3. Die Evolution ist kein linearer Prozess
Anders als bei naiven Kreationisten mit der berühmten Frage “Wenn der Mensch vom Affen abstammt, wieso gibt es dann heute noch Affen?” (grundsätzlich zu kontern mit der Gegenfrage: “Wenn die Amerikaner von den Engländern abstammen, warum gibt es heute noch Engländer?”) und auch anders als bei den üblichen Bildern der Evolution zum Beispiel des Menschen wie diesem hier:
(geklaut bei Weitergen)
ist die Evolution kein linearer Prozess.
Arten können sich aufspalten und dann in verschiedene Richtungen weiterentwickeln. Insbesondere kann eine Entwicklungslinie neue Merkmale entwickeln (die heißen dann “Apomorphien”), während eine andere die basalen Plesiomorphien behält. Beispielsweise gibt es heute noch Menschen mit fünf Zehen, obwohl die Pferde mehrere Zehen verloren haben. Auch Schnabeltiere sind ein Beispiel – sie legen Eier wie urtümliche Säugetiere, obwohl die meisten heutigen Säugetiere das nicht tun. (Trotzdem ist es irreführend, Schnabeltiere als “lebende Fossilien” zu bezeichnen – sie haben sich seit der Kreidezeit genauso weiterentwickelt wie andere Arten auch.)
Für das Aufstellen von Stammbäumen heißt das insbesondere, dass man nicht zu sehr darauf achten sollte, wann die Tiere jeweils gelebt haben. Es kann durchaus sein, dass man eine Art mit einem basalen (plesiomorphen) Merkmal aus einer Zeit kennt, die nach der Entwicklung eines abgeleiteten (“fortschrittlichen”, apomorphen) Merkmals liegt. Ein klassisches Beispiel ist die Entwicklung der Vögel aus den Dinosauriern: Die meisten vogelähnlichen Dinosaurier kennt man aus der Zeit nach dem Archaeopteryx.
Damit ihr nicht in totale Verwirrung geratet wegen der unhandlichen Begriffe (Henning, der Erfinder der Kladistik, hatte anscheinend eine Vorliebe für solche Begriffe. Er hat die Methode übrigens ursprünglich zur Klassifikation von Insekten entwickelt, aber ich erkläre sie lieber an Dinos), hier noch mal eine kleine Übersicht:
Plesiomorphie: Ursprüngliches, basales Merkmal, dass bereits bei den Vorfahren der betrachteten Art vorhanden war. Beispiel: Fünf Zehen beim Menschen. Man spricht von einer
Symplesiomorphie, wenn mehrere Tiergruppen dasselbe Merkmal von ihren Vorfahren bekommen haben, so wie Mensch und Katze ihre fünf Zehen.
Apomorphie Abgeleitetes, weiter entwickeltes Merkmal, das bei den Vorfahren nicht vorhanden war. Man unterscheidet dabei
Autapomorphie Abgeleitetes Merkmal, über das nur die gerade betrachtete Art verfügt, beispielsweise die reduzierte Zahl der Zehenglieder beim Iguanodon. Autapomorphien sind zum Ableiten von Stammbäumen nutzlos, wie wir oben am Beispiel der Pferde gesehen haben.
SynapomorphieAbgeleitetes Merkmal, das mehrere Tierarten gemeinsam haben. Beispielsweise ist die Fähigkeit zum Sehen mit drei Grundfarben eine Synapomorphie der Primaten. Synapomorphien sind entscheidend, um Abstammungslinien zu rekonstruieren.
Wie man ein Kladogramm liest
An die Stelle der “klassischen” Stammbäume treten jetzt also Kladogramme wie das oben oder dieses hier:
Es zeigt direkt an, wie eng die jeweiligen Arten miteinander verwandt sind, hier die “primitiveren” Sauropodomorphen, also die Vorfahren der berühmten “Langhalsdinos”. (Mehr über dieses Kladogramm könnt ihr hier nachlesen.) Der engste Verwandte von Plateosaurus ist also Riojasaurus, diesen beiden steht der Coloradisaurus am nächsten, usw. Wichtig beim Lesen ist, dass die Reihenfolge der Einträge irrelevant ist, solange man an der Baumstruktur selbst nichts ändert – man kann das Kladogramm an jedem Verzweigungspunkt herumdrehen, ohne dass sich etwas ändert, und also beispielsweise Riojasaurus nach oben schreiben. Hier eine alternative Darstellung desselben Kladogramms:
Oft sortiert man die Arten so, dass “urtümliche” Arten tendenziell unten stehen und “fortschrittlichere” Arten, die sich also besonders stark von den “urtümlichen” unterscheiden, sehr weit oben. So wurde es auch hier in der oberen Variante gemacht – Saturnalia ist ein sehr urtümlicher Dinosaurier, Camarasaurus ein vergleichsweise fortgeschrittener. Durch diese Konvention kann man sich aber leicht in die Irre führen lassen, denn was gerade “urtümlich” und was “fortschrittlich” ist, ist letztlich keine wissenschaftliche Frage, sondern eher eine des jeweiligen Forschungskontextes. Beispielsweise sind – das hatten wir ja oben schon gesehen – Pferde fortschrittlicher als Menschen, was die Zahl ihrer Zehen angeht; Menschen dagegen sind in anderen Merkmalen weiter von den ersten Säugetieren entfernt als Pferde. Und wenn sich aus Plateosaurus-Verwandten eine andere Dino-Linie entwickelt hätte, dann würden wir vielleicht das Kladogramm so rotieren, dass die ganz oben stehen.
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