Kritik an der speziellen Relativitätstheorie (SRT) gibt es hier in den Kommentaren ja relativ häufig. Meist wird dieser Kritik1 eher spöttisch begegnet, Physiker halten die SRT also anscheinend für über jeden Zweifel erhaben. Warum ist das so? Sind wir alle einsteingläubige Dogmatiker?
1Ich beziehe mich hier zunächst auf Kritik, die die gesamte SRT in Frage stellt und stattdessen die Gültigkeit der Newtonschen Physik behauptet. Andere Kritiken an der SRT diskutiere ich am Ende.
Schaut man einmal bei Wikipedia, welche Belege dort für die SRT angeführt werden, so gibt es da Messungen der Zeitdilatation in Teilchenbeschleunigern oder an Myonen der Höhenstrahlung, ähnliche Messungen mit Uhren, die in Flugzeugen bewegt werden, dann eine Erklärung der Lichtablenkung (Aberration) und des Dopplereffektes, sowie schließlich die Erklärung der Lorentzkraft, also der magnetischen Kraft auf ein bewegtes Teilchen.
Für sich genommen sind diese Effekte und ihre Erklärung durch die SRT sicherlich schon gute Argumente und jeder Kritiker der SRT täte gut daran, sie alle ernst zu nehmen, aber sind das nicht eher sehr spezielle Effekte? Könnte man die nicht auch wirklich anders erklären.
Diese Effekte, die als direkte Demonstrationen der SRT angesehen werden können, allein erklären wirklich nicht ausreichend, warum eine Rückkehr zur Newtonschen Physik von Physikern für absolut absurd gehalten wird. Um das zu verstehen, muss man sich ansehen, welche Rolle die SRT in anderen Bereichen der Physik spielt. Ich gebe hier nur ein paar Beispiele – wer “relativistic effects” bei google scholar eintippt, kann sich jede Menge weitere Anregungen holen.
Anmerkung: Ja, mir ist klar, dass ich die argumentresistenten Kritiker, die hier in den Kommentaren oft auftauchen, mit diesem Artikel nicht überzeugen werde –
“You cannot reason people out of a position that they did not reason themselves into.” Aber vielleicht hilft dieser Artikel ja denen, die sich über die heftigen Reaktionen der Physiker wundern, diese besser zu verstehen.
Atomphysik, Festkörperphysik, Chemie
Die Quantenmechanik feierte Anfang des letzten Jahrhunderts große Erfolge. Eins der Hauptziele der QM war es, die Atomspektren erklären zu können. Das Bohrsche Atommodell machte den Anfang, Sommerfeld verfeinerte das Modell weiter. Schon dabei verwendete er die SRT, indem er die relativistische Formel für die kinetische Energie anwandte und so die Feinstruktur des Wasserstoffspektrums berechnete. Eine detailliertere Analyse gelang mit der Dirac-Gleichung, zu der ich später noch etwas sage. Ohne relativistische Korrekturen sind aber die beobachteten Atomspektren nicht zu erklären – wer die SRT für ungültig erklärt, muss also eine andere (quantitative!) Erklärung der beobachteten Atomspektren liefern.
Wie jeder weiß, hat Gold eine gelbliche Farbe. Warum eigentlich? Die Farbe eines Metalls wird durch die Energieniveaus der Elektronen bestimmt, die sogenannte Bandstruktur. Diese Bandstrukturen zu berechnen, ist eine der wichtigsten Aufgaben der Festkörperphysik. Berechnet man nun die Bandstruktur und die Absorption von Gold mit den Mitteln der Quantenmechanik, so stellt zunächst man fest, dass Gold ähnlich wie Silber alle Farben reflektieren sollte. Dass dies nicht so ist, liegt am relativistischen Massezuwachs der Elektronen in den Orbitalen. Eine kurze Erklärung findet man am Fermilab. Ein ähnliches Phänomen ist verantwortlich dafür, dass Quecksilber flüssig ist.
