freitag abwehren. Man möchte sich gar nicht ausmalen, was ohne die Polizeipräsenz passiert wäre – “aus dem Dorf geprügelt” wäre vermutlich noch der harmloseste Ausgang gewesen…
“Juristisch ist klar, dass auch Straftäter das Recht auf einen Neuanfang haben. Menschlich ist aber auch die Angst der Leute vor Ort verständlich. Da hilft nur Kommunikation, zu der es aber offensichtlich nicht gekommen ist. Das ist Dilemma und Desaster zugleich.” – Albrecht Steinhäuser, Beauftragter der Evangelischen Kirche beim Land Sachsen-Anhalt (Quelle)
Wie es in Insel weitergehen soll, weiß niemand. Oberflächlich betrachtet ist die Antwort natürlich klar: Der Rechtsstaat muss durchgesetzt werden. Selbstverständlich haben beide Männer das Recht, ihren Wohnort frei zu wählen. Selbstverständlich haben die Bürger nicht das Recht, unerwünschte Personen aus ihrem Wohnort zu vertreiben. Und selbstverständlich hat sich die Bürgerinitiative durch ihre offensichtliche Zusammenarbeit mit der NPD und die unverantwortliche Flirterei mit Gewaltaufrufen jegliche Legitimität abgegraben. Alles keine Frage. Dennoch muss ich bei dem Thema auch immer wieder an die Diskussionen denken, die wir auf den ScienceBlogs schon über “Schrödingers Vergewaltiger” hatten – in meinen Augen teilweise schon überzogene Debatten etwa über die Frage, ob Männer nachts die Straßenseite wechseln sollten, um Frauen nicht zu ängstigen. Hier haben wir mal eine schwierigere Frage: Wie soll sich eine Frau, wie soll sich eine Mutter fühlen, wenn man ihr einen Mehrfach-Vergewaltiger mit gutachterlich attestierter hoher Rückfallquote in die unmittelbare Nachbarschaft setzt? Als mir das erste Mal von Insel berichtet wurde, war ich geneigt, die Situation als eher ungefährlich abzutun: Die beiden Täter sind bekannt, jeder Anwohner weiß inzwischen genau, wie sie aussehen und die Hemmschwelle ist extrem hoch, da auch nur bei dem Versuch einer neuen Straftat sofort der halbe Ort vor der Tür stünde.
Aber wer weiß, vielleicht ist diese Einschätzung ja nur ein Ausdruck männlichen Privilegs. Bislang haben sich fast nur Männer öffentlich zu der Situation geäußert: Der Bürgermeister des Ortes, unser Innenminister, unser Ministerpräsident und viele Landtagsabgeordnete, die sich in den Medien oder auf Twitter und bei Facebook in der einen oder anderen Richtung Luft gemacht haben – alles Männer.
“In Insel steht der Rechtsstaat auf der Kippe.”
– Sebastian Striegel MdL (Quelle)
Ich habe gestern deshalb mal meine Frau gefragt, wie sie sich in einer solchen Lage verhalten würde. Die Antwort: Natürlich haben die Männer jedes Recht in dem Ort zu leben. Nur sie würde dort dann nicht mehr leben können. Vielleicht geht es ja einigen Männern aus Insel ähnlich. Man hat einen Job, ein Haus, Familie, Freunde – was tut man, wenn plötzlich die eigene Frau, die eigene Tochter den eigenen Wohnort nicht mehr länger erträgt? Die Frage nach der Gerechtigkeit, schreib einst der bekannte Jurist Hans Kelsen, ist “eine jener Fragen, für die die resignierte Weisheit gilt, daß der Mensch nie eine endgültige Antwort findet, sondern nur suchen kann, besser zu fragen.”
Und da ich keine Vorstellung davon habe, wie eine gerechte Lösung aussehen könnte, frage ich heute einfach in die Runde: Wie sollte, wie könnte es in Insel weitergehen? Was würdet ihr tun, wenn man euch eröffnet, dass zwei als gefährlich geltende Serienvergewaltiger in eure Nachbarschaft ziehen? Würdet ihr, könntet ihr euch auch für deren Rechte einsetzen? Oder würde es euch auch auf die Straße ziehen? Wäre es richtig, die Männer in Insel wohnen zu lassen und das Recht dort gegen die Anwohner zu verteidigen? Oder wäre es richtig, die Männer noch einmal “umzusiedeln” und ihre Identität – diesmal vielleicht erfolgreich – vor den neuen Nachbarn geheimzuhalten? Fändet ihr es richtig, wenn man euch informieren würde, wenn ein entlassener Sexualstraftäter oder Mörder in eure Nachbarschaft zieht? Würdet ihr es vielleicht von einer Gefahrenprognose abhängig machen, ob man die Anwohner über den Zuzug informiert? Würdet ihr als Landtagsabgeordneter oder als Landtagsabgeordnete in dieser Situation einspringen, und euren Wahlkreis als Alternativ-Wohnort anbieten, wohlwissend, dass euch das Stimmen kosten könnte? (Ich hatte das neulich auf Twitter vorgeschlagen, woraufhin sich ein Abgeordneter der Grünen immerhin ziemlich dicht an eine solche Aussage herangewagt hatte – Kudos.)
Was also tun? Was ist Recht, was ist Gerechtigkeit in so einem Fall? Vielleicht finden wir ja – wenn schon keine Antwort – in Anlehnung an Kelsen wenigstens ein paar gute Fragen…
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