Außerdem bleibt das System willkürlich: Sollen nun die Prosauropoden eine Unterordnung sein, und die größere Gruppe der Sauropodomorphen eine Ordnung? Oder sind die Prosauropoden lieber eine Familie, damit zwischen der größeren Gruppe der Sauropoden und der Klasse der Reptilien noch Platz ist für die Gruppe der Dinosaurier, der Archosaurier, der Archosauromorpha und der Diapsida? (Alles Gruppen die die Prosauropoden quasi in immer größeren Kreisen einschließen.) Wie soll man das entscheiden? Warum sind beispielsweise die Primaten mit ihren etwa 200 Arten eine Ordnung, aber die Käfer mit ihren vermutlich mehr als 500000 Arten (das sind zehnmal mehr, als es Wirbeltiere gibt) ebenfalls? Gibt es ein wissenschaftliches Kriterium dafür, was eine Ordnung ist oder eine Familie?
Von Ballista at the English language Wikipedia, CC BY-SA 3.0, Lien
Und noch etwas anderes kam hinzu, das noch schwerwiegender war als die Komplexität des Systems: Die Evolution verwischt die Grenzen zwischen den Gruppierungen. Vögel bilden beispielsweise eine eigene Klasse, Reptilien eine andere. Was tut man aber mit einer Zwischenform wie dem Archaeopteryx (Bild von Wikipedia)?
Gehört der schon zu den Vögeln? Wenn ja, was ist dann mit einem nahen Verwandten, der aber noch etwas dichter an den Dinosauriern dran ist, beispielsweise Troodon? Auch schon Vogel oder noch Reptil? Je lückenloser die Fossilienfunde wurden (und der Übergang von den Dinos zu den Vögeln ist ziemlich gut bekannt), um so schwieriger wurde die Abgrenzung.
Letztlich entstehen in der Evolution neue Klassen wie die Vögel aus einzelnen Arten oder Gattungen. Wie soll man so etwas in der Nomenklatur sinnvoll einbeziehen? Was ist überhaupt die Rechtfertigung für die Linnesche Einteilung?
Für von Linne, der nur einen Bruchteil der heute bekannten Tierarten kannte, war es relativ einfach zu sehen, dass es Tiergruppen gibt, deren Mitglieder einander morphologisch nahe sind – alle Vögel sind warmblütig und legen Eier und haben Federn und teilen sehr viele Skelettmerkmale miteinander. Aber wann genau verließ nun ein Reptil seine Klasse und wurde zum ersten Vogel? Man merkt schnell, dass es schwierig wird, hier eine Grenze zu ziehen.
Man sieht, das Schema nach von Linne ist zwar im Ansatz elegant, verliert seine Eleganz allerdings, je mehr man über die Biologie und die Evolution weiß. Letztlich ist es nicht geeignet, die Evolution widerzuspiegeln, in der es keine scharfen Grenzen gibt.
Die phylogenetische Nomenklatur
Beim letzten Mal hatte ich ja erklärt, dass man heutzutage Stammbäume von Tieren mit den Methoden der Kladistik erstellt. Dabei entstehen baumartige Diagramme, die die Verwandtschaftsverhältnisse zwischen den Tierarten darstellen, aber nicht direkte Abstammungslinien (weil man die nie sicher sein kann). Hier mal ein sehr schönes Kladogramm der Dinosaurier (geklaut bei naturalsciences.org)
Ganz rechts oben seht ihr die Vögel – und damit exemplarisch noch einmal den Grund des Ärgers. Wenn die Raubsaurier (Theropoden) nach der Linne-Klassifikation vielleicht eine Unterordnung, dann sind die Tetanurae eine Superfamilie, die Maniraptoren eine Familie, und in der drin stecken – die Vögel, also eine ganze Klasse. Evolutionär gesehen ergibt es wenig Sinn, die Vögel aus der Gruppe der Maniraptoren auszugliedern, denn sie haben mit diesen viele Merkmale gemeinsam. Und wie oben schon gesagt, ist es eigentlich unmöglich, eine klare Grenze zwischen den Raubsauriern und den Vögeln zu ziehen. Wo soll die Familie der Maniraptoren aufhören und die Klasse der Vögel anfangen?
Vom evolutionären Stammbaum aus betrachtet, ergibt eine Klassifikation nur Sinn, wenn sie evolutionäre Einheiten als Ganzes betrachtet. Da man den evolutionären Ablauf oft auch als Phylogenese bezeichnet, brauchen wir eine phylogenetische Nomenklatur, eine, die der Evolution Rechnung trägt.
Natürlich möchte man nicht gleich das Kind mit dem Bad ausschütten – weil es schwer ist, Grenzen zu ziehen, könnte man jetzt auf die Idee kommen, man sollte überhaupt keine Gruppierungen verwenden, aber es ist hoffentlich offensichtlich, dass es unpraktisch ist, wenn man über Gruppen wie “Vögel” gar nicht mehr reden kann.
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