In den Anfangsjahren des „Frischen Winds“ hier auf den ScienceBlogs habe ich gelegentlich Berichte über von mir im Rahmen meiner diversen Tätigkeiten besuchte wissenschaftliche Konferenzen oder Workshops verfasst – eine Tradition, die ich mit diesem Blogpost über die „Active Healthy Aging 2015“ am Institut für Sportwissenschaft der Otto von Guericke-Universität Magdeburg wiederaufleben lassen möchte, die ich vor einigen Wochen als Vertreter der Hochschule Harz besuchen durfte. Im Fokus der viertägigen Konferenz stand die interdisziplinäre Verknüpfung von Forschung zur motorischen sowie zur kognitiven Entwicklung des Menschen im Alter. Dabei haben mich insbesondere drei Vorträge besonders beeindruckt, deren Kernaussagen ich nachfolgend kurz zusammenfassen möchte.
Bettlägerigkeit und ihre Folgen – 10 Jahre Alterung nach 14 Tagen Immobilität
In seinem Keynote-Vortrag am dritten Konferenztag präsentierte Prof. Dr. Rado Pisot von der slowenischen Primorska-Universität die Ergebnisse einer umfangreichen „Bed Rest Study“, in deren Rahmen der Effekt erzwungener Bettlägerigkeit und damit Immobilität auf jüngere (18 bis 30 Jahre) und ältere (55 bis 65 Jahre) männliche Probanden untersucht wurde. (Wer sich da fragen sollte, warum für die zweite Gruppe nicht „ältere“ Probanden selektiert wurden – da eine Bed Rest Study mit einem nicht unerheblichen gesundheitlichen Restrisiko verbunden ist, können grundsätzlich nur Personen an einer solchen Studie teilnehmen, die noch über eine robuste Gesundheit verfügen.) Studien dieser Art sind in der Populärwissenschaft aus der Raumfahrt bekannt, geben aber auch Auskunft darüber, wie sich die mangelnde körperliche Bewegung längerer Krankenhausaufenthalte auf die geistige und körperliche Fitness von Patientinnen und Patienten auswirkt. In der von Pisot administrierten Studie, die einen 14-tägigen Ruhezeitraum sowie einen anschließenden 30-tägigen Regenerativzeitraum umfasste, zeigten sich – erwartungsgemäß – erhebliche Unterschiede zwischen beiden Probandengruppen, wobei insbesondere der negative Effekt längerer Bettruhe auf die „peak aerobic power“ – die maximale Sauerstoffaufnahme bei körperlicher Belastung – hervorsticht: Während die Aufnahmefähigkeit bei den jüngeren Probanden im Schnitt um 7,6% zurückging, verringerte sie sich in der „Seniorengruppe“ um ganze 15,3% – was in etwa dem in dieser Altersgruppe natürlich zu erwartenden Rückgang im Laufe von zehn Lebensjahren ohne längere Phase der Immobilität entspricht.
Der Vergleich lässt erahnen, wie dramatisch sich eine längere Bettlägerigkeit auf den Zustand – und nicht nur den körperlichen – älterer Menschen auswirken kann. Hinzu kommt, dass sich die Werte jüngerer Probanden während der Regenerativphase wieder nahezu vollständig auf das Vorniveau zurückentwickeln, während bei älteren Probanden – auch bei begleitender physiotherapeutischer Betreuung – Defizite verbleiben. Wer schon selbst erlebt hat, dass ältere Familienmitglieder in der Kurzzeitpflege im Heim oder bei einem längeren Krankenhausaufenthalt rapide abbauen und auch nach Monaten „noch nicht wieder dieselben sind“, beobachtet letztlich die Folgen des hier von Pisot untersuchten Effekts. Die gute Nachricht ist, dass man diesem Effekt mit kognitiven Interventionen während der Phase der Immobilität sowie mit einem geeigneten Ernährungsplan während der Phase der Regeneration durchaus entgegenwirken kann – wenn denn im Krankenhaus oder Pflegeheim die nötigen personellen Ressourcen (Stichwort #Pflegestreik / Überlastung der Pflege) verfügbar sind…
Exergames – mit Wagenrennen und Sirtaki die Bewegungsfähigkeit erhalten
