Obwohl ich alles andere als ein Online-Rollenspieler bin, ist mir die Abkürzung MMORPGs für Massively Multiplayer Online Role-Playing Games seit Jahren geläufig. Das Akronym MOOC für Massive Open Online Course ist mir dagegen erst vor einigen Monaten in einem Artikel über Coursera – ein spannendes E-Learning-Projekt zweier US-amerikanischer Professoren – unter die Augen gekommen. Nachdem ich kürzlich einen der dort angebotenen Kurse von Anfang bis Ende durchexerziert habe, kann ich das Projekt nur wärmstens empfehlen.
Bei Coursera handelt es sich um eine Anfang 2012 von den beiden Professoren Andrew Ng (Stanford University, Forschungsfeld Künstliche Intelligenz) und Daphne Koller (ebenfalls Stanford University, Forschungsfeld Maschinelles Lernen) ins Leben gerufene E-Learning-Plattform. Auf dieser Plattform bieten Professoren der besten amerikanischen Ivy League-Universitäten – darunter der Stanford University, der University of Michigan, der Princeton University, der Johns Hopkins University und der University of Pennsylvania – kostenfreie Einsteigerkurse zu einer großen Vielzahl von Themen aus den Bereichen Medizin, Recht, Informatik, Mathematik, Musikwissenschaft sowie Wirtschafts- und Sozialwissenschaft an.
Einige Highlights gefällig?
- Introduction to Astronomy (Duke University)
- Writing in the Sciences (Stanford University)
- A History of the World since 1300 (Princeton)
- Securing Digital Democracy (University of Michigan)
- Think Again: How to Reason and Argue (Duke University)
- Greek and Roman Mythology (University of Pennsylvania)
- Vaccine Trials: Methods and Best Practices (Johns Hopkins University)
Diese und noch 201 weitere Online-Kurse lassen sich bei Coursera tatsächlich vollkommen kostenfrei belegen, wobei der Großteil der Inhalte über herunterladbare Video-Vorlesungen in hoher Bildqualität (mp4) sowie komplementäre Skripte vermittelt wird. Die Lernplattform bietet darüber hinaus ein sauber programmiertes Forum für den Austausch der Kursteilnehmer sowie die Möglichkeit der Einbindung von Multiple-Choice-Tests und anderer Prüfungsformen wie etwa der zeitlich begrenzten Eingabe kleinerer Essays. Alles in allem verfügt Coursera damit über eine technisch ausgereifte Umgebung, in der man im Rahmen einer Kursteilnahme problemlos über Monate hinweg arbeiten kann, ohne vom System die Nase voll zu haben.
Um mir einen eigenen Eindruck von den Möglichkeiten zu verschaffen, die Coursera für die wissenschaftliche Weiterbildung bietet, habe ich mich im vergangenen November versuchsweise in einem der vielen angebotenen Kurse eingeschrieben, wobei ich mich im Hinblick auf die Arbeit unseres Telepflege-Netzwerks TECLA (über das ich hier, hier, hier und hier schon berichtet hatte – und für das wir übrigens erst vor einigen Wochen vom Wissenschaftsministerium des Landes Sachsen-Anhalt ausgezeichnet wurden) für ein Gesundheitsthema entschieden habe.
Im Fokus des von Prof. William Brieger von der Johns Hopkins Bloomberg School of Public Health unterrichteten Kurses “Community Change in Public Health” stand vor allem die Frage, unter welchen Bedingungen Gesundheitsinnovationen von Gemeinschaften und Gesellschaften – etwa im Rahmen von Interventionen in Ländern der Dritten Welt – akzeptiert werden. Welche Rahmenbedingungen müssen beispielsweise erfüllt sein, damit die Bewohner einer ländlichen Siedlung in Uganda durch das Rote Kreuz kostenfrei verteilte Moskitonetze auch tatsächlich aufhängen? Wie lassen sich Versorgungsstrukturen schaffen und finanzieren, über die der regelmäßig erforderliche Austausch von Netzen unabhängig von NGOs durch Mitglieder der jeweiligen Gemeinschaft selbst erfolgen kann? Ist es möglicherweise sogar sinnvoller, auf die kostenfreie Verteilung von Netzen zu verzichten und statt dessen einen lokalen Händler beim Aufbau eines Moskitonetz-Vertriebs zu unterstützen – auch wenn dies bedeuten würde, dass zunächst weniger Netze für die Bevölkerung verfügbar wären?
Mit diesen und vielen anderen spannenden Fragen setzt sich Bill Brieger in seinen Vorträgen gekonnt auseinander und vermittelt dabei viel theoretisches Wissen aus der Medizinethik, der Politikwissenschaft, der Sozialwissenschaft und der Volkswirtschaftslehre. Und obwohl sowohl in den Vorlesungen als auch in den Prüfungen und Forendebatten vor allem Gesundheitsprobleme in Ländern der Dritten Welt im Fokus standen, habe ich aus dem Kurs – neben viel Wissen über eben diese Probleme – etliche Erkenntnisse mitnehmen können, die ich auch ganz praxisnah für meine Arbeit im TECLA-Netzwerk nutzen kann.
