Viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler leben ja nach Jahrzehnten der intensiven Beschäftigung mit einem Fachthema ein wenig in ihrer eigenen Welt – und haben manchmal kaum noch Verständnis dafür, warum unbeteiligten Dritten selbst die vermeintlich “trivialsten” Fachtermini nicht geläufig sind. Über ein schönes anekdotisches Beispiel hierfür bin ich am Wochenende in meiner aktuellen Lektüre gestolpert – den Memoiren “Der Mann im Eis” des leider bereits verstorbenen Archäologen Konrad Spindler, der Anfang der 90er Jahre eine wesentliche Rolle bei der Erforschung der Gletschermumie “Ötzi” spielte.
Im ersten Teil des Buchs, das sich mit der Geschichte der Entdeckung, Bergung und Identifikation des Sensationsfunds – spannender als jeder Krimi – auseinandersetzt, berichtet Spindler auch über den Umgang der Polizei mit der nahe der Leiche gefundenen Axt, die man erst für einen Eispickel aus dem frühen 20. Jahrhundert hielt (in den ersten 48 Stunden nach Entdeckung der Mumie hielt man diese fälschlicherweise für die sterblichen Überreste des 1941 am Similaungletscher verschollenen Veroner Musikprofessors Carlo Capsoni). Ohne einen Hauch von Ironie ist Spindler ehrlich entrüstet darüber, dass Bergwacht und Polizei die über 5.000 Jahre alte Axt nicht sofort als archäologisches Fundstück einstuften. Er schreibt:
“Schon bevor das Beil für die nächsten Tage hinter der schweren stählernen Sicherheitstür des Luftschutzbunkers unter dem Gendarmeriegebäude in Sölden verschwand, hatten es zahlreiche Personen gesehen. Holzgriffe dieser Art liegen aus vielen prähistorischen Pfahlbauten des zirkumalpinen Raumes vor. Ähnliche Pickel mit der charakteristischen Knieholmschäftung sind gerade in Oberösterreich aus den eisenzeitlichen Salzbergwerken Hallstatts und Halleins geläufig. Sie sollten eigentlich über den engeren Kreis der Fachwissenschaftler hinaus bekannt sein. Dennoch kam keiner der Betrachter auf die Idee, dass es sich bei dem Beil vom Hauslabjoch um einen vorgeschichtlichen Gegenstand handeln könnte und deshalb zuallererst gesetzliche Meldepflicht an das Denkmalamt bestanden hätte.”
Wer von uns hätte sie nicht auch sofort erkannt, die charakteristische Knieholmschäftung aus den Pfahlbauten des zirkumalpinen Raumes? Und macht eine solche Anmerkung Autor und Werk nicht gleich viel sympathischer? Mir jedenfalls ging es beim Lesen so.
“Der Mann im Eis” ist übrigens nicht nur wegen solcher Randbemerkungen eine höchst unterhaltsame und mehr als fesselnde Lektüre – und auch wenn ich es heute erst zur Hälfte lesen konnte, gibt es für dieses Werk schon mal eine klare Leseempfehlung. Beachten sollte man allerdings, dass Spindlers Werk bereits 1993 aufgelegt wurde – und seitdem natürlich noch einige neue Erkenntnisse über den faszinierenden Fund gewonnen werden konnten.
Headergrafik: Ausschnitt aus einer Aufnahme des Tisenjochs, des Fundorts von “Ötzi” in den Ötztaler Alpen von Wikipedia-User “Kogo”, zu finden in den Wikimedia Commons unter GFDL.
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