Vor dem Hintergrund meiner zwei Jobs sowie den Herausforderungen, die der familiäre Nachwuchs gerade in den ersten Lebensjahren mit sich bringt, bin ich in den letzten Monaten kaum noch dazu gekommen, ein Buch nur so zum Vergnügen zu lesen (geschweige denn, es für die ScienceBlogs zu rezensieren). Mit dem 1975 erschienenen Roman „Die Große Viktorianische Sammlung“ des mir – wie ich zu meiner Schande gestehen muss – bis dato unbekannten irisch-kanadischen Autors Brian Moore, erging es mir am Wochenende anders: Nachdem ich das erste Kapitel gelesen hatte, konnte ich das Buch – Arbeit hin oder her – nicht mehr aus der Hand legen. Seit meiner ersten Begegnung mit Carl Sagans Meisterwek „Contact“ hat mich kein Roman mehr derart gefesselt – und da es in Moores Buch ebenfalls um das Leben und Leiden eines jungen Wissenschaftlers geht, sei auch diesem Werk eine Rezension auf den ScienceBlogs vergönnt.
Die Hauptfigur des Romans ist der Historiker Anthony Maloney, der – frisch nach dem Abschluss seiner Promotion zu sozialen Konventionen des viktorianischen Englands am Beispiel von Kunst und Architektur – eine Assistenzprofessur an der McGill-Universität in Montral ergattern konnte und nun auf eine Festeinstellung hofft. Um seine Chancen zu erhöhen, wirft er sich in das vielen ScienceBlogs-Lesern vermutlich nur allzugut bekannte akademische Laufrad, publiziert, knüpft Fachkontakte und reist von Konferenz zu Konferenz. Auf dem Rückweg von einem Seminar in Berkeley macht Maloney im kleinen Sea Winds Motel im malerischen kalifornischen Städtchen Carmel-by-the-Sea Halt – und träumt nach einem langen Tag in seinem Motelzimmer von einer ganz erstaunlichen Sammlung viktorianischer Kunst und Alltagsgegenstände. Als Maloney am nächsten Morgen aufwacht, hat sich sein Traumgebilde auf dem Parkplatz des kleinen Motels materialisiert, der von Statuen, Gemälden, Büchern, Spielzeugen und Möbelstücken üerquillt. Sogar eine Dampflokomotive und der Kristallspringbrunnen der Großen Ausstellung von 1851 erwarten den staunenden Historiker.
Die Folgen des „säkulären Wunders“ der Erschaffung dieser Ausstellung allein aus den Gedanken Maloneys, brechen nun wie ein Orkan in mehreren Eskalationsstufen über diesen hinein. Von der behördlichen Ermittlung durch den örtlichen Dorfpolizisten bis hin zum FBI über die journalistische Begleitung durch die lokale Presse bis hin zur New York Times und CNN-Sondersendungen bis zur wissenschaftlichen Untersuchung der Erscheinung vom örtlichen Antiquitätensammler bis hin zu international anerkannten Experten für Viktoriana aus Oxford und Cambridge, erlebt Maloney eine ununterbrochene und bisweilen tragikomische Achterbahnfahrt, in deren Verlauf er Schritt um Schritt auch verstörende Erkenntnisse über seine persönliche Beziehung zu den Exponaten der Sammlung gewinnt. Diese folgen nämlich eigenen Regeln: Von Maloney entfernte oder zerstörte Gegenstände tauchen immer wieder auf – und je weiter er sich von Carmel-by-the-Sea entfernt oder je stärker er seine Gesundheit belastet, umso mehr scheinen auch die Exponate seiner Sammlung zu verblassen und zu altern.
Maloney wird so zum Kurator wider Willen einer Sammlung aus Stücken, die weder Fälschungen noch Originale sind (da die tatsächlichen Originale sich weiterhin in ihren Museen befinden) und deren Existenz sich jeder rationalen Erklärung verschließt. Und während Carmel-by-the-Sea von immer mehr Geschäftemachern, Scharlatanen und Verrückten überrannt wird, muss Maloney sich der Frage stellen, wie er sein bis dahin recht geordnetes Leben mit dieser neuen Rolle in Einklang bringen kann, die er aufgrund der Verbindung zwischen ihm und seiner Sammlung aber auch nicht abzulegen in der Lage ist.
Museophilen Lesern kann ich das Buch alleine schon deshalb schon ans Herz legen, weil Moore sich darin auf humorvolle Art und Weise mit der Wahrnehmung von Museen und Exponaten durch Öffentlichkeit, Experten, Presse und sogar das Wachpersonal auseinandersetzt – und überhaupt gibt es ja nur wenige Romane, in denen die eigentliche Hauptfigur keine Person, sondern eine museale Sammlung ist. Auch der Wissenschaftsjournalismus wird nicht ausgespart: Als man in Maloneys umfangreicher Sammlung auf eine Reihe viktorianischer Erotika stößt (die viktorianische Gesellschaft war in dieser Hinsicht nicht unbedigt prüde), prophezeit ihm ein Journalist, dass diese Exponate am Ende mehr Schlagzeilen machen werden, als das Mysterium ihrer Entstehung. Eine Szene, die mich an eine Konferenz vor einigen Jahren erinnert hat, auf der – neben weit über 100 größtenteils ingenieur- und naturwissenschaftlichen Vorträgen – auch ein einziger(!) Vortrag über den politischen Rahmen der DDR-Aktfotografie gehalten wurde. Ein älterer Kollege zeigte damals auf den Punkt im Programm und sagte nur „Genau das wird die Presse morgen bringen“ – eine Vorhersage, die die Berichterstattung aller drei Lokalzeitungen perfekt vorwegnahm.
Wer sich also für das viktorianische England (Maloneys fiktive Sammlung enthält zahlreiche reale Objekte, von denen ich drei hier im Artikel eingebunden habe), das Vergnügen und die Qualen von Kuratoren oder einfach nur haarsträubende „Was wäre wenn“-Szenarien begeistern kann, sollte bei Gelegenheit einen Blick in „Die Große Viktorianische Sammlung“ riskieren.
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