Auf den Demografie- und AAL-Konferenzen, die ich in den letzten Jahren besuchen durfte, wurden regelmäßig sogenannte Exergames vorgstellt – bewegungsgesteuerte Videospiele (Games), die insbesondere Seniorinnen und Senioren zu körperlichen Übungen (Exercises) für Präventions- oder Rehabilitationszwecke motivieren sollen. Ein bekanntes Beispiel hierfür ist die von Nintendo im Jahr 2006 auf den Markt gebrachte Wii bzw. die 2010 veröffentlichte Variante Wii Fit. Obwohl das System durchaus für körperliches Training einsetzbar ist, reichen jedoch auch minimale Bewegungen mit dem Controller bereits aus, um ein Spiel erfolgreich bestreiten zu können. Wer schon einmal an einer Wii gespielt und dabei ein wenig mit der Steuerung experimentiert hat, kennt den Effekt: Es liegt mehr oder weniger in der Entscheidungshoheit des Nutzers, ob dieser sich moderat körperlich anstrengt, sich völlig verausgabt oder nur mit minimalen Bewegungen zum gewünschten Ziel gelangt. Für ein Freizeit-Bewegungsspiel ist dies zwar völlig ausreichend, für den therapeutischen Einsatz dagegen nicht – hier muss sichergestellt werden, dass die Nutzer genau die Bewegungen ausführen, die der Therapieplan vorgibt und sich dabei weder überanstrengen noch zu wenig bewegen. Idealerweise sollte ein solches Exergame dabei sogar in der Lage sein, sich der Tagesform der Nutzer anzupassen und das Niveau schrittweise –in Abhängigkeit von der Tagesform und / oder vom Therapieplan – zu steigern.
Ein Exergame, das diese Ansprüche erfüllt – und dabei einen durchaus kurzweiligen Eindruck macht – wurde zwischen 2010 und 2012 im Rahmen des BMBF-geförderten Projekts motivotion60+ entwickelt und auf der AHA 2015 durch Michael Brach vom Sportmedizinischen Institut der Universität Münster vorgestellt. Als Basis dienten die Microsoft XBox 360-Kinect sowie selbstentwickelte biomedizinische Bewegungsmodelle, thematisch folgt das Spiel einer Reise durch europäische Metropolen, in denen jeweils „landestypische“ Aufgaben warten – in Rom beispielsweise das Wagenrennen im Kolosseum, in Athen der Sirtaki vor der Kulisse der Akropolis und in Paris der Aufstieg auf den Glockenturm der Notre Dame. Dabei werden bei jeder Aufgabe andere Bewegungsübungen verlangt und damit jeweils andere Muskelgruppen stimuliert – so steuert man beispielsweise den Rennwagen im Kolosseum durch seitliches Beugen, während man die Notre Dame durch Gehbewegungen erkundet.
Und ja, natürlich hinkt das Spiel dem Markt grafisch um Jahre hinterher – eines der Probleme bei der Entwicklung von Exergames, auf das Michael Brach in seinem Vortrag ausführlich einging. Während klassischen Spieleentwicklern das Know-How sowie auch die Marktanreize fehlen, um therapeutisch anspruchsvolle Exergames zu produzieren, verfügen die wenigen Exergames-Macher nicht über die personellen und finanziellen Ressourcen, um einigermaßen auf der Höhe der Zeit sowie der Technik entwickeln zu können – womit die produzierten Spiele dann leider auch nicht die Langzeitmotivation hervorrufen, die für einen erfolgreichen therapeutischen Einsatz unerlässlich wäre.
Ein möglicher, im Rahmen der AHA 2015 diskutierter Lösungsansatz bestünde nun darin, (halbwegs) aktuelle Spiele nachträglich mit einer therapeutisch akzeptablen Bewegungssteuerung auszustatten – da sich jedoch die Entwickler dieser Spiele bei der Konzeption der Handlungs- und Bewegungsabläufe nicht an medizinischen Erkenntnissen orientieren, dürfte auch dieser Ansatz letztendlich nicht zu der therapeutischen Qualität führen, die für Exergames wünschenswert wäre. Für die Spieleentwickler der nächsten Generation (die übrigens seit kurzem auch hier in Wernigerode ausgebildet werden), für die das wachsende Marktsegment der älteren Spielerinnen und Spieler immer wichtiger werden wird, dürfte die Zusammenführung von anspruchsvollem und breitenmarkttauglichem Spieledesign mit optionalen therapeutischen Elementen auf jeden Fall eine interessante Zukunftsaufgabe sein.
