Bei wissenschaftlichen Revolutionen denkt man (gerade als Physiker) ja meist an das heliozentrische Weltbild, die Relativitätstheorie oder die Quantenmechanik, vielleicht auch an die Evolutionstheorie. Die meisten Revolutionen in der Wissenschaft sind weniger auffällig, krempeln aber auch Wissensgebiete um. Ein Beispiel dafür ist die Kladistik, die sich mit der Frage beschäftigt, wie man am besten die evolutionären Stammbäume entschlüsselt.
Stammbäume und Kladogramme
Wer – wie ich – schon ein bisschen älter ist und als Kind oder Jugendlicher Dinosaurierbücher liebte, der kennt sicher “klassische” Stammbäume wie zum Beispiel diesen hier (zum Vergrößern klicken):
(Aus R. Moody, “A Natural history of Dinosaurs”)
Sie zeigen Hypothesen darüber, wie unterschiedliche Dinosaurier (hier die sogenannten Ornithopoden, meist zweibeinige pflanzenfressende Dinosaurier, zu denen der berühmte Iguanodon und die Entenschnabeldinosaurier gehören) miteinander verwandt waren. Aus dem Fabrosaurus entwickelte sich (vermutlich, deshalb gestrichelt gezeichnet) der Camptosaurus, der wiederum ein Vorfahr des Iguanodon war, von dem sich dann die Hadrosaurier abzweigten.
Solche Stammbäume findet man in älteren Büchern über ausgestorbene Tiere ziemlich häufig. Schlägt man dagegen neuere Bücher oder Veröffentlichungen auf, sieht man meist ein etwas anderes Bild:
Diese Diagramme werden als “Kladogramme” bezeichnet. Gegenüber den klassischen Stammbäumen erkennt man zwei wichtige Unterschiede (mal abgesehen davon, dass hier keine hübschen Bildchen drin sind): Während bei Stammbäumen (ich benutze das Wort ab jetzt ausschließlich für die erste Art von Diagrammen) Namen von Dinosaurierarten direkt auf den Linien stehen können, findet man sie bei Kladogrammen immer nur an den Enden. Iguanodon steht also zwischen Camptosaurus und Ouranosaurus (und den späteren Hadrosauriern), er wird aber nicht ihr direkter Vorfahr dargestellt.
Der zweite Unterschied ist die Zeitachse – Stammbäume haben eine, Kladogramme meist nicht. (Es gibt auch Ausnahmen, die sind aber eher selten, und auch in diesen geht die Zeitachse nicht in die zu Grunde liegende Analyse ein. Nachtrag: Kommentator Rainer weist zurecht darauf hin, dass Kladogramme, die auf molekularbiologischen Untersuchungen beruhen, meist mit einer Zeitachse kalibriert werden.)
“Wie aufregend!”, sagt da vermutlich irgendeine sarkastische Stimme, “die Paläontologen zeichnen ihre Diagramme jetzt ein bisschen anders als früher. Ist das eine Revolution?” “Nein, das ist nicht mal eine Revolte.” (Entschuldigung an Herzog Liancourt…)
Aber hinter dieser scheinbar kleinen Änderung steckt mehr, als man auf den ersten Blick ahnt.
Stammbaumerstellen als Kunst
Um die “klassischen” Stammbäume zu erstellen, ging man früher wie folgt vor: Man betrachtete die Fossilien, die man klassifizieren wollte, und suchte nach Ähnlichkeiten und Unterschieden. Je ähnlicher sich zwei Tiere waren, desto enger waren sie vermutlich verwandt. Hatte ein Tier ein Merkmal, das bei anderen, älteren Tieren nicht vorhanden war, dann hatte es dieses irgendwann entwickelt – Tiere, die mehrere solcher Merkmale teilten, waren also vermutlich ebenfalls verwandt. Man berücksichtigte zusätzlich auch die Zeit, zu der die Tiere lebten – ein später lebendes Tier mit sehr “primitiven” Merkmalen konnte natürlich kein Vorfahr eines früher lebenden Tieres mit “fortschrittlichen” Merkmalen sein. (Die Anführungsstriche verwende ich hier, weil diese Sprechweise zwar früher üblich war, heute aber wegen ihres implizit wertenden Klangs nicht mehr so gern gesehen ist.)
Bei dieser Art der Stammbaumerstellung findet man oft Gruppen, die die Vorfahren sehr vieler späterer Arten waren. Ein Beispiel dafür sind die sogenannten Thecodonten – eine Gruppe von Reptilien, unter denen man die Vorfahren der Krokodile, Flugsaurier, Dinosaurier und Vögel vermutete, hier als Beispiel Euparkeria (wie üblich von Wikipedia):
By Nobu Tamura (https://spinops.blogspot.com) – Own work, CC BY 2.5, Link
Die Thecodonten ähnelten einander in vieler Hinsicht, insbesondere verfügten sie über viele gemeinsame Merkmale, die sie ihrerseits von ihren Vorfahren geerbt hatten. Man fasste sie deshalb als eine Gruppe zusammen, aus der sich dann viele andere abzweigten. Die Thecodonten verfügen aber über keine Merkmale, die nur ihnen gemeinsam sind und sind deshalb keine evolutionär einheitliche Gruppe – heutzutage sieht man sie eher als “wastebasket taxon” (Mülleimer-Gruppe) an, also als ein Sammelsurium von nur lose miteinander verwandten Arten.
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