“Na und”, könnte jetzt jemand einwenden. “Dann liegt die Farbe von Gold halt an etwas anderem.” Tja, aber woran? Wenn es nämlich nicht die relativistischen Effekte sind, welche Effekte sind es dann? Die Folgerung wäre, dass unsere aktuelle Quantenmechanik ebenfalls falsch oder zumindest lückenhaft ist – angesichts der Präzision, mit der man die Quantenmechanik und daraus abgeleitet die Festkörpertheorie verwenden kann, um beispielsweise Halbleiterbauteile zu berechnen (ohne die kein Computer funktionieren würde),scheint das sehr unwahrscheinlich. Auch hier gilt wieder dasselbe: Wer die SRT ablehnt, ist in der Pflicht, auch diese Phänomene zu erklären.
Apropos Halbleiter: Auch die Bandstrukturen von Halbleitern wie Germanium und Galliumarsenid können nur durch relativistische Korrekturen korrekt berechnet werden, siehe beispielsweise diesen Artikel.
Auch anderen Effekte in der Chemie werden auf relativistische Korrekturen zurückgeführt. Einen Überblick findet man hier. Hier die schöne Übersicht über das Periodensystem der Elemente mit eingezeichneten Effekten (zum Vergrößern anklicken):
Nicht in diesem Bild eingezeichnet sind relativistische Effekte bei chemischen Verbindungen, z.B. in der Bindungslänge – ohne diese Korrekturen liegen berechnete Werte für die Bindungslängen beispielsweise von Quecksilberverbindungen deutlich neben den experimentell gemessenen. (Hierzu muss allerdings gesagt werden, dass im zitierten Artikel auch mit relativistischer Korrektur die Bindungslängen nicht allzu präzise vorhergesagt werden können. Neuere Veröffentlichungen liefern allerdings bessere Ergebnisse, beispielsweise hier oder hier.) Weitere Beispiele für relativistische Effekte in der Chemie findet man bei der englischen Wikipedia.
Falls also die Relativitätstheorie (insbesondere der relativistische Massenzuwachs) für Elektronen nicht gelten würde, dann wären auch viele chemische Effekte nicht erklärbar. Das wiederum würde bedeuten, dass auch die Quantenmechanik lückenhaft ist – das kann man natürlich glauben, aber die experimentellen Belege für die Quantenmechanik sind (insbesondere eben in der Atom- und Festkörperphysik) überwältigend.
Kernphysik
Kernphysik habe ich im Studium nie gemocht, deswegen habe ich davon nicht so schrecklich viel (ehrlich gesagt: nahezu keine) Ahnung. Die SRT spielt aber natürlich auch in der Kernphysik eine wichtige Rolle, das sieht man zum Beispiel in diesem paper, aus dem der folgende Satz stammt:
This is no doubt that relativistic effects explain important
aspects of nuclear structure and scattering.
[ Es gibt keinen Zweifel, dass relativistische Effekte wichtige Aspekte der Kernstruktur und -streuung erklären.]
Ein Beispiel zeigt dieses Bild (wieder zum Vergrößern anklicken) – hier ist der Vergleich zwischen relativistischer (durchgezogene Linie) und nicht-relativistischer (gestrichelte Linie) Lösung und dem Experiment direkt eingezeichnet:
Auch hier erkennt man, dass die nicht-relativistische Rechnung deutlich schlechter ist. Einen weiteren (und sehr neuen) Überblick über relativistische Effekte in der Kernphysik gibt es hier.
Quantenfeldtheorien
Noch wesentlich drastischer sieht die Sache aus, wenn wir uns der Elementarteilchenphysik zuwenden. Beginnend mit der Dirac-Gleichung wird hier seit jeher rein relativistisch gerechnet – anders als in der Chemie, wo die Effekte der SRT oft als relativistische Korrekturen eingebaut werden, sind hier die Gleichungen selbst schon so strukturiert, dass sie nur im Rahmen der SRT einen Sinn ergeben. Die Erweiterung der Dirac-Gleichung führt zu den sogenannten Quantenfeldtheorien – alle heutigen Theorien der Elementarteilchen sind solche QFTs. Sie alle sind von ihrer mathematischen Struktur her relativistisch – die Grundgleichungen der SRT sind quasi implizit in die QFTs eingebaut.