Flüchtlingskinder und PTSD – das Flüchtlingsproblem, über das (noch) kaum jemand spricht
Der AHA-Vortrag, der mich in den Tagen nach der Konferenz mit Abstand am meisten beschäftigt hat, wurde von Dr. Peter Wright gehalten, der viele Jahre in der britischen Armee diente und mehrfach in Afghanistan im Einsatz war. Wright hat sich auf die Therapie von posttraumatischen Stressstörungen (PTSD – Posttraumatic Stress Disorder) bei Militärangehörigen spezialisiert – eine schwerwiegende psychische Erkrankung, der in den letzten zehn Jahren mehr britische Militärangehörige zum Opfer gefallen sind, als im Kampf getötet wurden – und forscht in diesem Zusammenhang derzeit an der TU Chemnitz. Waren bereits Wrights Schilderungen seiner persönlichen Einsatzerfahrungen sowie des äußerst schwierigen therapeutischen Umgangs mit Veteraninnen und Veteranen bedrückend, zeigten seine allgemeinen Ausführungen zum Krankheitsbild PTSD auch eine Problemdimension im Kontext der aktuellen Flüchtlingskrise auf, der zumindest ich mir bislang nur peripher bewusst gewesen bin.
Die in der vergangenen Woche von der Passauer Bundespolizei in die Medien gebrachte Zeichnung eines syrischen Flüchtlingskindes belegt eindrücklich, dass viele minderjährige Flüchtlinge in ihrer Heimat sowie während der Flucht schwerste traumatisierende Erfahrungen gemacht haben dürften. Da sich entsprechende Belastungsstörungen jedoch mit einer Latenz von mehreren (bis zu 10) Jahren entwickeln und leider viel zu selten zeitnah diagnostiziert werden, sind im Rahmen der psychosozialen Betreuung dieser Kinder zunächst wenige Probleme zu erwarten. Perspektivisch – in etwa drei bis fünf Jahren – wird ein größerer Anteil dieser Kinder – zu rechnen ist hier mit etwa 20% bis 30% – aber eine posttraumatische Belastungsstörung entwickeln und damit intensiv behandlungsbedürftig werden. Für diese Aufgabe fehlen an unseren Hochschulen, Schulen und Kindertagesstätten gegenwärtig noch alle Screenings- und Unterstützungsangebote – und auch die therapeutischen Zivilstrukturen, die (noch) primär auf die Behandlung von posttraumatischen Belastungsstörungen ausgerichtet sind, die in Friedenszeiten auftreten (wie etwa von Vergewaltigungstraumata), und die andere Formen der Behandlung erfordern, dürften mit den zu erwartenden Fallzahlen ganz erheblich überlastet sein.
Da das Auftreten von PTSD so gut wie nur bei solchen Kindern und Jugendlichen zu erwarten ist, die aus Kriegsgebieten geflohen sind, handelt es sich – allen Diskussionen um Wirtschaftsflüchtlinge zum Trotz – um eine Personengruppe, die nicht nur auf Dauer in Deutschland verbleiben, sondern auch in großen Teilen hier sozialisiert werden wird. Mit anderen Worten: Die hier zu erwartende Zunahme an behandlungsbedürftigen Belastungsstörungen ist eine Herausforderung, der unsere Gesellschaft sich auf jeden Fall stellen muss. Immerhin gibt es bei alldem aber auch noch eine gute Nachricht: Aufgrund der bereits erwähnten Latenz bleiben uns noch mehrere Jahre, bis die Fallzahlen spürbar steigen – es ist also noch Zeit genug, um in entsprechende Screening- und Therapiestrukturen zu investieren.
Vorträge
Pisot, Rado: Functional and Cognitive Decline after 14 Days of Complete Physical Inactivity in Elderly
Brach, Michael; Korn, Oliver; Hauer, Klaus & Unkauf, Sven: Motivating environments based on motion tracking to promote physical activity among elderly (exergames)
Wright, Peter R. & Marga, Eugenia: Effects of exercise interventions in soldiers and veterans with PTSD
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