Als meine Familie und ich gestern Abend in der Stadt unterwegs waren, wunderten wir uns kurzfristig über ein größeres Polizeiaufgebot – zumindest, bis wir die bunten Vereins-Schals einiger Grüppchen von Passanten bemerkten. Der schnelle Blick in die Online-Ausgaben der lokalen Zeitungen bestätigte mir, dass der Grund für den erhöhten Sicherheitsaufwand wieder einmal ein „Fußballfest“ gewesen ist – in diesem Fall eine Partie zwischen Einheit Wernigerode und dem Halleschen FC, über die es in der Mitteldeutschen Zeitung heißt:
„Noch zwölf Minuten waren im Landespokalspiel zwischen Einheit Wernigerode und dem Halleschen FC gestern zu spielen, als Schiedsrichter Benjamin Petri die Nase voll hatte. Er unterbrach die Partie. Und unschöne Szenen folgten: Die Polizei marschierte ins Stadion Mannsbergstraße ein, um die überhitzten Gemüter zu beruhigen.“
Die Harzer Volksstimme berichtet weiter:
„Nach dem Abpfiff kochten dann die Emotionen hoch. ‘Nur mit massivem Kräfteeinsatz und starker Präsenz ist es uns gelungen, Ausschreitungen zu verhindern’, so der Polizeioberrat. Während sich die HFC-Fans bereits auf der Heimreise befanden, war die Polizei in den Abendstunden noch in Wernigerode unterwegs, um ‘Straftaten der Fußballanhänger zu verhindern’.“
Ich muss zugeben, dass ich die Artikel schon fast wieder weggeklickt hatte, ohne auch nur einen Gedanken an die Absurdität dieser Situation verschwendet zu haben. So sehr schon habe ich mich an solche Schlagzeilen gewöhnt, dass mir inzwischen nur noch Artikel über besonders spektakuläre Gewaltakte oder ungewöhnlich teure Polizeieinsätze bei Fußballspielen einen kurzen Stich ins Herz versetzen – wie etwa dieser Bericht aus dem April über eine Partie in Magdeburg, zu der kurzfristig noch sieben Hubschrauber der Bundespolizei mit Einsatzkräften aus Niedersachsen eingeflogen waren, um den geordneten Abzug von Fußballfans aus Leipzig zum Bahnhof abzusichern.
Trotz dieses Gewöhnungseffekts blieb ich gestern lange an dem Teilsatz „…war die Polizei in den Abendstunden noch in Wernigerode unterwegs, um Straftaten der Fußballanhänger zu verhindern.“ hängen. Wie absurd klingt es doch, wenn man statt „Fußballanhänger“ an dieser Stelle einfach mal „Hobby-Astronomen“, „Sporttaucher“, „Briefmarkensammler“ oder „Harry Potter-Fans“ einsetzt und den Satz laut vorliest. Nichtsdestotrotz fließen in die Förderung des Fußballsports deutlich mehr Steuergelder als in die Finanzierung von Sternwarten, Tauchclubs, Lesezirkeln oder Briefmarkenbörsen – auch hier in Wernigerode. Während es für jeden anderen Verein der soziale wie auch der finanzielle Todesstoß wäre, Auslöser für „Ausschreitungen“ irgendwelcher Art zu sein, reißen die Forderungen der Fußballvereine nach immer mehr öffentlichen Mitteln selbst vor dem Hintergrund solcher Szenen nicht eine Sekunde ab.
Für mich stellt sich hier schon seit Jahren die Frage nach dem Warum. Warum lassen wir uns als Gesellschaft all das nur gefallen? Die hohen Kosten für Sicherungsmaßnahmen (allein die Absicherung des Profi-Fußballs verschlingt schon 1.200 Polizei-Vollzeitstellen)? Die unzähligen Überstunden bei der Polizei, die sich ja auch anderen Aufgaben widmen könnte? Die vielen angepöbelten und gelegentlich auch verletzten Polizisten? Die zunehmende Anzahl von Straftaten? Die Belästigungen für Passanten und insbesondere Bahnfahrer, die das Pech haben, an einem Spieltag unterwegs sein zu müssen? Die Kosten für die Aufräum- und Säuberungsarbeiten in Bahnhöfen, Fußgängerzonen und Regionalzügen? Nicht zu bestreiten ist, dass dem Fußball ein offensichtlicher Sonderstatus in unserer Gesellschaft zukommt, der zu einer erhöhten Toleranz gegenüber negativen externen Effekten führt. Wer sich – wie ich – über diesen Umstand ärgert, dem bleibt wohl leider nur abzuwarten und darauf zu hoffen, dass sich diese unbotmäßige Toleranz eines Tages wenigstens abschwächt…
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