Alle Ergebnisse der Quantenfeldtheorien sind damit implizit immer auch Bestätigungen der SRT. Ein Beispiel ist die Vorhersage des magnetischen Moments des Myons (eine schwere “Variante” des Elektrons). Der experimentelle Wert beträgt
ae = 11659208.0 10-10
ein aktuell berechneter theoretischer Wert ist
at = 11659180.4 10-10
Die Übereinstimmung ist nicht perfekt, weil die theoretische Berechnung (mittels Feynmandiagrammen) immer eine Näherung enthält, aber sie ist schon verdammt gut. Wenn die SRT für Elementarteilchen nicht gelten würde, dann müsste diese Übereinstimmung (immerhin auf 6 zählende Stellen1) auf Zufall beruhen.
1Übrigens ist hier das magnetische Moment schon so normiert, dass nur die Abweichung des Wertes, der aus der Dirac-Gleichung folgen würde, aufgeschrieben ist. Absolut betrachtet wäre die Genauigkeit noch um 2 Größenordnungen besser.
Auch die elektroschwache Theorie funktioniert ohne SRT nicht. Die korrekte Vorhersage der berühmten “Eichbosonen” in den siebziger Jahren wäre also ebenfalls Zufall gewesen. Genau genommen wäre jede korrekte Vorhersage der Elementarteilchenphysik der letzten 60 Jahre reiner Zufall.1 Alles, was wir über Quarks, Gluonen, Leptonen etc. wissen, wäre ohne SRT falsch.
1O.k., es könnte natürlich auch eine gigantische Verschwörung sein. Jedes Jahr beginnen allein in Deutschland so etwa 5000 Menschen ein Physikstudium – die alle müssten entweder erfolgreich getäuscht werden oder sie müssten alle Mitglied der Verschwörung sein. (Weltweit wären es noch ein paar mehr.) Im Geheimen würden dann alle Physiker vielleicht mit den Newton-Formeln rechnen, aber wenn sie veröffentlichen schnell alles auf die SRT umschreiben. Und niemand hat in den letzten 50 Jahren geredet (obwohl das ein sicherer Weg wäre, berühmt zu werden). Und all dieser Aufwand, um … ja, was eigentlich? Was würde man gewinnen? Am besten, wir vergessen die Verschwörungstheorie wieder, die ist einfach zu absurd.
“Na und? Die Wissenschaft hat sich doch schon früher geirrt!”
Schon richtig – aber hier wäre eben nicht nur jede Theorie über Elementarteilchen falsch, sondern auch jede Messung, die am CERN oder DESY oder jedem anderen Teilchenbeschleuniger jemals gemacht wurde, wäre erstens falsch ausgewertet und dann fehlerhaft theoretisch interpretiert worden. Als Beispiel hier mal ein einziges Messergebnis vom DESY, stellvertretend für Tausende andere:
Dargestellt ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich ein Elektron und ein Positron vernichten und dabei ein Myon-Antomyon-Paar erzeugen – die Datenpunkte sind die Messwerte, die Linie ist die theoretische Vorhersage nach der Quantenelektrodynamik. Wäre die SRT falsch, müsste die Übereinstimmung hier rein zufällig zustande kommen. Wie gesagt, Messungen dieser Art gibt es seeeehr viele – und bisher wurden die verwendeten QFTs dabei exzellent in ihren Vorhersagen bestätigt.1 Alles nur Zufall?
1 Das ist ja gerade ein “Problem” der heutigen Elementarteilchenphysiker – es gibt eigentlich keine Phänomene, die nicht mir dem “Standardmodell” der Elementarteilchentheorie erklärt werden können. Auf der anderen Seite enthält die Theorie zu viele freie Parameter, als dass man sie wirklich für fundamental halten würde.
