Für diese Kraftübertragung zwischen den Plättchen sind vermutlich Ionen, also elektrisch geladene Atome, verantwortlich. Das schließt man aus dem genauen Verformungsverhalten der Fasern – darüber lassen sich typische Bindungsenergien abschätzen, die bei der Verformung überwunden werden müssen. Die so bestimmten Energien passen am besten zu Bindungen durch elektrische Anziehung zwischen Ionen. Was im Folgenden erklärt wird, ist also ein plausibles Modell, das aber nicht direkt experimentell geprüft ist.

Die Ionen sind die roten und blauen Kringel im Bild. Die blauen Kringel sind positiv geladene Kalziumionen, die roten Kringel sind negative geladene Ionen an der Oberfläche des HAP-Plättchens. (Das ist natürlich falsch, weil negative Ladungen blau sind und positive rot, das sollte eigentlich jeder wissen…)

Zieht man an der Faser, dann muss diese elektrische Anziehung zwischen den Ionen überwunden werden. Dann können die Plättchen sich gegeneinander bewegen, aber wenn sie ein Stück abgeglitten sind, dann können die Kalziumionen natürlich neue Bindungen eingehen, wenn sie wieder neben einem negativen Ion liegen.

In der Arbeit wurde nun ein Computermodell dieses Abgleitens erstellt. Dazu wurden die Anziehungskräfte zwischen den Ionen modelliert, und zwar für verschiedene Anordnungen der Kalziumionen (aus Hartmann et al., s.u.):

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Hier sieht man unten die Ionen zwischen den Plättchen, oben sieht man eine regelmäßige und eine unregelmäßige Anordnung der Ionen in der Draufsicht.

Jetzt wurde im Computermodell die Verformung simuliert und geschaut, wie groß die Kraft ist, die man braucht, um die Plättchen um ein Stück Δx zu verschieben. Bei den unregelmäßigen Anordnungen hat man natürlich nicht bloß eine angeschaut, sondern sehr viele. Das Ergebnis sieht man hier (aus Hartmann et al., s.u.):

i-0d13c6015b18a95ae8c3c45741fc5674-hartmann-001-thumb-540x206.jpg

Aufgetragen ist die Kraft gegen die Verformung, links für die regelmäßige, rechts für die unregelmäßige Anordnung. (Rechts gibt es Fehlerbalken, weil die Werte natürlich davon abhängen, wie genau die Anordnung aussieht.) Wichtig ist der Blick auf die Δx-Achse unten: Man erkennt, dass bei der regelmäßigen Anordnung viel kleinere Verformungen schon zu sehr viel höheren Kräften führen. Daraus kann man schließen, dass diese Anordnung sehr spröde ist. Bei der unregelmäßigen Anordnung sind die Kräfte geringer, die Verformbarkeit ist aber viel höher.

In dem kleinen Teilbild rechts sieht man auch, was bei einer einzelnen Rechnung mit der unregelmäßigen Anordnung passiert: Die Last steigt ein ganzes Stück an, ohne dass sich die Plättchen verschieben. Dann wird plötzlich die Anziehung zwischen einigen Ionen überwunden, die Plättchen gleiten ein Stück aneinander ab, bis die Ionen neue Bindungen eingehen. Bei der regelmäßigen Anordnung dagegen können die Ionen nur alle gleichzeitig ihre Bindungen lösen – das geschieht erst bei viel größerer Last. Bis dahin gibt es nahezu keine Verformung. Sind die Ionenbindungen bei der regelmäßigen Anordnung überwunden, dann knüpfen sie sich auch nicht wieder neu, dazu ist die Kraft jetzt schon zu groß.

Insgesamt ergibt sich also, dass eine regelmäßige Ionenanordnung zwar größere Kräfte zur Verformung benötigen würde, aber viel spröder wäre – unsere Knochen wären dann eher glasartig. Dass sie stattdessen zäh und nicht spröde sind, verdanken sie also dem Zufall – genauer gesagt, der zufälligen Anordnung von Ionen.


Quellen:

Hartmann, M., & Fratzl, P. (2009). Sacrificial Ionic Bonds Need To Be Randomly Distributed To Provide Shear Deformability Nano Letters, 9 (10), 3603-3607 DOI: 10.1021/nl901816s

Wer mehr über Werkstoffe im Allgemeinen wissen will, der kann hier nachschauen (hüstel).

Und wer wissen will, wie man Werkstoffe im Computer simuliert, wird hier fündig. (Doppel-hüstel, aber kostenloser download…)

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Kommentare (11)

  1. #1 stefan
    29. August 2010

    Danke für deine Blogeinträge! Nicht nur den hier, auch die anderen vorher… sie machen mir Spass, sind interessant, gut zu lesen und überhaupt. Klasse 🙂

  2. #2 Webbaer
    29. August 2010

    Sehr interessant, außerdem sehr produktiv zurzeit, gell.
    Bei Knochen hat die Natur auch fleißig geübt. 🙂

    MFG
    Wb

  3. #3 kommentarabo
    29. August 2010

  4. #4 Jörg
    29. August 2010

    Ich bin jetzt nur kurz über das Paper geflogen, wenn ich das richtig sehe ist ein Monte Carlo-Schritt eine Umpositionierung eines Ions. Und dann werden 1000 Konfigurationen erzeugt und die Kurven daraus abgeleitet. Da wäre es doch recht einfach, aus den Sprüngen Metropolis-Schritte zu machen und direkt eine Optimierung zu versuchen? Bestimmt gibt es auch etwas ähnliches wie die Geostatistik, in dem man dann versuchen kann optimale Konfigurationen durch räumliche Korrelationen auszudrücken?

