“Aber die Weltlinie der Rakete ist doch gekrümmt, meine auf der Erde ganz gerade”, könnte jetzt jemand einwenden. Das spielt aber keine Rolle, denn das sind nur Koordinaten, die man ganz willkürlich gewählt hat. Erinnert euch an die Längen- und Breitengrade auf dem Globus – die Breitengrade waren auch keine Geodäten und der Flieger nach Japan folgte ihnen nicht. Genauso wie Breitengrade willkürlich sind, ist es auch ein Koordinatensystem, das annimmt, dass die Erdoberfläche ein guter, weil ruhender Bezugspunkt ist. Sie ruht zwar, aber sie folgt eben nicht der Geodäte, und das ist alles was zählt; Koordinaten sind “Schall und Rauch” und nur ein nützliches Hilfsmittel zum messen und rechnen. (Und Bücher über die ART verwenden für viele Überlegungen sogenannte “koordinatenfreie” Darstellungen, an denen man das direkt sieht.)
Fazit: Eine Raketenbeschleunigung ist nicht von der “Schwerkraft” zu unterscheiden; in beiden Fällen spüren wir eine Kraft, weil wir daran gehindert werden, der kräftefreien Geodäte zu folgen. Das ist das, was man “Äquivalenzprinzip” nennt, Beschleunigung und Schwerkraft sind äquivalent. (Manchmal bezieht man sich auch auf die Massen – in beiden Fällen ist die Kraft ja proportional zur Masse – und sagt “träge und schwere Masse sind äquivalent”.) Ehrlich gesagt finde ich den Namen unglücklich gewählt: Zwei Dinge sind “äquivalent”, wenn sie unterschiedlich, aber gleichwertig sind. Doch das ist hier gar nicht der Fall: Träge und schwere Masse sind dasselbe, ebenso Beschleunigung und “Schwerkraft”.
In typischen Raumkrümmungen, wie wir sie um Planeten herum sehen, gibt es allerdings einen Unterschied zum Fall der Beschleunigung in der Rakete: Da die Raumkrümmung von Ort zu Ort verschieden ist, gibt es Gezeitenkräfte: Was näher an der Masse dran ist, wird stärker angezogen. Solche Gezeitenkräfte gibt es in einer Rakete nicht. Trotzdem kann man Schwerkraft und Beschleunigung als “dasselbe ” betrachten: Zum einen kann man sich (zumindest theoretisch) eine Masse vorstellen, die vollkommen flach ist (wie ein riesiger massiver Teller) – über der wäre das “Schwerefeld” vollkommen homogen. Zum anderen muss man, um Gezeitenkräfte sehen zu können, immer Ereignisse an unterschiedlichen Orten vergleichen; lokal sind aber Beschleunigung und “Schwerkraft” nicht unterscheidbar.
Eine 20000 Kilometer lange Abkürzung?
Erinnert ihr euch noch an das Beispiel vom letzten Mal? Morgens beiße ich vom Brötchen ab, sechs Stunden später tippe ich ein “A”. Was ist die Geodäte, die diese beiden Raumzeitpunkte auf der Erde verbindet? (Ohne Raumkrümmung wäre es ja eine Weltlinie mit konstanter Geschwindigkeit von 0.66m/Stunde, wie wir gesehen hatten.)
Das können wir nach dem eben gesagten leicht beantworten: Wie muss ein Ball fliegen, damit er nach sechs Stunden ein paar Meter neben seinem Startpunkt landet (wobei man aber die Erdrotation berücksichtigen muss), aber zwischendurch die ganze Zeit im “freien Fall” ist? Geht das überhaupt?
Ja, es geht: Ihr müsst den Ball mit einer ziemlich hohen Geschwindigkeit von der Erde wegschießen, und zwar so, dass er sich (wenn ich richtig gerechnet habe, habe die Keplergesetze benutzt) etwa 10000 Kilometer von der Erdoberfläche entfernt, dort nach drei Stunden umkehrt und wieder auf die Erde zurückfällt. (Ihr müsst die Bahn dabei so berechnen, dass er trotz Erdrotation wieder am richtigen Punkt ankommt.)
Nebenbemerkung für Spitzfindige: Genauer gesagt, gibt es noch eine zweite Geodäte, allerdings nur theoretisch: Ich könnte auch (mit passender Startgeschwindigkeit) auf das Zentrum der Erde zufallen und dann wieder zurückfliegen, allerdings nur, wenn die Erde einen hinreichend langen “Tunnel” hätte (und sich nicht drehen würde). Auch ein Weg mit mehreren Oszillationen ist sicher denkbar, das wäre ein dritte Lösung. Aber das nur am Rande.
Kann es wirklich sein, dass die Masse der Erde den Raum so stark krümmt, dass aus einer vier Meter langen Geodäte eine etwa 20000 Kilometer lange wird? Die Erde ist ja nun wahrlich keine Hoch-“Schwerkraft”-Umgebung (das wäre beispielsweise ein Neutronenstern) – warum ist der Effekt also so riesig?
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