Unterschiedliche Forscher kamen beim Aufstellen von Stammbäumen oft zu unterschiedlichen Ergebnissen – ein Merkmal, das der eine für sehr wichtig hielt, fand eine andere vielleicht eher unwichtig und berücksichtigte es deshalb weniger als ihr persönliches Lieblingsmerkmal. Das Erstellen von Stammbäumen auf diese Art war also in gewisser Weise eine Kunst – es gab keine klaren Regeln dafür, und wenn zwei Forscher unterschiedliche Stammbäume aufstellten, war es eigentlich unmöglich zu entscheiden, wer von beiden recht hatte.
Und noch ein weiteres Problem machte den Forscherinnen Kopfzerbrechen: Wenn man eine Art irgendwo auf eine Linie des Stammbaums setzt (wie den Iguanodon im Bild oben), dann impliziert das ja, dass diese Art ein Vorfahr der nachfolgenden Arten ist. So ziemlich alle Tierarten, die man plausibel auf solche Verbindungslinien setzen konnte, hatten aber auch spezielle Merkmale, die weder die vermutlichen Vorfahren, noch ihre Nachkommen hatten, Merkmale, über die diese Art allein verfügte.
Iguanodon hatte beispielsweise nur zwei Fingerglieder am vierten Finger, während sowohl Camptosaurus als auch Ouranosaurus drei hatten. Wäre Iguanodon also ein direkter Nachfahre von Camptosaurus und ein Vorfahre von Ouranosaurus, dann wäre zunächst ein Fingerglied verloren gegangen und hätte sich dann wieder entwickelt. Das ist zwar möglich, macht es aber ein bisschen unwahrscheinlich, dass es tatsächlich diese Art war, die genau auf der Verbindungslinie im Stammbaum lag. Wahrscheinlicher ist, dass es eine noch unbekannte iguanodon-ähnliche Art gab, die noch drei Fingerglieder hatte und aus der sich dann sowohl Iguanodon als auch Ouranosaurus entwickelten. Auf einigen Stammbäumen sieht man deshalb die Arten nicht genau auf den Verbindungslinien sitzen, sondern an kurzen Seitenästen.
Die Evolution ernst nehmen
Die Kladistik versucht, diese Probleme zu lösen und das Erstellen von “Stammbäumen” (genauer gesagt, “Kladogrammen”) auf eine wissenschaftliche Grundlage zu stellen. Nach meinem Verständnis beruht sie letztlich darauf, die Evolution in gewisser Weise ernster zu nehmen, als man es vorher tat. Dazu verwendet man folgende Grundprinzipien:
1. Plesiomorphien können nicht zur Gruppierung dienen
Eine “Plesiomorphie” ist ein Merkmal, das die Vorfahren der gerade untersuchten Tiergruppe auch schon besaßen. Untersuchen wir zum Beispiel die Säugetiere, dann ist das Vorhandensein von 5 Zehen ein plesiomorphes (manchmal sagt man auch “primitives” oder “basales”, wobei “primitiv aber, wie schon erwähnt, nicht so gern gesehen ist) Merkmal. Will man deshalb beispielsweise die Verwandtschaft zwischen einem urtümlichen Säugetier wie Morganucodon, einem Pferd, einer Katze und einem Menschen klären, so ist es nicht hilfreich, den Menschen, die Katze und Morganucodon in eine gemeinsame Gruppe zu stecken, weil sie das basale Merkmal “5 Zehen” teilen. Es ist klar, dass die Pferde irgendwo auf dem Entwicklungsweg vom Morganucodon ihre Zehen verloren haben, aber ob sie das taten, bevor oder nachdem sich die Entwicklungslinie der Menschen oder Katzen abspaltete, lässt sich nicht sagen – beides ist möglich. In der Mitte des 20. Jahrhunderts verwendeten die Paläontologen häufig Klassifikationen, in denen Tiere aufgrund geteilter basaler Merkmale zusammengefasst wurden, wie beispielsweise die oben erwähnten “Thecodonten”, die in keinem älteren Dinobuch fehlen, aber in neueren höchstens noch als historische Fußnote vorkommen.
(Aber Achtung: Wenn man Kladistik mit dem Computer betreibt, dann werden zur Analyse alle Merkmale verwendet, auch Plesiomorphien. Das sehen wir weiter unten genauer.)
2. Zwischenformen können nie sicher identifiziert werden
Schon Darwin schrieb viel über die Spärlichkeit der Fossilien. Nur ein wirklich winziger Bruchteil aller Tiere wird als Fossil erhalten und auch tatsächlich gefunden. Das macht es unwahrscheinlich, dass man jemals einen genauen Vorfahren einer späteren Tiergruppe finden wird; normalerweise hat jede fossile Art irgendwelche speziellen Merkmale, die weder ihre Vorfahren noch ihre Nachfahren haben (sogenannte “Autapomorphien”, wie die Zahl der Fingerglieder beim Iguanodon). Das war ja auch der Grund, warum einige der klassischen Stammbäume die “Zwischenformen” eben nicht direkt auf die Verbindungslinien setzten. Natürlich kann es tatsächlich mal vorkommen, dass eine Art keine Autapomorphien hat und deswegen wirklich als exakter Vorfahr einer anderen in Frage kommt – man kann das aber natürlich niemals wissen, weil man die Abwesenheit von Autapomorphien schlecht beweisen kann (vielleicht hatte die Art ja rosa Punkte entwickelt). Man sollte deshalb niemals annehmen, dass man tatsächlich einen genauen Vorfahren gefunden hat, weil das letztlich keine wissenschaftlich überprüfbare Aussage ist.
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