  5. #5 Jörg
    29. August 2010

    Ich bin jetzt nur kurz über das Paper geflogen, wenn ich das richtig sehe ist ein Monte Carlo-Schritt eine Umpositionierung eines Ions. Und dann werden 1000 Konfigurationen erzeugt und die Kurven daraus abgeleitet. Da wäre es doch recht einfach, aus den Sprüngen Metropolis-Schritte zu machen und direkt eine Optimierung zu versuchen? Bestimmt gibt es auch etwas ähnliches wie die Geostatistik, in dem man dann versuchen kann optimale Konfigurationen durch räumliche Korrelationen auszudrücken?

  6. #6 Jörg
    29. August 2010

    Ich bin jetzt nur kurz über das Paper geflogen, wenn ich das richtig sehe ist ein Monte Carlo-Schritt eine Umpositionierung eines Ions. Und dann werden 1000 Konfigurationen erzeugt und die Kurven daraus abgeleitet. Da wäre es doch recht einfach, aus den Sprüngen Metropolis-Schritte zu machen und direkt eine Optimierung zu versuchen? Bestimmt gibt es auch etwas ähnliches wie die Geostatistik, in dem man dann versuchen kann optimale Konfigurationen durch räumliche Korrelationen auszudrücken?

  7. #7 MartinB
    30. August 2010

    @Jörg
    Ich denke, da könnte man sicher eine optimale Konfiguration suchen – ist nur die Frage, was man optimieren will. Im paper wurde die Ladungsdichte variiert. Man könnte natürlich auch teilgeordnete Strukturen ansehen. Die Frage ist vermutlich eher, woher man eine Idee bekommt, in welche Richtung das in der Realität geht, aber da ist sicher noch ne Menge Spielraum.

  8. #8 roel
    30. August 2010

    @MartinB “…Dass sie stattdessen zäh und nicht spröde sind, verdanken sie also dem Zufall – genauer gesagt, der zufälligen Anordnung von Ionen.” Ist Evolution Zufall oder gibt es Zwangsläufigkeiten? Leider habe ich momentan nicht die Zeit zur eigenen Recherche, spielen die Ionen bei der Glasknochenkrankheit eine Rolle?

  9. #9 MartinB
    30. August 2010

    @roel
    Zufall im Evolutionssinn meinte ich nicht, das wär ja ne ganz andere Frage…

    Nein, Glasknochenkrankheit (ist eigentlich nicht eine Krankheit) hat was mit den Kollagenfasern zu tun – bei den bösen Spielarten ist ein Glycin im Kollagen durch eine größere Aminosäure ersetzt, dadurch kann sich das Kollagen nicht mehr richtig zusammensetzen und die Faserbildung ist gestört.

  10. #10 Joe Dramiga
    3. September 2010

    Was hälst Du von Titan-Implantaten?

    Mediziner wollen Implantate dauerhafter und stabiler mit den Knochen des Patienten zu verbinden. Dafür muss der Knochenersatz jedoch so gestaltet sein, dass er ein Einwachsen begünstigt – mit Poren und Kanälen, durch die Blutgefäße und Knochenzellen ungehindert hindurch wachsen können. Material der Wahl bei Implantaten ist Titan der Legierung Ti6Al4V. Es ist langlebig, stabil und belastbar und wird vom Körper gut vertragen. Eher problematisch ist dagegen seine Verarbeitung: So reagiert Titan unter hohen Temperaturen mit Sauerstoff, Stickstoff und Kohlenstoff. Es wird dadurch spröde und brüchig. Entsprechend begrenzt ist die Palette der Produktionsverfahren.

    https://news.doccheck.com/de/article/201054-titanschaeume-ersetzen-verletzte-knochen/

  11. #11 MartinB
    3. September 2010

    @JoeDramiga
    Naja, Ti64 ist nicht mehr das höchste der Gefühle, hat hauptsächlich den Vorteil, relativ kostengünstig zu sein, weil es in großen Mengen produziert wird. Die Bearbeitbarkeit hat ein Forschungsprojekt bei uns am Institut übrigens deutlich verbessert, man legiert als Geheimzutat Lanthan dazu. Kann ich bei Gelegenheit auch mal was zu schreiben – leider hat sich bisher noch kein Großabnehmer gefunden…

    Viele Anwender nehmen inzwischen Ti6Al7Nb, weil Vanadium nicht so biokompatibel ist. Und dann gibt es noch Ti13Nb13Zr und TiMo15 und TiTa-Legierungen, die sind aber soweit ich weiß alle noch nicht in der Praxis wirklich verbreitet.

    Das mit den Schaumstrukturen ist so eine Sache, hat man vor 30Jahren schon mal mit CoCr-Legierungen versucht, hat aber das Problem, dass die Poren im Schaum ähnlich wie Anrisse wirken und die ermüdungsbeständigkeit in den Keller geht…