Hierzu gehört beispielsweise das in der untenstehenden Grafik abgebildete sogenannte Ecological Model, das eine Systematisierung der Hinderungsgründe für die gesellschaftliche Akzeptanz gesundheitlicher Innovationen ermöglicht, und das ohne Probleme auch auf die Frage anwendbar ist, warum der von uns im Rahmen der TECLA-Projektarbeit untersuchte AAL-Markt trotz erheblicher Förderanreize in den vergangenen Jahren hinter allen Wachstumserwartungen zurückgeblieben ist. Sind intrapersonelle Faktoren (Beurteilung des Kosten-Nutzen-Verhältnisses von AAL durch potentielle Nutzer) für die Kaufentscheidung von geringerer oder von größerer Bedeutung als interpersonelle Faktoren (Beurteilung des Kosten-Nutzen-Verhältnisses von AAL durch Angehörige)? Welche öffentlichen oder nichtöffentlichen Institutionen müssen den Einsatz von AAL-Techniken auf kommunaler Ebene unterstützen, damit eine kritische Masse von Nutzern erreicht werden kann? Wie beeinflussen Entscheidungen der Bundespolitik, der Ärzteverbände oder der Krankenkassen die Frage, ob eine konkrete AAL-Technologie in einem bestimmten Dorf von den potentiellen Nutzern angenommen oder abgelehnt wird? Und so weiter und so fort…
Wer sich einen groben Überblick über Struktur und Inhalte des gesamten Kurses verschaffen will (der übrigens schon im kommenden April wiederholt wird), kann gerne einen Blick in meine bei SlideShare hinterlegten Kursmitschriften werfen. Empfohlen sei an dieser Stelle zudem das Malaria-Blog von Prof. Brieger, dem man unter @bbbrieger auch auf Twitter folgen kann.
Alles in allem habe ich die Coursera-Kursteilnahme als eine äußerst wertvolle und angenehme Lernerfahrung empfunden: Die aufgezeichneten Vorlesungen enthielten zahlreiche hochgeradig praxisrelevante Beispiele aus der Feldarbeit der von Prof. Brieger begründeten NGO Jhpiego, die sich um eine Verbesserung der Malariaprävention in zahlreichen Ländern der dritten Welt bemüht. Die drei Multiple Choice-Tests zu den Video-Vorlesungen empfand ich als recht einfach, die Abschlussprüfung (die mit einem finalen Notenanteil von 70% letztendlich über Bestehen und Nichtbestehen entscheidet) dagegen als ziemlich anspruchsvoll (und dennoch fair). Anhand von zwei NGO-Projektstudien zur Verbesserung der Malariaprävention in einem Dorf in Nigeria durch Jhpiego sowie der Unterstützung von Frauen bei der Einforderung ihres Rechts auf sexuelle und finanzielle Selbstbestimmung in Khayelitsha durch das MKI waren die verschiedenen, im Rahmen des Kurses vorgestellten Interventionsmodelle zu erläutern und zu vergleichen, wobei schnell mehrseitige Ausführungen zusammenkamen Die Durchfallquote von knapp 30% unterstreicht, dass es bei Coursera – richtigerweise und im Gegensatz zu anderen E-Learning-Experimenten – mit einem einfachem “Durchklicken” und Aufschreiben von Stichpunkten sicher nicht getan ist.
Ich jedenfalls werde Coursera auf jeden Fall noch eine ganze Weile die Treue halten – derzeit belege ich etwa gerade den Kurs “Global History since 1760” der University of Virgina, der durch den nicht unbekannten Kennedy-Biographen (“The Kennedy Tapes”) und 9/11-Aufklärer (nicht im verschwörungstheoretischen Sinn) Philip Zelikow unterrichtet wird. Zelikow über drei Monate wöchentlich zwei Stunden zuhören zu dürfen, wie er sich von der französischen Revolution bis zum Ende des Kalten Krieges durch die Geschichte arbeitet ist – soviel kann ich nach gerade einmal drei Wochen schon mit Bestimmteheit sagen – eine äußerst faszinierende Erfahrung. Neben der “Global History” freue ich mich zudem auf den heute beginnenden Kurs zum Thema “The Social Context of Mental Health”, von dem ich mir weitere Einsichten für meine Arbeit im TECLA-Netzwerk erhoffe, in dem wir uns in diesem Jahr unter anderem dem äußerst sensiblen Thema der Würde von demenzkranken Patienten und ihrer Angehörigen annähern wollen.
Wer sich ebenfalls mal in Coursera umsehen möchte, kann sich mir gerne in einem der beiden Kurse anschließen (die Zahl der deutschen User scheint mir derzeit noch sehr gering zu sein) oder sich für einen der vielen anderen faszinierenden Lehrgänge entscheiden, die auf der Plattform angeboten warden.
Es lohnt sich. Definitiv.
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