Astronomie
Gut, in Astronomie kenne ich micht nicht so gut aus – Florian oder Ludmila können sicher ohne Luft zu holen hundert Beispiele für das Wirken der SRT in der Astronomie aus dem Hut zaubern. Aber ein nettes Beispiel will ich hier anführen: Die Supernova-Explosion 1987A. Bei einer solchen Explosion werden massenhaft Neutrinos freigesetzt. Neutrinos sind elektrisch nicht geladen und haben deshalb mit Licht zunächst nichts zu tun. Wenn also die Lichtgeschwindigkeit nur für Licht relevant ist und keine absolute Schranke darstellt, dann sollten die Neutrinos – die bei so einer Explosion mit extrem hoher Energie freigesetzt werden – mit irgendeiner Geschwindigkeit fliegen. Tatsächlich erreichten die Neutrinos dieser Supernova die Erde etwa 3 Stunden vor dem Licht. Bei einer Entfernung von etwa 157000 Lichtjahren heißt das, dass sie (zunächst rechnerisch) mit einer Geschwindigkeit flogen, die um ein fünfhundert Millionstel von der Lichtgeschwindigkeit abweicht. So ganz irrelevant scheint die Lichtgeschwindigkeit für Neutrinos also nicht zu sein.
Die Neutrinos flogen übrigens nicht mit Überlichtgeschwindigkeit – anders als das sichtbare Licht kommen sie sofort aus dem Kern des Sterns heraus, während die Photonen und die Druckwelle selbst ein bisschen brauchen, bis sie die Sternoberfläche erreichten. Tatsächlich flogen die Neutrinos (die ja Masse haben) etwas langsamer als das Licht. Ohne die Lichtgeschwindigkeit als Obergrenze ist das Verhalten der Neutrinos aber nicht zu erklären, denn mit den riesigen Energien bei einer Supernova-Explosion müssten dann ja auch entsprechend riesige Geschwindigkeiten verbunden sein – stattdessen flogen alle Neutrinos ziemlich genau gleich schnell, nämlich ziemlich genau mit Lichtgeschwindigkeit. Schneller geht’s eben nicht.
Kann die SRT falsch sein?
Das klingt jetzt so, als wäre die SRT das, wovon eigentlich alle Naturwissenschaftler sagen, dass es nicht existiert: Eine bewiesene Theorie. Ist es also unmöglich, dass die SRT falsch ist?
Um das zu beantworten, muss man sich zunächst fragen, was “falsch” eigentlich bedeutet. Die Newtonsche Mechanik ist sicherlich in dem Sinne “falsch”, dass sie unter bestimmten Bedingungen (nämlich bei hohen Teilchengeschwindigkeiten) falsche Vorhersagen macht. Für niedrige Geschwindigkeiten ist sie aber dennoch anwendbar, wenn auch mit (sehr kleinen) Fehlern. Die Newtonsche Mechanik hat einen Anwendungsbereich, sie gilt nur für kleine Geschwindigkeiten. Streng genommen ist sie falsch, aber trotzdem kann man sie in vielen Fällen verwenden.
Das gleiche gilt auch für die SRT: Sie ist, wie wir oben gesehen haben, für viele Fälle geprüft und macht korrekte Vorhersagen. Aber natürlich haben Experimente eine endliche Messgenauigkeit – es kann also sein, dass es winzige Abweichungen gibt, die wir nicht beobachten können. Bei sehr kleinen Abständen und extrem hohen Energien wird die SRT zumindest in der Theorie problematisch, und die meisten Physiker gehen wohl davon aus, dass sie in diesen Fällen nicht gilt (über eine mögliche Lösung habe ich vor einiger Zeit schon mal etwas geschrieben).
Die Abweichungen, die durch eine Erweiterung oder Änderung der SRT zu Stande kommen, müssen allerdings so klein sein, dass sie mit bisherigen Beobachtungen im Einklang stehen, und das setzt die Grenzen schon ziemlich eng. Das ist das Problem mit jedem ernsthaften Versuch, die Physik zu revolutionieren: Man muss sich etwas Neues ausdenken, aber dieses Neue darf nicht im Widerspruch zu bereits bekanntem stehen. Für die SRT bedeutet dies: Jede Theorie, die die SRT ersetzen soll, wird diese als Grenzfall (beispielsweise für hinreichend große Längen) enthalten müssen, so wie die Newtonsche Mechanik als Grenzfall in der SRT (und in anderer Weise auch in der Quantenmechanik) enthalten ist. Daran führt kein Weg vorbei – wer etwas anderes behauptet, hat eine Menge zu erklären.
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